7. Kapitel
10.03 Uhr
Cracker Barrel
Melanie sah ihn schon, als sie auf den Parkplatz fuhr, und unwillkürlich zog sich ihr Magen zusammen. Sie wusste, dass Jared nicht gerne wartete. Er saß in einem hölzernen Schaukelstuhl, ganz am Ende der Veranda des Restaurants.
Sie sah auf ihre Armbanduhr und stellte erleichtert fest, dass sie pünktlich war. Okay, vielleicht eine Minute zu spät, aber nicht mehr. Jared hatte es sich bequem gemacht und die Füße auf das Geländer gelegt, als mache er ein Nickerchen.
Doch sie wusste, dass er sauer war, weil nicht sie zuerst da gewesen war und auf ihn wartete. Und erst recht, weil sie jetzt noch nicht mal mit quietschenden Reifen vorfuhr. Mit anderen Worten, weil sie nicht mehr das kleine Mädchen war, das zu ihrem großen Bruder aufschaute, ständig bemüht, ihm zu gefallen. Das kleine Mädchen wäre pünktlich, nein, sogar vor der Zeit hier gewesen.
Er nickte zur Begrüßung, ohne sie wirklich anzusehen.
Irgendwie wirkte er verändert. Darauf war sie nicht vorbereitet. Er grinste, und das war kein gutes Zeichen. Jared grinste nur in bestimmten Situationen, und keine davon hatte etwas mit Freude oder Heiterkeit zu tun. Dieses Grinsen hieß: Ich hab jetzt was gut bei dir, du stehst in meiner Schuld. Hätte sie noch Appetit gehabt, was ohnehin nicht der Fall war, wäre er ihr spätestens jetzt vergangen.
Ohne jeden Anflug von Eile nahm er erst den einen Fuß vom Geländer und ließ ihn mit einem dumpfen Aufprall auf dem Holzfußboden landen, dann den anderen. Er stemmte sich aus dem Schaukelstuhl und griff nach dem Rucksack, den Melanie erst jetzt bemerkte.
»Der gehört Charlie«, sagte sie anstelle einer Begrüßung und deutete auf das abgewetzte blau-violette Ding mit den schwarz-weißen Aufnähern an den Ecken. Das verschlissene alte Teil würde sie überall erkennen. Natürlich könnte sich Charlie einen neuen klauen – zum Teufel, er könnte ein Dutzend klauen –, aber der Junge schleppte dieses Ding nun schon so lange mit sich herum, fast wie der bemitleidenswerte Charlie Brown seine alte Schmusedecke, ohne die er sich nicht sicher fühlte in der großen kalten Welt. Oder war das Linus gewesen? Egal, einer dieser ballonköpfigen Jungs aus dem Comicstrip Peanuts jedenfalls. Charlie, der sich vor nichts und niemand fürchtete, schien diesen alten Segeltuch-Rucksack zu brauchen wie Superman sein rotes Cape. »Ist er auch hier?«
fragte sie und sah sich um, ohne aber den Pick-up ihres Sohnes auf dem Parkplatz zu entdecken.
»Nein«, erwiderte Jared. Er hatte sein Grinsen eingestellt und verzichtete auf weitere Erklärungen. »Aber er wird gleich kommen.«
Wie zur Bestätigung warf sich Jared den Rucksack mit ausholender Bewegung über die Schulter, als wolle er ihr demonstrieren, dass er schließlich einen guten Köder besaß.
Aber das war ein lächerlicher Gedanke. Charlie liebte seinen Onkel, er sah zu ihm auf wie zu einem Vater. Er hatte Jared sogar im Gefängnis besucht, während sie sich nie dazu hatte überwinden können. Sie hatte sich mit dem Telefon und ein paar Briefen begnügt. Natürlich hatte sie nichts gegen die Besuche einzuwenden gehabt. Sie wusste, dass Charlie eine Vaterfigur brauchte, denn von der Trauergestalt, die sein leiblicher Vater war, konnte er kaum lernen, wie man zum Mann wurde.
»Ohne dieses Ding geht er nie los«, sagte sie, als hätte sie Jareds Bemerkung nicht gehört. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Charlie seinen Rucksack freiwillig zurückgelassen hatte – nicht einmal bei Jared –, da er das komplette Sortiment seiner »Wertgegenstände" enthielt, wie Charlie das nannte. »Weißt du, wo er steckt?«
»Er erledigt was für mich.«
Jared ging vor in das Restaurant, ohne ihr die Tür aufzuhalten. Ein grauhaariger Mann mit einer gebeugt gehenden Frau auf dem Weg nach draußen warf ihm einen empörten Blick zu. Doch solche Tadel waren an Jared verschwendet. Er bemerkte sie nicht einmal, Melanie wusste das. Doch Jareds Unhöflichkeit machte ihr nichts aus. Sie brauchte keinen Mann, der ihr die Türen aufhielt.
Was ihr schon eher etwas ausmachte, war Jareds Schweigen. Er ließ sie wieder einmal im Ungewissen. Seit seiner Entlassung hatte er nicht viel geredet, als verheimliche er etwas.
Die Kellnerin führte sie an einen Tisch in der Mitte des Raumes, doch Jared ging weiter zu einer Nische am Fenster.
Er warf den Rucksack in die Ecke der Bank und rutschte dann auf den Platz an der Wand, ehe die Frau reagieren konnte.
»Der ist doch nicht besetzt, oder?« Er faltete die Serviette auseinander und legte das Besteck zurecht, während die Kellnerin ihn nur anstarrte.
»Nein, das nicht, aber wir …«
»Großartig. Können wir die Speisekarte haben" – er schaute auf ihr Namensschild –, »Annette?« Er streckte die Hand nach den Karten aus, und Annette gehorchte augenblicklich.
Dunkles Rot kroch ihr aus dem Spitzenkragen den Hals hinauf bis zu den Wangen.
Melanie nahm Jared gegenüber Platz. So hatte er das schon gemacht, als sie noch Kinder waren. Er las die Namensschilder, die sie nie beachtete, und überrumpelte die Leute dann, indem er sie mit ihrem Vornamen ansprach, als würde er sie kennen. Damals hatte sie das cool gefunden, regelrecht erwachsen. Doch was ihr einmal charmant vorgekommen war, schien ihr jetzt purer Sarkasmus zu sein.
Aber was hatte sie eigentlich für ein Problem? Warum musste sie hinter allem und jedem stets etwas Negatives vermuten? Schließlich waren sie und Jared vom selben Blut, eine Familie. Und all die Geheimnisse, die sie teilten, machten sie darüber hinaus zu einer verschworenen Gemeinschaft. Vor langer Zeit hatten sie sich gelobt, immer füreinander da zu sein. Sie war es gewesen, die das Versprechen gebrochen hatte. Nicht nur, indem sie ihn im Stich gelassen hatte, als er sie brauchte. Hätte sie ihm ein Alibi verschaffen können, wäre er nicht fünf Jahre seines Lebens im Gefängnis versauert.
Ich stehe tatsächlich in seiner Schuld, dachte sie, als Jared die Speisekarte zuklappte. Während er darauf wartete, seine Bestellung loszuwerden, säuberte er sich mit der Gabel die Fingernägel.
Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. Doch galt das nicht ihr, sondern jemandem, der hinter ihr auftauchte.
Sie drehte sich um und erwartete, die Kellnerin zu sehen.
Stattdessen schlängelte sich Charlie zwischen den Tischen hindurch. Er stieß mit einem Gast zusammen und entschuldigte sich, verdrehte jedoch in Richtung Jared die Augen, als sei der ältere Mann selbst Schuld an dem Zusammenprall, weil er ihm im Weg gestanden hatte.
Offenbar vergaß Charlie in Jareds Gegenwart in dem ständigen Bemühen, seinem Onkel zu gefallen, seine Manieren. Er wusste genau, wie er sich Jareds Gunst erwarb, und es ärgerte sie, wenn er sich für ihn zum Idioten machte.
Manchmal führte er sich geradezu auf wie ein kleiner Hund, der für sein Herrchen Stöckchen holt. Dabei sollte er über dieses kindische Gehabe doch eigentlich inzwischen hinaus sein.
Sie käme nicht im Entferntesten auf den Gedanken, Charlie für ein Wunderkind zu halten, aber der Junge war clever und gerissen. Zu gerissen, dachte sie manchmal. Er beherrschte es unnachahmlich, andere Menschen einzuwickeln und zu manipulieren. Dabei kam ihm sein Aussehen zugute, denn mit seinem neckisch in alle Richtungen abstehenden roten Haar, den unwiderstehlichen Sommersprossen und seinem jungenhaften, leicht schiefen Grinsen musste man diesen schlaksigen Bengel einfach mögen.
Würde er jetzt noch lernen, sich vernünftig anzuziehen, wäre sie zufrieden. Sie hatte mit ihren Versuchen, es ihm beizubringen, offenkundig keinen Erfolg gehabt. Er trug wieder die alten, ausgebeulten Jeans, die sie längst hatte wegwerfen wollen, und das schwarze T-Shirt mit dem Aufdruck »Und was, wenn das Leben nur ein Witz ist?«
Dass er etwas unter dem Arm hielt, merkte sie erst, als er mit seinem schiefen Grinsen vor ihnen stand.
»Hier ist er«, sagte er und reichte Jared das hässliche Ding mit einer Geste, als handele es sich um den Goldschatz, den Indiana Jones wilden Eingeborenen und fiesen Nazi-Schergen abgejagt hatte. »Wozu wolltest du noch einen? Was hast du denn mit dem von gestern gemacht?«
Melanie konnte es nicht fassen. War es tatsächlich das, was Jared Charlie hinter ihrem Rücken für sich hatte erledigen lassen? Was zum Teufel sollte das bedeuten? Wollte Jared vielleicht einfach nur Charlies Loyalität testen? Was tur ein dummes Spiel trieben die beiden da? Denn es musste ein Spiel sein, warum sonst sollte Jared Charlie in seinem Tick ermutigen und ihn Gartenzwerge klauen lassen?