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Indie

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In meinen Augen brennt noch die Hitze, ich kann meinen Blick nicht von dem großartigen Bild abwenden. Es ist ein ergreifender Moment, die befreite Lilli-Thi, die sich von der Erde löst, zurückkehrt in ihre Ungebundenheit. Über uns regnen ihre schwarzen Federn herab, sie flüstern uns ihre Geschichte zu, die Geschichte von Abhängigkeit und Unterdrückung, und ihr Happy End, das in der unendlichen Weite des Himmels stattfindet.

Eine Bewegung neben mir lässt mich zusammenzucken. Gabe hat sich auf Sam gestürzt. Zunächst verstehe ich nicht, weshalb. Sam hat verspielt, wir haben gewonnen. Auch meine Seele wird ihm jetzt nichts nützen. Beide rollen sich auf dem Boden, Sams ausgestreckte Hand zeigt mir die Antwort. Er will meine Beretta erreichen, die dort im Staub liegt, und sich seines irdischen Körpers entledigen.

Zum ersten Mal sehe ich in seinem Blick etwas anderes als amüsierte Selbstsicherheit.

»Waffen runter«, höre ich leise eine Hüterin sagen.

Ist es Dorrotya? Auch sie starren nur paralysiert auf die Szene.

»Es ist nicht zu Ende!«, kreischt er wie irre los. »Es ist nicht zu Ende. Es ist nicht zu Ende!«

Hilflos sehen wir erst zu, wie Gabe ihn davon abhält, die Waffe zu nehmen.

Dann stürzen auch Dawna und ich gleichzeitig nach vorne, packen Sam rechts und links an den Armen.

»Es ist nicht zu Ende«, schreit er schon wieder und versucht, sich aus unserem Griff zu befreien, seine Stimme überschlägt sich.

»Indie«, flüstert Mum und sie hält etwas in der Hand, das sie mir zuwerfen will.

Einen Dämon kann man nicht töten, sagt Dawnas Stimme in meinem Kopf. Lilli-Thi ist schon lange nicht mehr zu sehen. Geschickt wirft Mum mir etwas zu und ich fange es mit meiner linken Hand auf.

Der potthässliche Schlüsselanhänger, den sie von Shantani geschenkt bekommen hatte, bei seiner Ankunft auf Whistling Wing, und den sie anscheinend noch immer mit sich herumschleppt. Io te protessa steht auf dem rosa Anhänger mit dem gesichtslosen Engel. Es scheint Jahrhunderte her zu sein, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Dabei war es letzten August, damals, als Shantani sein Werk vollenden wollte.

Granny hatte in allem recht. Sie hat die Prophezeiung richtig interpretiert, hat sich nicht abbringen lassen von dem, was sie tun musste. Sie hat ihren Tod in Kauf genommen, genauso wie ihre Schwester Emma ihren Tod in Kauf genommen hat.

Der Kreis wird sich jetzt schließen. Shantani hat uns gefunden. Der Verführer hat mich verführt. Der Händler hat seinen Job erledigt. Und jetzt werden wir unseren Job erledigen.

Aber wir werden frei sein. Während meine Faust den Tankstellenengel umschließt, höre ich Grannys Stimme.

Wir sind Hüterinnen. Wir sind dazu geboren, das Tor der Engel mit unserem Leben zu beschützen. Das ist unsere Aufgabe. Von Generation zu Generation weitergegeben. Von Jahrhundert zu Jahrhundert. Von Frau zu Frau.

Und diese Bestimmung werden wir brechen. Ihr werdet die letzten Hüterinnen sein. Wir werden uns befreien. Wir. Werden. Frei. Sein.

Ja, Granny. Die Bestimmung werden wir jetzt brechen.

»Du hast recht, Sam. Es ist noch nicht zu Ende«, sage ich und plötzlich wehrt er sich nicht mehr. »Denn wir werden uns befreien. Wir werden uns endgültig befreien, wir werden all die Hüterinnen befreien, die ihr Leben dieser Aufgabe geopfert haben. Wir werden frei sein. Die Menschen werden frei sein.«

Sam beginnt wieder zu lachen. Es klingt nicht mehr amüsiert, sondern böse und wahnsinnig. Er sammelt seine Kräfte, um uns abzuschütteln, sich von seinem Körper zu lösen, um wieder die Jahrhunderte zu überdauern und Leid und Abhängigkeit über uns zu bringen.

Man kann sie bannen, flüstert Granny in meinem Kopf, wenn man die Macht dazu hat. Und das weiß man nicht, wenn man vor ihnen steht. Es ist wie ein Spiel. Ein Kinderspiel. Aber du weißt nie, wie es ausgeht.

»Nein. Tut das nicht«, keucht Kat entsetzt auf. »Ihr könnt ihn nicht bannen …«

Ich werfe Dawna einen Blick zu, wir sehen uns nur an. Das ist die Prüfung.

Das ist die Prüfung, ob wir wirklich die Besten der Besten sind. Die Mächtigsten der Mächtigen. Samael ist der mächtigste Dämon, den es jemals gab, ihn zu bannen, erfordert eine unvorstellbare Kraft. Dies ist nichts, was uns jemals gelehrt wurde. Dies ist nichts, was man lernen kann.

»Tut es nicht …«, höre ich den gleichzeitigen Schrei von Jools und Felicia.

Ich packe Dawnas Hand und jetzt bilden wir einen Kreis, Dawna, Sam und ich. In seinen Augen spiegelt sich das Universum, der Wahnsinn und das Böse. Eine unglaubliche Macht fließt durch meinen Arm. Es zerrt an mir, es zerrt an meiner Vogelnarbe. Asche wirbelt durch meine Gedanken, Asche und Staub und gleichzeitig fühlt sich meine Narbe zum Zerreißen gespannt an, als würde sie platzen und das, was mich ausmacht, hinauspusten in die Unendlichkeit.

Der Tankstellenengel erhitzt sich in meiner Hand, es tut weh, aber ich lasse ihn nicht los.

Wenn es gut ausgeht, ist der Dämon gebannt und du wirst durch seine Hitze spüren, dass es funktioniert hat. Dieses Ding wird seine Hitze noch tagelang ausstrahlen. Monate. Manchmal Jahre. Je nachdem, wie mächtig der dunkle Engel war.

Das Gefühl ist schrecklich, ein Wesen, das sich für kurze Zeit mit meinem Wesen verbindet, ein Sein, das es nicht geben sollte, fließt durch mich hindurch bis in meine Hand. Die Hitze wird so unerträglich, dass ich die Hand öffnen muss. Rot glühend rollt der Engel in den Sand und noch immer scheinen Sams Worte in der Luft zu hängen.

»Es ist noch nicht zu Ende!«

Doch. Es ist zu Ende, Sam.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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