53. Kapitel

20.50 Uhr
Highway 6

Melanie konnte die Augen kaum noch offen halten, und die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten sie.

Wann hatte sie das letzte Mal geschlafen? Es kam ihr vor, als müsse das vor Ewigkeiten gewesen sein. Die Aufregung der letzten Stunden hatte sie wach gehalten, doch seitdem die Sonne untergangen war, fühlte sie sich, als seien auch ihre letzten Energiereserven aufgebraucht.

Dem leisen Schnarchen auf dem Rücksitz nach zu urteilen schlief Charlie schon seit fast einer Stunde. Andrew Kane neben ihr hingegen wirkte hellwach, obwohl er den Kopf gegen das Seitenfenster gelehnt hatte. Auch Jared schien überhaupt nicht müde zu sein. Wenn die entgegenkommenden Scheinwerfer das Innere des Taurus erhellten, sah sie ihn im Rückspiegel hinaus in die Dunkelheit starren. Jetzt hörte sie ein Rascheln hinter sich, als würde eine Straßenkarte auseinander gefaltet. Dann knipste er die Maglite an, die sie im Handschuhfach gefunden hatten.

Sie musste daran denken, was sie sonst noch in ihrem neuen Fluchtwagen entdeckt hatten. Anstatt eines Jesusbildes steckte hinter der Sonnenblende das Foto einer jungen dunkelhaarigen Frau, auf deren Schoß ein kleiner Jungen saß, der ihre Augen hatte. Als Andrew eingestiegen war, war er im Fußraum auf der Beifahrerseite auf einen Plüschbären getreten. Ihr war aufgefallen, wie behutsam er ihn aufgenommen hatte, als handele es sich um ein lebendes Wesen. Er hatte den Teddy neben sich gelegt, zwischen ihre Sitze. Sie wollte ihn dort zwar nicht haben, konnte sich aber auch nicht überwinden, ihn zu entfernen. Er erinnerte sie an Charlies alten Baren Puh. Das Foto ließ wohl keinen Zweifel daran, dass sie den Wagen einer Mutter gestohlen hatten, die wahrscheinlich in dieser Fabrik arbeitete, vielleicht in einem schlecht bezahlten Job, um ihren Sohn ernähren zu können.

Und der Kleine musste heute Abend auf seinen Teddy verzichten.

»Wir müssten gleich den Highway 34 kreuzen«, sagte Jared plötzlich und lehnte sich gegen den Vordersitz. »Bieg da rechts ab.«

»Ich glaube, ich kann nicht mehr fahren, Jared.«

»Ich weiß.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie. »Du machst deine Sache gut, Schwesterchen.«

Sie sah in den Rückspiegel und erwartete, Sarkasmus in seinem Blick zu entdecken. Aber nein, er schien es ernst zu meinen. ›Schwesterchen' hatte er sie zuletzt genannt, als sie noch Kinder gewesen waren und er auf sie aufpassen musste.

Dann hatte er in diesem tröstlich aufmunternden Ton mit ihr gesprochen, der in ihr noch heute die Hoffnung weckte, alles werde gut werden. Aber manchmal konnte selbst Jared die Dinge nicht wieder ins Lot bringen. Als sie gerade überlegte, ob er sich wohl immer noch als ihr Beschützer verstand, deutete er über die Sitzlehne nach vorn auf ein im Scheinwerferlicht auftauchendes Hinweisschild.

»Wir können uns in diesem Comfort Inn ein Zimmer nehmen. Anscheinend liegt es noch vor Hastings auf der anderen Straßenseite.«

Fast hätte sie gefragt, ob sie sich das denn leisten konnten, doch dann entschied sie, dass ihr das völlig gleichgültig war.

Der bloße Gedanke an eine heiße Dusche und ein weiches Bett war viel zu verlockend. Sie straffte die Schultern, streckte sich, so gut es ging, und spürte ihre Verspannung. Ja, eine heiße Dusche und eine Mütze Schlaf, und die Welt sähe schon wieder besser aus. Und morgen? Was kümmerte es sie jetzt, was morgen war?

Melanie spürte das Gefühl der Erleichterung, als sie endlich das erleuchtete Schild des Motels selbst auf der linken Straßenseite sah.

»Halt nicht direkt vor der Rezeption an, lieber da drüben, wo es nicht so hell ist.« Jared kommandierte sie bereits wieder herum, aber auch das war ihr jetzt egal. »Trag auf dem Anmeldeformular einen falschen Namen ein und nur zwei Personen. Falls sie eine Adresse haben wollen, denk dir was in Kalifornien aus und sag, wir sind auf dem Weg nach Chicago.«

»Wo denn in Kalifornien?«

»Das ist doch scheißegal, Mel! Lass dir was einfallen. Mein Gott, muss ich dir denn wirklich alles vorkauen?« Er zählte acht Zwanzig-Dollar-Noten ab und reichte sie ihr über die Sitzlehne. »Mehr dürfte es wohl nicht kosten.«

Sie sah auf das Bündel Scheine, das er noch in der Hand hielt, und schätzte, dass es mehr als vierhundert Dollar waren.

Sie vermutete, dass er die Kasse an der Tankstelle ausgeräumt hatte, fragte aber nicht nach und stieg aus.

Die Rezeption des Motels wirkte hell und freundlich.

Neben der Anmeldung befand sich eine kleine Sitzecke, und als sie eintrat, stieg Melanie Kaffeeduft in die Nase. Sie drehte sich kurz um, um zu prüfen, ob der Taurus von hier aus zu sehen war. Nein, sie hatte ihn so abgestellt, dass er in der Dunkelheit quasi unsichtbar war.

»Meine Güte, das duftet ja gut«, sagte sie. Der junge Mann hinter dem Tresen sah auf, offenbar erfreut, dass er jemanden zum Reden hatte. Der Parkplatz war ziemlich leer, anscheinend hatte er bislang eine ruhige Nacht gehabt und langweilte sich.

»Bedienen Sie sich. Ich habe ihn gerade frisch gemacht. Brauchen Sie ein Zimmer?« fragte er und stand von seinem Schreibtisch auf.

Ihr einziger Gedanke galt dem Kaffee. Es war lange her, zu lange, seit sie die letzte Tasse getrunken hatte.

»Ma'am, brauchen Sie ein Zimmer für heute Nacht?«

»Entschuldigen Sie. Ja, ein Zimmer.«

»Einzel- oder Doppelzimmer?«

»Doppel. Wir sind nur zu zweit.« Sie sah ihm prüfend ins Gesicht. Hatte sie das zu auffällig betont? Aber ihm schien nichts aufgefallen zu sein.

Sie sah das kleine Fernsehgerät hinter dem Tresen und dann auf die Wanduhr darüber. Sie zeigte noch nicht ganz zehn. Gleich würden die Nachrichten kommen, und davon wollte sie lieber nichts mitkriegen. Sie fragte sich, ob die Polizei vielleicht das Personal der Motels und Hotels aufgefordert hatte, Verdächtige zu melden. Aber was machte jemanden zum Verdächtigen?

»Raucher oder Nichtraucher?«

Die Frage riss sie aus ihren Gedanken. »Nichtraucher«, sagte sie aus Gewohnheit und bedauerte plötzlich, dass sie die Zigarettenpackung in dem Chevy gelassen hatte. Das Nikotin würde sie jetzt sicher beruhigen.

»Wenn Sie bitte dieses Formular ausfüllen würden. Wie wollen Sie bezahlen?« Er schob ihr einen Block zu und legte einen Stift darauf.

»Bar«, erwiderte sie, füllte das Anmeldeformular aus und ließ sich nicht anmerken, welche Anstrengung sie das kostete.

Sie wusste, dass es immer das Beste war, die anderen reden zu lassen. Halt die Klappe und gib nicht zu viel von dir preis, sonst erinnern sich die Leute später an dich. Ihre Strategie war es, sich unauffällig zu verhalten. Und heute fiel es ihr wirklich nicht schwer, die Rolle einer übermüdeten und wortkargen Reisenden zu spielen.

»Das macht vierundsiebzig Dollar neunzig. Kaffee bekommen Sie hier rund um die Uhr. Der ist im Preis inbegriffen, genau wie das Frühstück morgens von sechs bis halb zehn.« Er deutete auf den Frühstücksraum, zählte das Wechselgeld ab, überflog dann mit einem Blick ihre Angaben auf dem Anmeldeformular und legte es in eine Ablage.

»Hier ist Ihr Schlüssel. Ich zeige Ihnen, wo Ihr Zimmer liegt.« Er zog einen Plan des Motels hervor und zeigte auf die Ecke eines Gebäudes. »Wir sind jetzt hier. Sie fahren um das Haus herum nach hinten, und Ihre Tür ist dann die vierte von Norden aus gesehen. Haben Sie noch Fragen?«

»Kann ich mir später noch einen Kaffee holen?«

»Aber sicher. Jedes Zimmer hat auch eine Tür zum Flur.

Sie müssen also nicht außen um das Haus herumgehen. Ich bin die ganze Nacht hier.« Er lächelte sie freundlich an.

»Okay.« Sie wandte sich um und ging auf die Tür zu. Dann verharrte sie und blickte über die Schulter zurück: »Danke.«