17. Kapitel

17.15 Uhr
Highway 50

Ohne die Augen von der Straße zu nehmen, fummelte Melanie an den Schaltern in der Armlehne herum, verund entriegelte mehrmals die Türen, bis sie endlich den richtigen erwischte. Mit einem Sirren, das sie an eine wild gewordene Wespe erinnerte, fuhr das Fenster herunter. Sie glaubte in dem Gestank aus Blut und Erbrochenem ersticken zu müssen.

Gierig sog sie die feuchtwarme Luft ein und hielt ihre Baseballkappe fest, damit sie der Fahrtwind nicht davonwehte.

Dann ließ sie die Scheibe wieder nach oben gleiten.

»Wir müssen zurück«, sagte Jared. Er saß seitlich auf seinem Sitz, die Waffe im Schoß und den Finger am Abzug.

Sie sah in den Rückspiegel. Das Würgen hinter ihr hatte aufgehört. Charlie hatte den Kopf gegen die Lehne der Rückbank gelegt, wo er leicht hin und her wiegte. Er starrte abwesend in die Luft. Sie sah, dass sein Gesicht trotz der Bräunungscreme kalkweiß war.

»Ich habe gesagt, wir müssen umkehren!« Jareds Stimme war ruhig, aber bestimmt. »Wir müssen endlich den verdammten Wagen wechseln.«

Er langte nach hinten auf den Rücksitz. Sie dachte, er wolle sich um Charlie kümmern, doch stattdessen nahm er dessen Waffe, griff sie am Lauf, als sei sie verseucht, öffnete das Fenster und warf sie hinaus in den von Unkraut überwucherten Straßengraben. Seine eigene Waffe rutschte zwischen seine Beine, als er noch einmal nach hinten griff und die Sporttasche über die Lehne hievte.

»Dreh da vorne um«, sagte er, ohne einen Blick auf Melanie oder die Straße zu werfen.

Melanie hörte, wie Jared den Reißverschluss der Tasche öffnete. Hektisch kontrollierte sie Rück- und Außenspiegel, ob irgendwo eine blaurote Lightshow auftauchte. Ein Stück weiter vor ihr teilte sich der Highway. Das musste die Stelle sein, die Jared meinte. Sie sah das Hinweisschild nach Springfield. Der Gegenverkehr hatte bis auf wenige vereinzelte Fahrzeuge nachgelassen, die Gelegenheit zum Wenden war günstig. Sie reduzierte das Tempo, hielt sich rechts und ließ den Verkehr hinter ihnen nicht aus den Augen.

Einige Wagen wechselten auf die Überholspur und zogen an ihnen vorbei. Erleichtert stellte sie fest, dass kein Streifenwagen dabei war. Ihr war nicht wohl dabei, jetzt ein so auffälliges Manöver durchzuführen, doch sie vertraute darauf, dass Jared wusste, was er tat.

»Vergiss es«, sagte er plötzlich. »Fahr weiter.«

»Hinter uns ist niemand mehr, kein Problem.«

»Scheiße, fahr weiter!«

Im gleichen Augenblick sah auch sie den halb verdeckten Wagen. Er stand auf der anderen Seite an der Phillip-66-Tankstelle hinter einer Zapfsäule, doch im Vorbeifahren konnte sie an der Tür deutlich die Aufschrift SARPY COUNTY SHERIFF'S DEPARTMENT erkennen.

»Bloß nicht schneller werden!« raunte ihr Jared zu. »Mach keinen Fehler.«

Sie wollte entgegnen, dass es ja wohl nicht ihr Fehler gewesen war, der sie in diese Lage gebracht hatte. Dass sie ohne sie jetzt alle auf der Rückbank eines Streifenwagens säßen. Stattdessen umfasste sie das Lenkrad mit ihren feuchten Händen noch fester und nagte nervös an ihrer Unterlippe.

»Bleib ganz ruhig. Du musst dich konzentrieren«, sagte Jared. Seine Stimme klang beinahe sanft und schien sie tatsächlich zu beruhigen.

Melanie kannte diesen Ton genau. Immer, wenn Jared merkte, dass er anders nicht zum Ziel kam, wurde seine Stimme plötzlich eigenartig ruhig, als wolle er sein Gegenüber hypnotisieren. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass Charlie sich in die Ecke gekauert und beide Arme um seinen Rucksack geschlungen hatte. Seine Augen waren glasig und stierten ins Nichts. Konzentriert hielt sie die Spur, sah dann in den Seitenspiegel und war erleichtert, dass der Streifenwagen hinter ihnen kleiner wurde.

Auch Jared ließ den Highway hinter ihnen nicht aus den Augen, während er gleichzeitig in seiner Sporttasche nach etwas suchte. Dann hörte sie ein Klicken, warf einen Blick zur Seite und sah, dass er die Waffe nachlud.

Scheiße, hatte sie das verdammte Ding denn noch nicht genug in Schwierigkeiten gebracht?

Sie waren beide so auf den Streifenwagen an der Tankstelle fixiert, dass sie den entgegenkommenden erst im letzten Augenblick bemerkten. Erschrocken fuhr Melanie hoch, als er an ihnen vorbeifuhr.

»Bleib ganz ruhig«, mahnte Jared. Immer noch war seine Stimme beinahe sanft, doch an der ruckartigen Bewegung, mit der er sich jetzt nach hinten drehte, um aus dem Rückfenster zu sehen, erkannte sie, dass er alles andere als ruhig war.

Melanie zwang sich, nach vorne zu sehen. Sie wollte gar nicht wissen, was hinter ihr geschah. Ihre Hände zitterten, und das Hämmern ihres Herzens spürte sie bis in den Hals.

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!« polterte Jared auf einmal.

Und sie wusste, was passiert war, bevor er sagte: »Es geht los!«