35. Kapitel
8.32 Uhr
Gerichtsmedizin
Als Frank Irwin das Tuch wegzog und Grace die Leiche auf dem Stahltisch liegen sah, fiel ihr auf, dass die Frau kleiner wirkte, als sie sie in Erinnerung hatte. Das Blut war von ihrem Körper abgewaschen worden, und Grace konnte jetzt erkennen, in welchem Ausmaß der Schuss den Kieferknochen zerfetzt hatte. Die klaffende Wunde begann unter dem Kinn und zog sich fast bis zum Ohr hoch.
»Auf dieser Seite hat die Kugel sämtliche Zähne zerstört«, erklärte Frank und öffnete der Toten mit seinen behandschuhten Fingern den Mund. »Die Eintrittswunde ist hier unter dem Kinn. Dort ist die Kugel ausgetreten und hat einen Teil ihres Nackens weggerissen.«
»Eine ziemlich merkwürdige Art, jemanden zu erschießen, oder, Frank?«
»Pakula hat mir von Ihrer Theorie erzählt, Grace.«
»Und?«
»Das ist sieben Jahre her. Ich war damals noch nicht hier, aber ich habe von dem Fall gehört. Ich habe mir die Akten besorgt.« Er ging hinüber zur Leuchttafel, schaltete das Licht ein und klemmte zwei Röntgenaufnahmen nebeneinander fest.
Ohne dass er es erwähnen musste, wusste Grace, dass die Röntgenbilder Rebecca Moores zerstörten Kiefer zeigten.
Rebeccas Leiche war vor sieben Jahren in einem Graben nördlich des Dodge Park entdeckt worden – vergewaltigt, mit drei Stichwunden und einer Schussverletzung unter dem Kinn.
Jemand hatte den Körper in einen schwarzen Plastiksack gesteckt und im Graben entsorgt. Einer ihrer Kommilitonen, Danny Ramerez, hatte damals ausgesagt, er habe gesehen, dass sie am Tag ihres Verschwindens vor der Central High School zu Jared Barnett in den Wagen gestiegen war. Sieben Jahre später zog Danny Ramerez seine Aussage plötzlich zurück.
Eigenartig.
»Die Verletzungen sind ähnlich«, erklärte Frank. »Leider konnte ich in der Akte keine Angaben über das Kaliber finden. Und wie es scheint, können wir auch nicht sicher sagen, welche Art Waffe hier benutzt wurde, oder?«
»Wir haben eine Kugel aus der Wand hinter der toten Kassiererin geholt«, erwiderte Pakula. »Sie stammt aus einer .38er, aber mehr kann ich noch nicht sagen. Es sieht so aus, als wäre aus zwei Waffen geschossen worden. Der Bericht der Ballistiker kommt wahrscheinlich erst morgen.«
»Was wissen wir über die Kassiererin?« Grace hätte gerne gewusst, warum Jared es ausgerechnet auf diese junge Frau abgesehen hatte. Dass Jared der Täter war, stand für sie außer Frage.
»Sie heißt Tina Cervante«, erklärte Pakula. »Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, allein stehend und lebte mit zwei Freundinnen im Westen von Omaha. Sie stammt aus Texas.
Ihre Familie lebt dort. Sie ist hergezogen, um aufs College zu gehen, brach das Studium aber ab und bekam diesen Job bei der Bank. Ich will nachher noch mit ihren Mitbewohnerinnen sprechen. Aber hier ist noch etwas Interessantes. Vor etwa einem Jahr bekam sie eine Anzeige wegen Fahrens unter Drogeneinfluss. Es war bereits ihre dritte Anzeige, eine ziemlich ernste Sache. Und nun dürfen Sie raten, wer ihr verdammter Anwalt war.«
Grace interessierte sich mehr für die Hände der Frau.
»Warten Sie einen Moment.« Sie schlug das Tuch zurück und betrachtete Tinas Zehen. »Sie hat doch wahrscheinlich mit den beiden anderen Mädchen zusammengewohnt, weil sie keine eigene Wohnung bezahlen konnte. Und trotzdem hat sie sich professionelle und vermutlich regelmäßige Maniküre und Pediküre geleistet?«
»Außerdem hat sie sich die Nase richten lassen.« Frank deutete auf eine winzige, kaum sichtbare Narbe, die Grace glatt entgangen wäre. »Das ist eine sehr gute Arbeit, nicht billig. Es wurde vermutlich vor sechs bis acht Monaten gemacht.«
»Dann hat sie ihre finanziellen Prioritäten wohl etwas durcheinander gebracht. Das greift bei den Kids heutzutage wie eine Epidemie um sich«, bemerkte Pakula, als spräche er aus leidvoller Erfahrung. Wahrscheinlich fühlte er sich an seine Töchter erinnert. »Vielleicht gab es jemand, der sie unterstützte oder sie aushielt. Aber mich interessiert vor allem, wie eine attraktive, rechtschaffene junge Frau wie Tina Cervante an einen so windigen Anwalt wie Max Kramer geraten ist.«
»Kramer war ihr Anwalt in dieser Strafsache?« Grace fragte sich, ob Pakula auf etwas Bestimmtes hinauswollte. Kramer hatte mit allen möglichen Fällen zu tun. Eine Verkehrsstrafsache im Zusammenhang mit einem Drogendelikt war nichts Ungewöhnliches.
»Es ist nicht meine Aufgabe, Urteile zu fällen«, unterbrach Frank sie, »aber ich frage mich, wie rechtschaffen eine junge Frau ist, die bereits drei Anklagen wegen Fahrens unter Drogeneinfluss am Hals hat. Außerdem« – er wies auf eine Edelstahlschale auf der Instrumentenablage – »war sie im zweiten Monat schwanger.«