31. Kapitel

2.47 Uhr

Melanie konnte es nicht fassen. Jared hatte den Mann tatsächlich töten wollen. Einfach so. Die Kugel hatte seine Stirn gestreift. Zwei Zentimeter weiter rechts, und sie wäre ihm geradewegs durch den Kopf gegangen.

Jared stand jetzt über ihm, den Finger noch am Abzug. Der Mann lag auf dem Boden und wirkte völlig verstört. Er fuhr sich über die Wunde und betrachtete das Blut an seinen Fingerspitzen, als könne er nicht glauben, dass es seins war.

Melanie hielt den Atem an und beobachtete die Szene. Charlie sah ebenfalls reglos zu. Sie rechnete fest damit, dass Jared die Waffe hob und noch einmal schoss. Sie rechnete damit, in der nächsten Sekunde den Kopf des Mannes explodieren zu sehen.

Sie wollte die Augen schließen, doch sie konnte es nicht.

Aber dann wandte Jared sich um, trat ein paar Schritte zur Seite und ließ sich in den Sessel fallen. Er nahm etwas vom Tisch, das nach einer ledernen Aktentasche aussah, und schien sich plötzlich für deren Inhalt zu interessieren. Er überprüfte die einzelnen Fächer, öffnete Reißverschlüsse, zog Notizzettel heraus, überflog sie und schob alles in die Tasche zurück.

Dann holte er einige Bücher heraus, sah sich die Einbände an und wollte sie schon wieder zurück in die Tasche schieben, als er stutzte. Er überflog den Klappentext, sah den Mann auf dem Boden an und dann wieder auf das Buch.

»Sie sind dieser Typ hier«, stellte er fest und hielt das Buch hoch. »Sie haben dieses Buch geschrieben, was?

Andrew Kane.«

Melanie beobachtete den Mann, diesen Kane. Er blickte auf, als Jared seinen Namen nannte, also war er wohl okay.

Vielleicht hatte die Kugel keinen großen Schaden angerichtet.

»Sie schreiben also Bücher«, fuhr Jared fort.

Melanie wusste nicht, ob Jared beeindruckt war oder sich über ihn lustig machte. Seit Jared aus dem Gefängnis entlassen worden war, wirkte er verändert, und manchmal hatte sie nicht die geringste Ahnung, was gerade in ihm vorging.

»Wie viele Bücher haben Sie geschrieben, Andrew Kane?«

Jared blätterte das Buch durch, hielt einige Male inne und schien tatsächlich hier und da eine Passage zu lesen.

Schließlich setzte sie sich Jared gegenüber auf das abgewetzte Sofa. Was für eine Wohltat, endlich mal wieder entspannt zu sitzen. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Beine wie betäubt waren. Die Kratzer und Schnitte auf ihren Armen brannten, doch sie wollte dem keine Beachtung schenken. Sie wollte vor allem wissen, was Jared jetzt vorhatte.

Melanie versuchte sich zu erinnern, wann sie Jared das letzte Mal mit einem Buch in der Hand gesehen hatte. Selbst als Kind hatte er praktisch nie gelesen, geschweige denn seine Hausaufgaben gemacht. Er hatte immer jemanden gefunden, der ihm die Arbeit abnahm. Trotzdem lehnte er sich jetzt zurück und schien ganz fasziniert zu sein, ob von dem Buch oder der Tatsache, dass er es mit einem Schriftsteller zu tun hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Wohl eher Letzteres, vermutete sie, auch wenn der Schreiberling blutend zu seinen Füßen lag. Genau dort, wo Jared andere Menschen am liebsten sah.

Armer Andrew Kane, konnte Melanie nur denken. Wenn er seine verdammten Schlüssel doch nur im Auto stecken gelassen hätte. Mehr hatte Jared gar nicht gewollt, nur den Wagen. Sie hatte vorgeschlagen, sich ins Haus zu schleichen und die Schlüssel zu suchen. Sie hatte sich an die Blutspritzer auf Charlies Overall erinnert und sich gesagt, dass es ja nicht noch weitere Verletzte geben müsse. Aber dann war Jared plötzlich eingefallen, dass er Hunger hatte.

»Ernsthaft, wie viele Bücher haben Sie geschrieben?«, fragte Jared noch einmal.

Melanie sah, wie Andrew Kane sich langsam aufrichtete und sich gegen die Wand lehnte. Jede Bewegung schien ihm Mühe zu bereiten. Wie hatte er sich überhaupt mit dieser lächerlichen Stange verteidigen wollen, wo sein rechter Arm doch durch die Bandage praktisch an seinen Körper gefesselt war.

»Das ist mein fünftes«, antwortete er mit einer Stimme, die kräftiger klang, als man angesichts seiner Situation hätte glauben mögen. Dann saß er da, sah Jared an und wartete auf die nächste Frage, als sei es das Natürlichste der Welt, dass sie über seine schriftstellerische Tätigkeit sprachen, nachdem Jared gerade versucht hatte, ihm den Kopf wegzupusten.

»Ich habe ein paar Gedichte geschrieben«, erklärte Jared.

Melanie starrte ihn ungläubig an und warf Charlie dann einen Blick zu, um zu sehen, ob er ihrem Bruder diesen Blödsinn abkaufte. Charlie hatte jedoch einen

Beutel Kekse gefunden und futterte sich zum Boden der Packung durch.

»Kennen Sie Richard Cory?« fragte Jared den Autor.

Fast hätte sie laut aufgelacht. Wie lächerlich zu glauben, dass Jared und dieser Autor dieselben Leute kannten. Zu ihrer Überraschung antwortete der jedoch: »Und Richard Cory, in einer stillen Sommernacht, ging heim und schoss sich eine Kugel durch den Kopf.«

»Ich liebe dieses Gedicht.« Jared grinste. »Da ist dieser Typ, dieser Richard Cory, und alle bewundern ihn, weil er reich ist und gut aussieht und das alles. So scheint es jedenfalls, richtig? Und dann geht dieser Typ nach Hause und bläst sich das verdammte Hirn weg. Da sieht man mal wieder, dass nicht alles Gold ist, was glänzt.«

Ein Gedicht, ein beschissenes Gedicht! Melanie konnte nicht glauben, dass sie nass, frierend und schmutzig hier saß und Jared sich mit einem Mann, den er gerade eben noch hatte töten wollen, über solchen Quatsch unterhielt. Aber vielleicht bedeutete das, dass es für sie doch noch ein Happy End gab. So, wie immer in diesen Büchern.