Mittwoch, 8. September

3. Kapitel

7.00 Uhr
Omaha, Nebraska

Melanie Starks beschleunigte ihre Schritte. Hinter dem Turm der St. Cecelia Kathedrale kam gerade die Sonne hervor.

Die Tage waren bereits deutlich kürzer geworden, der Sommer neigte sich seinem Ende zu, schien aber heute noch einmal zeigen zu wollen, wozu er fähig war. Sie war gerade erst losgegangen, und schon jetzt fiel ihr das Atmen schwer. Trotz der frühen Stunde war es so schwül, dass sie dachte, man müsse die Luft schneiden können.

Sie drehte sich um und sah zurück. Früher hatte sie Sonnenaufgänge gehasst, aber inzwischen mochte sie das Schauspiel. Heute allerdings bereitete ihr der Sonnenaufgang ein ungutes Gefühl. Als ihr eine Schweißperle den Rücken hinablief, spürte sie sogar ein leichtes Schaudern. Dort, wo sich die dunklen Gewitterwolken aufzutürmen begannen, war der Himmel grau wie ein Grabstein, unterbrochen von blutroten Streifen, eine geradezu unheimliche Kombination.

Sie musste daran denken, was ihre abergläubische Mutter oft prophezeit hatte: »Morgenrot, Unheil droht. Abendrot, keine Not.«

Das Wetter schien ihre innere Unruhe noch zu verstärken, ihre Enttäuschung und Frustration. Ach zum Teufel, warum nannte sie es nicht beim Namen – ihre Wut. Ja, genau das war es. Sie war wütend, stinksauer. Jared war erst seit zwei Wochen draußen, und schon lief alles wieder genauso wie früher.

Sie war sauer, dass sie ihren morgendlichen Marsch seinetwegen nicht zur gewohnten Zeit machen konnte. Was für eine Anmaßung, seine Belange über ihre zu stellen! Gestern Abend hatte er angerufen und die Nachricht hinterlassen, sie solle ihn treffen, zum Frühstück. Das war typisch für ihn, er zitierte sie zu sich, als könne er sie immer noch bevormunden wie ein Kind: »Wir treffen uns im Cracker Barrel. Die Zeit ist reif.«

»Die Zeit ist reif«, äffte sie ihn leise nach. Sie hatte keine Ahnung, was zum Henker er damit meinte. Auch das war typisch. Immer tat er so geheimnisvoll, als wären sie Kinder, die etwas Verbotenes ausheckten. Sie wusste nur, dass er irgendetwas vorhatte. Etwas Großes, hatte er behauptet, und mehr wollte er nicht sagen. So war Jared eben, ein Egomane, der ständig den Ton angeben musste. Fragen oder Bedenken akzeptierte er nicht. So war es immer gelaufen, auch mit dieser Rebecca Moore damals. Jared hatte es nicht mal für nötig gehalten, ihr irgendetwas zu erklären. Nur, dass die Polizei auf einem völlig falschen Dampfer sei, hatte er immer wieder stur behauptet. Melanie wusste allerdings, dass so etwas durchaus passieren konnte. Vor ein paar Jahren hatte sie es ja selbst erlebt.

Zügig ging sie die Straße entlang und versuchte, sich nicht weiter in ihre Wut hineinzusteigern. Aber sie konnte es einfach auf den Tod nicht ausstehen, wenn Jared ihr das Gefühl vermittelte, sie sei ihm etwas schuldig. Und dass sie während seiner Verhandlung nicht für ihn da gewesen war, machte es nicht einfacher.

Jedenfalls sah es ganz so aus, als hätte sich in den fünf Jahren, die er im Gefängnis gewesen war, nichts geändert.

Was – jedenfalls was sie betraf – natürlich nicht stimmte. Sie hatte sich verändert. Wenigstens glaubte sie das, obwohl ihr diesbezüglich nun Zweifel kamen. Warum tat sie schon wieder, was er von ihr verlangte, traf sich mit ihm, ohne Fragen zu stellen? Seinetwegen war sie von ihrem täglichen Ritual abgewichen, das für sie zu einer Art Ersatzdroge geworden war. Zuerst hatte sie sich das Rauchen abgewöhnt und das Nikotin durch Kaffee ersetzt. Vier Tassen am Morgen hatten ihr über den Nikotinentzug hinweggeholfen, und nun ersetzte ein drei Meilen langer Fußmarsch jeden Morgen das Koffein.

Sie hatte selbst erkannt, dass bei ihr eine Sucht die andere ablöste. Jeden Tag ging sie dieselbe Strecke, immer zur selben Zeit und sogar im selben Tempo. Aber jetzt musste sie einen Schritt zulegen, um nachher pünktlich zu sein. Sie fand sich damit ab, aber eine kürzere Strecke wollte sie seinetwegen nicht gehen. Sie straffte die Schultern, als sei dieser trotzige Gedanke bereits eine Auflehnung gegen ihren Bruder. Früher hatte sie es nie geschafft, sich gegen ihn durchzusetzen. Aber Jared musste doch endlich begreifen, dass sie nicht mehr das kleine Mädchen war, das er einfach so herumkommandieren konnte. Sie war eine erwachsene Frau, hatte einen Sohn. Sie hatte sich dem Leben gestellt, während es ihr vorkam, dass Jared nie erwachsen wurde. Nach seiner Entlassung war er sogar wieder zu ihrer Mutter gezogen.

Etwas Dümmeres hätte er kaum tun können. Dass ihre Mutter nicht einfach nur abergläubisch, sondern verrückt war, hatten sie schon als Kinder festgestellt, als sie anfing, sich der schwarzen Magie hinzugeben. Vielleicht erklärte das, warum sie an diese beiden Drecksäcke geraten war, von denen der eine ihr und der andere Jareds Vater war. Dass ihre Mutter durchgedreht war, ertrug Melanie leichter als eine andere Erkenntnis, die nicht weniger zutreffend war. Sie war schlicht und einfach stockdumm. Vielleicht war das der Grund für Jareds Problem. Ihr kam die Idee, ihn damit aufzuziehen, dass er nicht nur die verrückten Gene ihrer Mutter geerbt habe. Und sie wusste sofort, dass sie niemals wagen würde, ihn zu provozieren.

An der Nicholas Street bog Melanie links in die 52. Straße ab. Sie mochte die Gegend um den Memorial Park, ein Viertel mit großen Stadtvillen und gepflegten Rasenflächen. Kein Gartenzwerg weit und breit. Sie musste schmunzeln, als sie an den jüngsten Tick ihres Sohnes dachte, Gartendekorationen zu klauen, was sie gleichermaßen ärgerte wie amüsierte. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm. Und schließlich hatte sie ihm eine Menge beigebracht. Solange er noch klein war, hatte sie ihre gemeinsamen Diebestouren als Spiel ausgegeben. Jetzt wurmte es sie, dass Charlie das Stehlen ungeachtet aller Risiken und Gefahren offenbar immer noch als ein Spiel ansah. Er war wirklich ein guter Schüler gewesen, vielleicht sogar zu gut.

Er war gerade acht, als sie ihn das erste Mal mitgenommen hatte. In dem Supermarkt an der Center Street klauten sie aus der Tiefkühltruhe Hackfleisch-Packungen – arbeiteten sich aber schnell zu T-Bone-Steaks hoch – und ließen sie in seinem Schulranzen verschwinden. Charlie war bald so geschickt, dass sogar sie nicht merkte, wie er die Twinkies oder Bazooka-Kaugummis mitgehen ließ, bis sie später neben ihrer Beute auf dem Küchentisch landeten.

Er war wirklich ein Naturtalent. Mit seinem blassen Babygesicht und dem leicht schiefen Lausbubengrinsen kam er selbst heute noch, neun Jahre später, fast immer durch.

Sie hatte damit angefangen, weil sie sich mit ihren lausigen Gelegenheitsjobs nicht über Wasser halten konnte. Um zu überleben. Und was machte es schon, wenn Charlie diese albernen Gartenzwerge stahl, solange er auch genügend Lederjacken oder CD-Player anschleppte, damit sie die Miete zahlen konnten. Er schien den Nervenkitzel zu brauchen, und so sagte sie auch nichts, als er damit anfing, Autos kurzzuschließen, bevorzugt Saturns. Auch so ein Tick.

Vielleicht war es seine sorglose Unbefangenheit, die ihn davor bewahrte, geschnappt zu werden. Sie fürchtete allerdings, es hatte mehr mit Glück zu tun. Ihre Glückssträhne hielt nun schon eine ganze Weile, aber eines Tages würde sie zu Ende sein. Doch diesen Gedanken verscheuchte sie lieber.

Glück und günstige Gelegenheiten, das waren ihre Fahrkarten aus dem stinkenden Drecksloch gewesen, in dem sie aufgewachsen war. Vor zehn Jahren war sie nach Dundee gezogen, ein netter Stadtteil, in dem überwiegend Familien wohnten. Es war ein gutes Viertel, wenn auch längst nicht so nobel wie dieses hier, dachte sie und sah sich um. Ob die Menschen, die hinter diesen großen, imposanten Türen lebten, sie verstehen könnten? Wohl kaum. Sie führte ein Leben, das sich diese Leute mit ihren polierten schwarzen BMWs und Lexus-Geländewagen in den Einfahrten sicher nicht einmal vorstellen konnten. Hier fehlte nirgends eine Kühlerhaube, und an keiner Karosse entdeckte sie einen Rostfleck. Hier war die Welt noch in Ordnung.

Sie entdeckte nur einen einzigen Pick-up am Straßenrand, einen Chevy, und noch bevor sie den ramponierten Anhänger sah, wusste sie, dass er zu einem Gärtnerei-Service gehörte.

Dann sah sie die beiden jungen Männer, die auf den Knien in dem Vorgarten des Hauses arbeiteten. Mit großen Scheren schnitten sie das Gras entlang des makellos weißen Gartenzauns. Offenbar war es nicht möglich, dem wuchernden Grünzeug mit ihren technischen Gerätschaften beizukommen.

Oder sie hatten einfach Angst, sonst das Holz zu beschädigen.

Beinahe hätte Melanie den beiden Jungs – sie mochten kaum älter sein als Charlie – ein Lächeln zugeworfen, doch sie unterdrückte den Impuls. Denn sonst hätten sie sofort gewusst, dass sie nicht hierher gehörte, dass sie es sich niemals würde leisten können, jemanden für die Pflege eines Gartens zu bezahlen. Also sah sie unbeteiligt geradeaus, als sie an ihnen vorbeiging, als würde sie die beiden Jungs mit den bloßen schwitzenden Oberkörpern nicht zur Kenntnis nehmen.

Sie sah auf ihre Armbanduhr, eine elegante Movado mit schwarzem Zifferblatt und einem einzelnen Diamanten, die Charlie ihr zum Muttertag geschenkt hatte. Sie fragte schon längst nicht mehr nach, woher er die Sachen hatte.

Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, dass, wenn schon nicht sie selbst, wenigstens ihre Uhr in diese Gegend passte.

Dann erreichte sie den Ahorn, dem das Gewitter in der letzten Woche arg zugesetzt hatte. Er hatte einmal eindrucksvoll ausgesehen, doch jetzt schien nur noch sein Stamm intakt zu sein. Der Sturm hatte die Äste abgerissen, und die, die übrig geblieben waren, wirkten nun wie zwei Arme, die sich hilflos in Richtung Himmel streckten. Jemand hatte ein Pappschild an den Stamm genagelt. »Hoffnung ist das Federding«, stand darauf, und dann in kleinerer Schrift: »Emily Dickinson«.

Melanie musterte das Haus, zu dem der Baum gehörte, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. In Gedanken wiederholte sie den Satz, »Hoffnung ist das Federding«, und schnaubte dann verächtlich. Was zum Teufel sollte das heißen? Und außerdem, was wussten Leute, die hier lebten, schon von Hoffnung? Welche Probleme konnten die schon haben, die sich nicht mit Geld regeln ließen?

Sie dachte daran, was Jared immer sagte: Leute, die Geld haben, haben nicht die geringste Ahnung von den Leuten, die keins haben.

Melanie hielt inne, drehte sich um und sah zu dem Baum zurück. Selbst aus einem Block Entfernung noch stach er heraus, als gehöre er nicht in diese malerisch perfekte Umgebung.

»Hoffnung ist das Federding«, wiederholte sie noch einmal und verstand den Satz immer noch nicht. Wollte da jemand witzig sein? Oder etwa kundtun, dass er über dieses hässliche Ding in seinem Garten erhaben war? Es konnte doch niemand ernsthaft glauben, dass Hoffnung den Ahorn retten würde.

Aber warum verschwendete sie überhaupt ihre Gedanken daran? Eins wusste sie jedenfalls mit Sicherheit: Nur Leute in solchen Häusern mit ihren BMWs vor der Tür konnten es sich leisten, auf Hoffnung zu vertrauen. Menschen wie sie, Charlie und Jared verließen sich lieber auf ihr Glück. Mit etwas Glück konnte man sein Leben verändern. Sie und Jared waren aus demselben stinkenden Loch gekrochen. Aber das war auch das Einzige, das sie verband.

Sie sah wieder auf die Uhr. Vielleicht hatte sich in den letzten Jahren ja doch nicht so viel verändert, wie sie geglaubt hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte. Es wäre nicht klug, Jared warten zu lassen.