58. Kapitel

23.17 Uhr

Melanie konnte nicht schlafen. Charlie hatte sich auf dem Bett zusammengerollt und schnarchte. So viel zu seinen Schuldgefühlen. Aber sie verspürte Erleichterung darüber, ihn jetzt wie ein Baby schlafen zu sehen, denn sie wollte den Gedanken nicht zulassen, dass er etwas getan haben könne, für das er sich schuldig fühlen musste.

Andrew Kane hatte sich neben Charlie auf der anderen Seite des Bettes ausgestreckt. Jared hatte darauf bestanden, ihn an Händen und Füßen zu fesseln. Dazu hatte er das Kabel des Telefons in zwei Teile geschnitten. Sachbeschädigung war für ihn kein Thema, und zum Telefonieren hatte er ja Andrews Handy. Hatte er vielleicht wieder seinen Kontaktmann angerufen, als er vorhin hinausgegangen war? Sie fragte sich, wer das sein mochte. Jareds Geheimniskrämerei ging ihr jedenfalls ganz gehörig gegen den Strich. In ihrer Lage konnten sie sich so etwas überhaupt nicht leisten. Jareds Verhalten kam ihr langsam vor wie ein Verrat.

Sie beobachtete ihren Bruder im Lichtschein des Fernsehers. Nachdem er alle Lampen gelöscht und die Vorhänge zugezogen hatte, hatte sie ihn überredet, das Fernsehgerät ohne Ton eingeschaltet zu lassen. Jetzt saß Jared an dem kleinen Tisch und schlief mit aufgestützten Ellbogen.

Von Zeit zu Zeit rutschte sein Kopf zwar von einer seiner geballten Fäuste, doch er schien davon nicht aufzuwachen.

Sie beneidete ihn darum, einen so festen Schlaf zu haben.

Als sie noch Kinder waren, hatte er ihr beigebracht, wie man am besten einschlief. Der Trick war, sich alles vorzustellen, was man besonders gern hatte. Sie hatte sich eine Liste machen müssen: Zuckerwatte, die Bee Gees, Riesenräder, geröstete Maiskolben. In jenem Sommer hatte er sie mit auf die Kirmes genommen, also hatten die meisten ihrer Lieblingsdinge damit zu tun.

Seine Methode hatte ihr tatsächlich oft geholfen und sie über vieles hinweggebracht, was ihr den Schlaf raubte – vor allem die Angst. Die Angst, dass ihr Vater wieder ins Zimmer kam, sie weckte, die Bettdecke wegriss und sie mit eiskaltem Wasser übergoss oder sie an den Knöcheln packte und aus dem Bett schleifte. Das war nicht das Schlimmste gewesen.

Noch heute meinte sie manchmal den Schmerz der Peitschenschläge zu spüren und den Gestank verbrannter Haut zu riechen. Es war ihre Haut gewesen, die unter der roten Glut seiner Zigarette verbrannt war.

Melanie schüttelte den Kopf. Sie sollte nicht gerade jetzt daran denken, aber eines durfte sie nie vergessen: Jared hatte in jener Nacht getan, was getan werden musste. Dafür stand sie in seiner Schuld, und diese Schuld konnte sie niemals abtragen. Das wusste auch er. Selbst wenn sie ihn bei dieser Geschichte mit Rebecca Moore durch ein Alibi gedeckt hätte, wären sie noch längst nicht quitt.

Sie würden nie quitt sein. Und jetzt steckten sie wieder in einer Klemme, nur war es diesmal schlimmer. Diesmal hatte Jared ihren Jungen, ihr Baby, ihren kleinen Charlie in das alles hineingezogen. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie ihm das jemals verzeihen würde.

Sie stand auf, um ins Bad zu gehen, und sah das Handy auf der Anrichte liegen. Ein kurzer Blick zu Jared – er atmete tief und gleichmäßig. Sie nahm das Handy mit ins Bad, schloss leise die Tür und verriegelte sie. Dann klappte sie das Gerät auf und betrachtete die Tasten. Es musste eine geben, die ihr verriet, was sie wissen wollte.

Sie drückte auf ,Menü' und gelangte schließlich zu der Auflistung seiner letzten Telefonate. Das ging ja einfacher als gedacht. Tatsächlich hatte er vor ungefähr einer Stunde telefoniert, der Anruf war mit Datum, Zeitangabe, der Telefonnummer und dem Namen des Teilnehmers verzeichnet.

Sie suchte weiter und fand schließlich den Anruf vom Morgen.

Dieselbe Nummer, derselbe Name.

Warum stand Jared in ständigem Kontakt mit seinem Anwalt? Und vor allem: Warum vertraute er Max Kramer mehr als ihr?