33. Kapitel
8.15 Uhr
Platte River State Park
Andrew spürte kaum noch etwas von den Schmerzen seines lädierten Schlüsselbeinknochens. Wer hätte gedacht, dass ein Streifschuss an der Stirn ein so wirksames Gegenmittel war?
Herrgott, tat das weh! Sein Kopf fühlte sich an, als sei die gesamte Stirnseite aufgeschürft und nur noch blutiges, rohes Fleisch. Er fürchtete, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Übelkeit überrollte ihn in Wellen, doch wenigstens wurde sein Blick langsam wieder klar, nachdem er stundenlang alles dreifach gesehen hatte. Er wünschte, das ständige Klingeln in den Ohren abstellen zu können, aber das Pochen im Kopf ließ seinen Schädel vermutlich ohnehin jeden Moment platzen und erlöste ihn von dem Übel.
Seine nächtlichen Besucher hatten seine Dusche entdeckt und sich über den Inhalt seines Kühlschranks hergemacht.
Vielleicht hatte er ja Glück, und sie verschwanden einfach mit seinen Wagenschlüsseln und der Brieftasche, sobald sie fertig waren. Er wusste immer noch nicht, ob dieser Jared ihn hatte erschießen oder nur erschrecken wollen. Irgendwie kam ihm der Kerl bekannt vor, und er konnte sich nicht vorstellen, dass er versehentlich danebengeschossen hatte. Aber vielleicht wollte er das ja nur glauben, um sich Mut zu machen.
Der Jüngere, Charlie, hatte ihm geholfen, auf das Sofa zu kommen. Und er hatte sich bei ihm auch noch wie ein Idiot dafür bedankt. Eine reflexartige Reaktion, die so paradox war, dass der Junge ihn ungläubig angesehen hatte. Dann hatte er jedoch grinsend genickt. Als er aus dem Bad gekommen war, hatten sich seine schwarzen Haare in einen roten Schöpf verwandelt, und sauber geduscht sah er jetzt wirklich wie ein Junge aus. Er hatte mitbekommen, dass er die Frau ›Mom‹ nannte. Na großartig, mitten in den Wäldern wurde er von einer Familienbande überfallen und ausgeraubt.
Nun war Charlie an der Reihe, ihn zu bewachen, während die Frau schon seit einer ganzen Weile unter der Dusche stand und Jared ein Nickerchen hielt, hinten im Schlafzimmer und womöglich auch noch in seinem Bett. Hoffentlich quälte ihn das verdammte Schaumstoffkissen genauso wie ihn.
Charlie hatte Jareds Waffe. Andrew war aufgefallen, dass die Frau das Ding nicht anrührte. Ihr Sohn aber hatte sich den Revolver in den Bund seiner Jeans gesteckt genau genommen in den Bund seiner Jeans, denn Charlie und Jared hatten sich bei seinen Sachen bedient.
Charlie hatte sich eins seiner Lieblings-T-Shirts mit dem Logo der Nebraska Huskers über seinen knochigen, fast rachitisch wirkenden Oberkörper gestreift. Es war ihm viel zu weit, und er wirkte beinahe verloren darin.
Wahrscheinlich versuchte er nun, etwas gegen seinen flachen Bauch zu unternehmen und in das T-Shirt hineinzuwachsen, jedenfalls hatte er sich mittlerweile das dritte turmhohe Sandwich gemacht, das er jetzt gierig verschlang. Das erste hatte ihm vor einigen Stunden seine Mom geschmiert, und dabei hatte er sie offenbar überrascht.
Seine Vorräte waren ihm jedoch bemerkenswert gleichgültig. Die drei sollten doch seinen Kühlschrank leer fressen, seine Klamotten anziehen, seine Brieftasche und sogar sein neues Auto mitnehmen, Hauptsache, sie verschwanden endlich.
Von seinem Platz auf dem Sofa aus sah er über die Veranda auf den See. Bald würde es richtig hell sein, und dann war dieser Albtraum hoffentlich vorüber.
Die Frau kam aus dem Bad, ein Handtuch um den Körper gewickelt. Mit dem nassen Haar und der rosigen Haut wirkte sie viel zu jung, um Charlies Mutter zu sein. Und so spärlich bekleidet sah sie eigentlich überhaupt nicht wie eine Mutter aus.
»Meinen Sie, Sie haben auch etwas für mich?«
Andrew sah sie verblüfft an, da ihre Frage fast ein wenig kokett klang. War das ein Spiel? Die Männer gaben die bösen Buben und sie die Verführerin?
»Bedienen Sie sich«, erwiderte er knapp und machte eine Handbewegung in Richtung des verstreuten Inhalts seines Koffers. Jared und Charlie hatten zunächst alles auf der Küchenarbeitsplatte ausgebreitet, die Sachen jedoch einfach auf den Fußboden geworfen, als sie mit ihrer Sandwich-Produktion begannen. Zögerlich sah sie seine Sachen durch und legte sogar einige Teile ordentlich zusammen, die Jared und Charlie achtlos hingeworfen hatten.
Andrew überlegte, ob er sie falsch eingeschätzt hatte.
Vielleicht hatte sie ja einfach nur höflich sein wollen, weil ihr die ganze Situation nicht behagte.
Er sah wieder hinaus auf den See, dessen silbrig ruhige Oberfläche er dem Chaos in der Hütte – die seine Zuflucht hatte sein sollen – vorzog.
»Funktioniert der?« Charlie hatte den kleinen Fernseher entdeckt und steckte bereits den Stecker in die Dose. »Hier draußen gibt es wahrscheinlich keinen Kabelanschluss, oder?«
Trotzdem sah er suchend an der Wand entlang. Das Sandwich in der einen Hand, begann er mit der anderen an den Antennenohren des Gerätes zu drehen. Das Rauschen und Flimmern hinderte ihn nicht am Weiteressen. Erst als etwas aus seiner kunstvollen Konstruktion herausrutschte – eine Scheibe Tomate, gefolgt von einem Stück Zwiebel – und zu Boden fiel, unterbrach er seine Bemühungen, einen Sender zu finden, nahm beides vom Teppich auf, betrachtete es prüfend und stopfte es sich dann in den Mund.
Schließlich erwischte er eine Station, die einigermaßen klar zu empfangen war. Andrew erkannte dieselben orangeroten Schatten, die auch er gestern Abend hinnehmen musste. Es sah nach den Frühnachrichten aus.
»Bisher liegen keine Meldungen über Tornados vor, obwohl in Douglas und Sarpy County mehrere Windhosen beobachtet wurden. Mehr davon später. Nun die letzten Informationen über den Überfall auf die Nebraska Bank of Commerce gestern Nachmittag. Wie viel Geld die beiden maskierten Täter erbeutet haben, ist weiterhin unbekannt.«
Andrew sah zu Charlie hinüber, der wie gebannt auf die Mattscheibe starrte. Die Spitze seiner Zunge lugte zwischen seinen Zähnen hervor. Auch die Frau hielt inne, um zuzuhören. Andrew erinnerte sich an den Bericht von gestern Abend. Zwei Flüchtige auf dem Highway 50 in südlicher Richtung. Warum zum Teufel hatte der Polizeihubschrauber die drei nicht entdeckt? Nur weil die da oben nicht richtig hingesehen hatten, saßen sie jetzt hier in seiner Hütte.
In den Nachrichten wurde eine Karte eingeblendet, die zeigte, wo die Verdächtigen zuletzt gesichtet worden waren.
Ihren Wagen hatte man angeblich etwas abseits des Highway entdeckt. Die Anwohner der Gegend wurden aufgefordert, ihre Häuser abzuschließen und wachsam zu sein. Eine Beschreibung der Täter gab es nicht. Andrew hingegen prägte sich ihr Aussehen ein und inachte sich im Geiste eine Liste ihrer besonderen Merkmale.
»Die beiden Männer sind bewaffnet und gefährlich. Bis jetzt hat die Polizei die Namen der Toten noch nicht bekannt gegeben.«
Andrew fuhr hoch. Tote?
»Bekannt ist bisher nur, dass es sich offenbar um zwei Bankangestellte und zwei Kunden handelt. Eine Frau wurde in das University Medical Center eingeliefert und schwebt noch immer in Lebensgefahr. Nach einer nicht offiziell bestätigten Information wurden alle vier Opfer aus nächster Nähe erschossen. Sachdienliche Hinweise nimmt jede …«
Andrew fühlte Panik in sich aufsteigen, als ihm plötzlich klar wurde, warum ihm Jareds Gesicht bekannt vorgekommen war. Er hatte den Mann in mehreren Nachrichtensendungen gesehen, und sein Foto war auf der Titelseite des Omaha World Herold gewesen. Jared Barnett!
Tommy Pakula hatte den Namen während der letzten Wochen mehrfach erwähnt und das Rechtssystem verflucht, das es einem schmierigen Anwalt ermöglicht hatte, einen verurteilten Mörder aus dem Gefängnis zu holen.
Andrew trat der Schweiß auf die Stirn, und sofort fing seine Wunde an zu brennen. Er hatte zu viele Recherchen betrieben, zu viele Gespräche mit Polizisten geführt und zu viele Statistiken studiert, um sich jetzt noch etwas vorzumachen.
Jared Barnett würde nicht einfach mit seiner Brieftasche und seinem Auto abhauen. Jedenfalls nicht, bevor er beendet hatte, was ihm wohl gestern Abend misslungen war – ihn zu töten.