10. Kapitel
11.30 Uhr
Platte River State Park
Mit der gesunden Hand zerrte Andrew an dem Beutel herum, bis er die Holzkohle endlich aus dem Kofferraum gehievt hatte. Erstaunt stellte er fest, dass es lediglich ein Fünf-Kilo-Sack war. Er kam ihm wesentlich schwerer vor. Er klemmte sich das Ding unter den Arm, und als müsse er sich etwas beweisen, schnappte er sich auch noch ein Sechserpack Bud Light. Er ignorierte den stechenden Schmerz, der ihm von der gesunden Schulter über den Nacken in den lädierten Arm kroch.
Er war es leid, noch länger zwischen seinem Wagen und der Hütte hin und her laufen zu müssen, obwohl es nur fünfzig Schritte waren. Leid war vielleicht nicht das richtige Wort, die mühsame Prozedur ärgerte ihn. Er überlegte, ob er nicht auch die Angelrute und die Köderbox noch mitnehmen solle, doch die aufziehenden Gewitterwolken überzeugten ihn von der Unsinnigkeit dieses Gedankens. Vielleicht war es ohnehin ganz gut, wenn die Angelausrüstung vorerst im Wagen blieb.
Es wäre nur eine weitere Enttäuschung, falls er feststellen sollte, dass er mit links nicht auswerfen konnte.
Er bemerkte einen farbigen Fleck zwischen den Bäumen, ein Auto kam die Straße herauf. Bepackt, wie er war, konnte er zum Gruß nur nicken, als sich der Ford Explorer näherte. Er wartete und bedauerte nun seine Unvernunft, Holzkohle und Bier auf einmal schleppen zu wollen. Die verletzte Schulter zerrte entsetzlich, obwohl das Gewicht an der anderen zog.
Aber Absetzen kam nicht in Frage, schon gar nicht vor seinem Freund.
Tommy Pakula stieg aus dem Wagen und drohte ihm anstatt einer Begrüßung mit dem Finger.
»Bist du sicher, dass du so viel auf einmal tragen solltest?«
fragte er, brachte seinen Freund jedoch nicht in Verlegenheit, indem er ihm etwas abnahm. Als ehemaliger Fullback war er gut eine Handbreit kleiner als Andrew, hatte aber breite Schultern und Bizepse, die die Ärmel seines Golfshirts scheinbar zum Platzen bringen wollten. Tommy nahm seine Kühltasche und einen Plastikbeutel vom Rücksitz. »Ich habe ein paar Filets mitgebracht, weil es mir ganz danach aussieht, dass wir erst mal nicht zum Angeln kommen.«
»Glaub ja nicht, ich würde nicht merken, wie erleichtert du klingst.«
»He, versteh mich nicht falsch. Ich habe mich aufs Angeln gefreut. Besser als so ein Fisch, den man auch noch ausnehmen muss, bevor man ihn braten kann, passt zu meinem Hunger allerdings ein gebratenes Stück Fleisch, frisch aus der Kühltasche.«
»Ich hatte dir doch gesagt, dass wir den Fisch nicht essen. Hier darf man nur angeln, wenn man die Fische wieder ins Wasser setzt.«
»Na also.« Tommy stellte die Kühltasche auf das Dach des Explorer, wischte den Schweiß von seiner Stirn und fuhr sich mit der Hand weiter über den Kopf. Eine seltsame Angewohnheit, seit er angefangen hatte, sich den Schädel zu rasieren. Andrew hatte die neue Marotte sofort bemerkt und fragte sich, ob Tommy sich vergewissen wolle, dass er tatsächlich keine Haare mehr hatte, oder ob es ihm einfach nur gefiel, sich über den kahlen Schädel zu streichen. »Ich wusste gar nicht, dass du so etwas wie der Zen-Meister des Angelns bist.«
»Wenn du dich mal wirklich ernsthaft darauf einlassen würdest, könntest du mich verstehen.«
»Ja, klar.«
Tommy nahm die Kühltasche und folgte Andrew zur Hütte.
»Also, was hat der Arzt gesagt? Wie lange musst du das verdammte Ding noch tragen?« wollte Tommy wissen.
»Noch drei Wochen, mindestens«, erwiderte Andrew und fühlte, wie ihn diese Vorstellung entmutigte.
»Heilige Scheiße, das ist hart. Wie kannst du überhaupt schreiben?«
»Nur mit der linken Hand und nur sehr langsam.« Er stellte seine Last vor der Hütte ab, um Tommy die Fliegendrahttür zu öffnen. Der gestattete ihm die höfliche Geste und schob sich an ihm vorbei ins Haus.
»Ich hinke meinem Abgabetermin schon ganz schön hinterher«, sagte Andrew. Dabei wusste er selbst, dass seine Verletzung in Wahrheit nur eine vorgeschobene Entschuldigung dafür war, dass er mit seinem Manuskript nicht vorankam. Aber über den wahren Grund mochte er nicht reden, als würde das Eingeständnis sein Schicksal besiegeln.
Jedenfalls spürte er fast so etwas wie Erleichterung, als er feststellte, dass Tommy seine fadenscheinige Rechtfertigung gar nicht registriert zu haben schien und bereits die Zimmer inspizierte.
»Die Hütte ist echt Klasse«, bemerkte er anerkennend, neigte den Kopf und betrat eins der beiden Schlafzimmer.
»Richtig toll hier.«
Tatsächlich war die Hütte weit komfortabler, als man von außen hätte vermuten können. Zwar waren die Wände aus knorrigem Pinienholz und die Decke aus rustikalen Balken, aber nachträglich eingesetzte kleine Holzfenster im Dach sorgten für viel Licht, es gab ein modernes Bad, eine Dusche sowie Heizung und Klimaanlage. Die Kochnische war mit Kühlschrank und Elektroherd ausgestattet sowie einer Mikrowelle, die die Besitzer, wie Andrew bemerkte, seit seinem letzten Besuch neu angeschafft hatten.
Die meiste Zeit wollte er ohnehin auf der Veranda vor dem Haus verbringen, auf den See und den Wald schauen und hoffentlich wieder wie früher bis spät in die Nacht beim Schein einer Laterne schreiben.
Das hier war seine Klausur, seine Zuflucht, hier hatte er sein erstes Buch geschrieben. Und bisher hatte es ihm immer geholfen, sich hierher zurückzuziehen. Leider war er in den letzten Jahren zu beschäftigt gewesen, um sich den Luxus dieser Einsamkeit zu gönnen. Heute schrieb er meist, während er auf Flughäfen wartete oder in Hotelzimmern bei kaltem, mittelmäßigem Essen. Wer hätte gedacht, dass man als Schriftsteller so viel Zeit auf der Straße und in der Luft verbrachte. Da konnte man das gebrochene Schlüsselbein beinahe als Himmelsgeschenk betrachten, als Ermahnung, kürzer zu treten und neue Prioritäten zu setzen. Er musste sich wieder vergegenwärtigen, warum er sich gerade für diesen Beruf entschieden hatte.
»Wo ist der Fernseher?« fragte Tommy, nachdem er auch das Bad inspiziert hatte.
»Es gibt keinen.«
»Keinen Fernseher?«
»Nein. Keinen Fernseher. Kein Radio, kein Telefon, kein Internet. Sogar der Handy-Empfang ist miserabel.«
»Heilige Scheiße! Was sagtest du, wie lange du hier bleiben willst?«
»Zwei Wochen.«
»Das ist doch kein Leben, mein Junge. Wie willst du zwei verdammte Wochen allein hier draußen aushalten? Ohne Fernseher?«
»Ich muss mich frei machen von den Ablenkungen des Alltags. Außerdem habe ich einen kleinen tragbaren Fernseher dabei, falls dich das beruhigt. Einmal am Tag sehe ich Nachrichten, ich muss ja schließlich auf dem Laufenden bleiben.«
»Ablenkungen des Alltags? Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe, mein Lieber, aber ist das, was du Ablenkungen nennst, nicht das pralle Leben?« Tommy nahm die Bierpackung und stellte die Flaschen sorgfältig einzeln in den Kühlschrank. »Das klingt mir ja fast so, als hättest du beim Schreiben dieselbe Philosophie wie beim Angeln.«
»Wie meinst du das?«
»Du isst die Fische nicht, die du angelst. Und du flüchtest vor dem Leben, über das du schreibst.«
»Sehr witzig«, erwiderte Andrew. Aber er ahnte, dass Tommy Recht hatte.