40. Kapitel

10.53 Uhr
Highway 75

Andrew sah immer wieder in den Rückspiegel. Seit er diesen Wagen fuhr, schien er wie automatisch in jede Radarfalle zu tappen, wieso, verdammt, nicht auch heute? Wo immer es ging, überschritt er die Geschwindigkeitsbegrenzung und gab sich Mühe, sein Tempo konstant zu halten, damit Jared seinen Versuch, auf sich aufmerksam zu machen, nicht bemerkte. Doch weit und breit kein Wagen oder Motorrad der State Patrol, es war wie verhext.

Die hatten vier, vielleicht fünf Leute bei einem Bankraub umgebracht, und jetzt brauchten sie Geld? Merkwürdig. Es sei denn, sie hatten ihre Beute irgendwo versteckt. Vielleicht hatten sie auch befürchtet, die Scheine wären markiert oder die Seriennummern könnten sie verraten. Aber hätten sie nicht wenigstens Geld für ihre Flucht dabeihaben müssen? Oder war die Sache schief gelaufen, und sie hatten überstürzt fliehen müssen?

Jedenfalls war Jared ausgesprochen ungehalten gewesen, als Andrew ihm gesagt hatte, dass sein Limit für Barabhebungen am Automaten bei vierhundert Dollar am Tag läge.

Andrew hatte so vor dem Autoschalter gehalten, dass die Überwachungskamera seiner Meinung nach auch einen Teil der Rückbank aufnehmen musste. Zumindest hoffte er das. Er hatte kurz überlegt, eine falsche Geheimzahl einzugeben, damit die Karte eingezogen würde.

Dann hätte Jared ihn in die Bank gehen lassen müssen.

Doch diesen Gedanken hatte er schnell wieder verworfen, als ihm eingefallen war, was das letzte Mal passiert war, als Jared eine Bank betreten hatte.

Also hatte er vierhundert Dollar aus dem Automaten gezogen und Jared die Scheine übergeben. Nun waren sie wieder unterwegs und verließen Nebraska City auf dem Highway 75 in südlicher Richtung. Im Rückspiegel sah Andrew, dass Jared konzentriert den Radionachrichten lauschte. Der Milchbubi neben ihm schien immer noch damit beschäftigt, in sein – Andrews – T-Shirt hineinwachsen zu wollen und stopfte einen Mini-Doughnut mit Schokoladenüberzug nach dem anderen in sich hinein.

Andrew warf einen vorsichtigen Blick zur Seite. Melanie hatte den Kopf gegen das Seitenfenster gelehnt. Zuerst hatte er gedacht, sie schliefe, aber dann merkte er, dass sie einfach nur still in die Landschaft starrte. Etwas an ihrem Verhalten war seltsam. Ihre deutlich spürbare Nervosität, ihre Aufregung angesichts der Ereignisse in der Bank, all das ließ ihn vermuten, dass sie mit den beiden Kerlen auf der Rückbank hinter ihnen nicht unbedingt einer Meinung war.

Mein Gott, warum fiel denn niemandem auf, dass er viel zu schnell fuhr? In Nebraska City war er sogar verbotenerweise links abgebogen, doch der Fahrer des Pickup, dem er die Vorfahrt genommen hatte, hatte angehalten und ihn mit einem freundlichen Winken passieren lassen.

»Dreh das lauter!« rief Jared plötzlich von hinten und riss Andrew aus seinen Gedanken. Auch Melanie schreckte auf und griff nach dem Knopf an dem Radio.

»… wahrscheinlich aus dem Platte River State Park entkommen. Wie die örtlichen Behörden mitteilen, wird zurzeit nach einem in Nebraska zugelassenen roten Saab 9-3, Baujahr 2004, mit dem Kennzeichen A WHIM gefahndet. Die zuständigen Behörden gehen davon aus, dass die beiden Tatverdächtigen möglicherweise den Besitzer des Wagens entführt haben. Die Polizei bittet um Mithilfe der Bevölkerung und hat die Hotline 800-592-9292 eingerichtet. Hinweise nimmt auch jede Polizeidienststelle unter der Notrufnummer 911 entgegen. Sollten Sie das gesuchte Fahrzeug sehen, versuchen Sie auf keinen Fall, sich den Verdächtigen zu nähern. Die Männer sind bewaffnet und gefährlich. Inzwischen hat die Polizei auch die Namen der vier Toten bekannt gegeben, die bei dem Bankraub …«

»Scheiße! Scheiße! Schalt das verdammte Ding aus!«

»Was machen wir jetzt?« Melanie drückte das Radio aus und drehte sich zu Jared herum, als sei er ihre letzte Hoffnung.

»Halt die Klappe, Mel! Lass mich nachdenken.«

»Das ist doch alles Wahnsinn, Jared. Charlie und ich hatten diesen Scheiß niemals mitmachen dürfen.«

»Halt verdammt noch mal die Klappe.«

Sie drehte sich um und sah wieder aus dem Fenster, wobei sie mit den Händen den Saum ihres Hemdes knetete. Andrew glaubte auch zu bemerken, dass ihre Unterlippe bebte, doch ehe er sich vergewissern konnte, zog sie die Lippe zwischen die Zähne.

Andrew beobachtete Jared im Rückspiegel. Seine kühle Beherrschung hatte sich rasch verflüchtigt. Unruhig rutschte er auf dem Sitz hin und her, sah ständig aus dem einen und dann wieder aus dem anderen Fenster. Schließlich fing er sogar an, sich so zu verrenken, dass er in den Himmel spähen konnte.

Charlie ließ sich nach einer Weile von ihm anstecken und hielt ebenfalls nach einem möglichen Polizeihubschrauber Ausschau.

»Wie zum Geier haben die das rausgekriegt?«

Andrew dachte, Jared würde nur Dampf ablassen, ohne eine Antwort zu erwarten. Doch dann spürte er plötzlich einen Schlag auf dem Hinterkopf.

»Wie?« schrie Jared. »Womit haben Sie denen einen Tipp gegeben?«

»Ich habe nichts getan!« beteuerte Andrew. Plötzlich pochte sein Herz so wild, dass es ihm in den Ohren dröhnte.

Konnte man mit einem Mann vernünftig reden, der offenbar keinen Grund brauchte, um völlig auszuflippen? Würde er den Wagen jetzt beseitigen und ihn gleich mit? »Was hätte ich denn tun können? Sie waren doch die ganze Zeit bei mir.«

Er musste sich dringend etwas einfallen lassen, um seine Panik in den Griff zu kriegen. Er durfte auf keinen Fall klein beigeben. Denk positiv! Nutz die Wendung der Ereignisse zu deinem Vorteil! Einen Versuch war es immerhin wert, denn was hatte er schon zu verlieren? Während Jared sich hin und her drehte, um nach Verfolgern Ausschau zu halten, tastete er vorsichtig nach dem Lichtschalter. Warum war er nicht eher darauf gekommen? Er musste etwas tun, um auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er etwas Zeit schinden könnte – ja, Zeit schinden wäre gut. Er dachte nach.

»Vielleicht könnten Sie die Situation ja zum Vorteil für sich wenden«, hörte er sich auf einmal sagen. Wenn er sich doch bloß konzentrieren könnte. Warum wollte ihm jetzt nicht einfallen, was er alles über die Polizeiarbeit wusste? Jetzt könnte er die Ergebnisse seiner Recherchen für seine Bücher praktisch anwenden. Jahrelang hatte er sich mit Kriminellen und Killern beschäftigt, doch im Moment schien ihm nur eines sicher: Er musste so tun, als sei er auf Jareds Seite.

»Wovon reden Sie?« Jared verharrte auf dem Rücksitz und starrte angestrengt nach hinten.

Andrew merkte, dass Melanie ihn ansah. Bisher hatte er eher den Eindruck gehabt, sie ignoriere ihn.

»Die suchen diesen Wagen, richtig?« fuhr er fort. »Ich könnte eine falsche Spur legen. Ich könnte runterfahren bis Kansas, vielleicht rüber nach Missouri. Inzwischen hauen Sie in die entgegengesetzte Richtung ab.«

Schweigen.

Es fiel Andrew schwer, auf eine Reaktion zu warten. Doch er sagte nichts weiter, damit seine Verzweiflung nicht zu offensichtlich wurde. Er widerstand sogar dem Impuls, in den Rückspiegel zu sehen. Er musste Jared Gelegenheit geben, nachzudenken, ob ihm sein Vorschlag nützte. Psychopathen dachten immer nur an sich. Darauf setzte Andrew.

Schließlich beugte Jared sich vor, langte mit dem Arm über die vordere Sitzlehne und deutete nach vorn. »Sehen Sie die Farm da drüben? Fahren Sie da ab.«