11. Kapitel
14.30 Uhr
Omaha
Melanie ließ den übervollen Wäschekorb im Schrank verschwinden. Damit konnte sie sich morgen befassen, wenn alles vorbei war. Wenn es das doch nur schon wäre! Ihr war unheimlich bei der Sache. Es war nur so ein Gefühl, aber irgendetwas an Jareds Plan kam ihr seltsam vor. Oder war sie einfach nur konsterniert, weil sie erst so spät eingeweiht worden war? Vielleicht war es auch gar nichts. Vielleicht hatte sie im Restaurant schlichtweg zu viel Kaffee getrunken, nachdem sie sich doch so angestrengt hatte, ohne auszukommen. Wie war sie bloß darauf gekommen, nach dem Rauchen auch noch das Kaffeetrinken aufzugeben? Das war zu viel auf einmal. Für wen hielt sie sich denn?
Sie war zwar nicht Superwoman, aber auf ihren Instinkt konnte sie sich in der Regel verlassen. Wie oft hatte er sie schon davor bewahrt, eine richtige Dummheit zu begehen. Sie griff nach dem Pepto-Bismol, schraubte die Kindersicherung ab und nahm einen kräftigen Schluck.
Dann packte sie Kleidung zum Wechseln und was sie sonst noch so brauchen würde in ihren Rucksack, blieb kurz prüfend vor dem Spiegel stehen und schob eine heraushängende Haarsträhne unter die Baseballkappe. Es war nicht leicht gewesen, das dichte, schulterlange Haar zu bändigen.
Schließlich hatte sie es zum Pferdeschwanz gebunden und dann zusammengeschlungen. Hätte sie das alles etwas früher gewusst, hätte sie es sich schneiden lassen. Warum zum Teufel musste er immer einen solchen Zirkus veranstalten und hatte sie nicht früher in seinen Plan eingeweiht? Da war sie wieder, ihre Wut. Nanu? Seit wann bezeichnete sie ihre Verärgerung denn als Wut, anstatt sie zur Enttäuschung zu verniedlichen?
Melanie wandte sich vom Spiegel ab und stopfte noch ein paar Müsliriegel in den Rucksack. Jared hatte gesagt, dass sie vor Sonnenuntergang wieder zu Hause wären. Er würde den Rucksack für überflüssig halten, und wahrscheinlich hatte er sogar Recht. Vielleicht brauchte sie einfach nur etwas, das ihr Sicherheit gab, genau wie Charlie. Etwas, an dem sie sich festhalten konnte.
Sie hörte einen Wagen in die Auffahrt fahren. Absolut pünktlich. Vorsichtig spähte sie aus dem Fenster und entdeckte eine dunkelblaue Limousine. Schon wieder so ein verdammter Saturn. Was hatte der Junge bloß mit diesen Saturns?
Sie öffnete die Tür, sah sich um und wartete auf Charlie.
Die Gardine in dem Backsteinbungalow gegenüber bewegte sich leicht. Der alten Mrs. Clancy entging wirklich nichts auf der Straße. Gott sei Dank hielt sie jedoch den Mund. Ob aus Respekt oder aus Angst vor ihr war Melanie gleichgültig. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass ihr die neugierige alte Schachtel jedes Mal auf den Wecker ginge, wenn ein fremder Wagen in ihrer Zufahrt parkte. Trotzdem fragte sie sich, während sie Charlie beobachtete, was die alte Mrs. Clancy da drüben hinter ihrer Gardine wohl denken mochte.
Charlie hatte einen schwarzen Overall über sein TShirt und die Jeans gezogen. So einen mit Reißverschluss und langen Ärmeln, was bei dieser Hitze ziemlich unpassend wirkte. Noch unpassender aber sahen die strahlend weißen Nikes aus, die unter dem Hosenaufschlag hervorlugten. Der Junge achtete mehr auf seine Schuhe als auf seine Körperpflege, was heute allerdings keine Rolle spielte. In dem Overall würde er sowieso bald völlig durchgeschwitzt sein. Als Melanie das rote Tuch bemerkte, das sich Charlie um den Hals geknotet hatte, hätte sie am liebsten laut aufgelacht. Großer Gott, die hatten doch wohl nicht ernsthaft vor, sich die Tücher wie Bankräuber aus einem alten Western über das Gesicht zu ziehen, oder?
Als er in seinem typischen schlaksigen Gang auf sie zukam, sah sie den Schweiß auf seiner Stirn. Er hinterließ bereits helle Streifen in der Bräunungscreme, die er kurz zuvor aufgetragen haben musste. Hoffentlich löste er nicht auch die schwarze Haarfarbe auf und ließ sein natürliches Rot durchschimmern. Damit wäre seine ganze Tarnung für die Katz. Charlie schien sich dieser Gefahr jedoch nicht bewusst zu sein.
Sie wartete, bis er im Haus war, und erst als sie die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, fragte sie: »So stellst du dir also ein Fluchtauto vor?«
»Wieso? Der ist ganz neu, hat weniger als fünftausend Meilen runter. Und die Scheiben sind getönt. Da kann keiner reingucken, wenn er sich nicht gerade die Nase an der Scheibe platt drückt.«
Sie musste zugeben, der Wagen sah brandneu aus. Sicher hatte er ihn wieder vom Parkplatz eines Händlers geklaut, obwohl er ein reguläres Kennzeichen trug. Das hatte Charlie sich wahrscheinlich auf dem Langzeitparkplatz am Flughafen oder auf einem der Apartmenthaus-Parkplätze im Westen der Stadt besorgt, wo man den Verlust erst nach einigen Tagen oder sogar Wochen bemerken würde. Der Junge war richtig gut. Fix und effizient. Aber auch berechenbar. Sie versuchte ihm immer einzuhämmern, dass es die kleinen, scheinbar harmlosen Fehler waren, die einem den Kopf kosten konnten.
Ein Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, unbezahlte Steuern oder eben ein gestohlener Saturn zu viel.
»Wo ist Jared?« fragte sie. »Ich dachte, ihr würdet zusammen kommen?«
»Er musste noch etwas erledigen. Wir gabeln ihn unterwegs auf. Du solltest auch einen Overall anziehen.« Charlie stand da, kratzte sich lässig zwischen den Beinen und musterte seine Mutter, die Jeans und ein T-Shirt trug.
»Es ist viel zu heiß für so ein Scheißding. Außerdem bleibe ich ja im Auto. Du hast selbst gesagt, dass mich hinter dem Steuer niemand sehen kann.«
Das schien ihn allerdings nicht zu überzeugen. Sie zog sich die Baseballkappe tiefer in die Stirn und setzte eine dunkle Sonnenbrille auf. »Na, besser?«
»Okay«, murmelte er, aber wohl eher, weil er sich nicht mit seiner Mutter streiten wollte. Nicht heute. »Kann ich mir was zu essen mitnehmen?« Er ging in die Küche, ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete den Kühlschrank und inspizierte dessen Inhalt.
»Mein Gott, Charlie! Wir wollen eine Bank ausrauben und nicht zu einem Picknick!«
»Ich mache mir bloß ein Sandwich«, erwiderte er, ohne sie anzusehen, schmierte eine dicke Schicht Miracle Whip auf das Weißbrot und belegte es dann mit einem imposanten Stapel aus Truthahnbrust- und Käsescheiben. »Hast du Chips?«
Da war es wieder, dieses schiefe Grinsen, das es ihr so schwer machte, ihm etwas abzuschlagen. Er war jetzt über eins achtzig groß, und trotzdem sah sie in ihm immer noch ihr Baby. Sie schaute im Vorratsschrank nach, fand eine Tüte Ruffles und warf sie ihm zu. Dann überlegte sie, ob sie auch noch kalte Cola hatte, die sie mitnehmen konnten.