Dawna
Emma streicht mir kurz über die Wange, bevor sie sich umdreht und mit Indie den Trampelpfad zurück nach Whistling Wing geht.
»Ich will ein bisschen alleine sein.«
Sie nickt, als könnte sie mich genau verstehen. Weit über uns kreist immer noch Lilli-Thi. Von hier unten sieht sie aus wie ein großer, schlanker Raubvogel. Langsam gehe ich hinunter zum See. Unser Badeplatz. Leer und still ist es hier. Ich vermisse Indies Lachen, wenn sie ins Wasser läuft, untertaucht und prustend wieder hochkommt, über und über voller kleiner Wasserpflanzen. Es ist, als wäre dies alles nur ein Traum, den man im Morgengrauen vergessen hat, aber man wundert sich, weil man mit einem Lächeln im Gesicht aufwacht.
Wie im letzten Sommer setze ich mich ans Ufer und streife die Schuhe ab, vorsichtig teste ich die Temperatur des Wassers, es ist kühl, es braucht noch einige heiße Tage, bis es warm genug zum Baden ist. Tage, die wir vielleicht nicht mehr erleben werden. Ich muss an das denken, was Emma uns gesagt hat, dass die Prophezeiung neu gedeutet werden muss. Langsam glaube ich, dass die Prophezeiung auf hundert verschiedene Arten interpretiert werden kann. Und wir haben keine Zeit mehr. Ich lasse mich zurück ins Gras sinken und suche den Himmel nach Lilli-Thi ab, doch nun ist sie verschwunden. Wolken treiben über mir, bauchig, als könnten sie Regen bringen.
… Doch seid klug und deutet die Zeichen, die eine muss wachen, sie darf nicht weichen, es ist an ihr, es zu erkennen, das Böse mutig beim Namen zu nennen. Zu wissen, dass alles in ihrer Hand, die Schwester, die Töchter, das ganze Land …
Hatte Lucille St. Fleurs tatsächlich Victoria damit angesprochen? Welcher Absatz ließ Victoria erkennen, dass sie es sein musste? Erkannte sie sich, als die Wölfe ins Spiel kamen, weil sie selbst einen Wolf liebte? Doch nicht nur Victoria wird angesprochen. Die Wechsel sind schnell und ohne Erkennungszeichen.
… Sie hat den Mut, sich von allem zu lösen, sie verbindet sich mit der Kraft des Bösen. Aus dieser Verbindung gehen hervor, die, die schließen das Engelstor. Die mächtigsten Hüterinnen, die jemals geboren an keinem von vielen Engelstoren …
Damit muss Granny gemeint sein. Sie wusste von Victoria, was passieren würde, sie wusste, dass ihre Tochter Vic die Kinder der Dunklen gebären würde. Indie und mich.
Sie sorgte dafür, dass Mum den Dunklen traf und sich in ihn verliebte, sie löste sich vom Orden, sie widersetze sich den Regeln, obwohl es ein scheinbar hoffnungsloses Unterfangen war. Dann springt der Text zurück in Victorias Zeit. Sie wird den Vertrag erzwingen, den Vertrag mit den Wölfen.
Die Sonne wandert über den Himmel und ich lege mir den Arm über die Augen, so hell ist es. Das Plätschern des Wassers verbindet sich mit meinen Gedanken. Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen ineinander.
… Ihre Ahnin wird den Vertrag erzwingen, das ist nur eines von fünf Dingen. Gegen Zweifler wird sie unbeugsam sein, furchtlos wahren Täuschung und Schein. Geduldig wird sie die Töchter lehren, nie wird ihr Herz einen Liebsten begehren …
Dieser Absatz trifft auf Victoria und Granny gleichermaßen zu. Beide waren unbeugsam, gemeinsam heckten sie den Plan aus, in dem sie Lilli-Thi und die Engel mit Emmas Tod täuschten. Beide hielten sich vom Orden fern und lehrten ihre Töchter sowie deren Töchter, was sie wissen mussten. Und beide hatten nie geliebt. Aber nein. Beide liebten einen Wolf und beide mussten ihn gehen lassen.
… Die Schwester und Töchter weit fortgeschickt, sie nie mehr ihr geliebtes Antlitz erblickt, einsam wird sie finden den Tod, die Töchter überlässt sie der Angst und der Not …
Wie konnte Granny nur über so viele Jahre an ihrem Plan festhalten, wenn sie doch wusste, dass sie das Ende nicht mehr erleben würde, wenn sie wusste, dass sie alle, die sie liebte, nie mehr wiedersehen würde? Dieser Gedanke ist unerträglich und wird auch nur durch das Wissen etwas gemildert, dass sie Diego um sich hatte. Den treuen Diego, der immer zu ihr stand, so wie er auch jetzt an unserer Seite ist. Und doch musste sie alleine sterben, alleine ihrem Tod begegnen. Alleine auf Sam warten, der an einem heißen Sommertag zu ihr kommen würde.
Ich atme tief durch, um diese Gedanken abzustreifen. Es ist so sinnlos, es ist so verrückt. Wir alle sind an diesem Punkt der Geschichte gestrandet, um sie nun zu Ende zu bringen. Die letzten Strophen betreffen Indie und mich. Hätten wir weniger Fehler begangen, wenn wir früher um die Prophezeiung gewusst hätten? Hatte Shantani mit dem Buch der Schatten, das er aus dem Schließfach in Milwaukee genommen hatte, auch die Prophezeiung vernichtet, die Granny uns hinterlassen hatte? Granny, die für alles gesorgt hatte, konnte doch nicht etwas so Wesentliches vergessen. Einen Teil der nächsten Strophe hatte uns die Comtesse gesagt. Wenn sie auch nicht alles wusste, an einige dieser Zeilen konnte sie sich erinnern.
… Habt acht, diese Worte sollen euch nützen, euch in der Stunde des Kampfes beschützen:
Der Sucher soll sie finden, der Verführer soll sie binden, die Dienerin hält die Hüterin ab, der Händler bringt ihr Liebstes zu Grab …
Damit wollte uns Lucille St. Fleurs warnen. Sie wollte uns Hilfe mit an die Seite geben. Trotzdem hatten Indie und ich uns verliebt. Indie in den Verführer. Ich in den Jungen, den Sam als Pfand benützen sollte. Miley.
Wir konnten Mum nicht schützen. … Der Händler gelangt durch die Mutter zur Kraft … An dieser Stelle war uns ein weiterer Fehler unterlaufen. Zu wenig Bedeutung hatten wir dieser Zeile zukommen lassen, nachdem Shantani tot war. Die Gefahr schien gebannt, doch stattdessen lieferten wir Mum aus. Unwissend und naiv. Wie wenig waren wir wirklich darauf vorbereitet, was kommen würde …
Nun steht nur noch die letzte Strophe aus. Alles ist passiert, alles liegt in der Vergangenheit. Nur noch die letzten Worte stehen zwischen uns und der Erfüllung der Prophezeiung. Und die Zeichen sind schlecht. Wir konnten den Pakt nicht erneuern. Es gibt keine Wölfe außer Diego und Dusk, die sich mit uns gegen das Böse stemmen. Die Hüterinnen sind nicht hinter uns. Selbst Kat und Miss Anderson zweifeln. Und auch wenn sie mit ihrer ganzen Kraft auf unserer Seite wären, wäre das nicht genug, um gegen Hunderte von Dunklen und Azrael zu kämpfen.
… Erneuert das Wissen, den Pakt und die Macht, traut denen, die wandeln als Wolf in der Nacht. Seht auf das Zeichen in eurer Hand, das Auge zeigt, wer ist euch verwandt. Gemeinsam mit ihnen werdet ihr stehn, drei Frauen werden ihm in die Augen sehn.
Wie sollen wir Azrael gegenübertreten, wenn Emma tatsächlich stirbt? Lucille St. Fleurs hatte drei Frauen gesehen. Nur aus diesem Grund hatten Victoria und Granny beschlossen, Emma zu verstecken, sie zu schützen, bis sie uns initiieren konnte und mit uns gemeinsam … ich denke nicht weiter, ich verbiete mir, daran zu glauben, was Emma gesagt hatte. Sie erholt sich von Tag zu Tag. Seit sie zurück auf Whistling Wing ist, hat sie neue Kraft geschöpft, als würde die Erinnerung an glückliche Zeiten sie gesund machen. Vielleicht hatte Lilli-This Aufzeichnung, zu der ich sie im Winterlager gezwungen hatte, keine Kraft. Genauso wie Emmas Fälschung ihres Todesdatums keine Kraft hatte. Sie konnten es vorher nicht wissen. Sie konnten nur handeln und hoffen, dass sich alles zum Guten wenden würde.
… Am Grabe holt euch der Nachtwind ein, er soll euer stärkster Verbündeter sein. So flüstere ich diese Worte nur, der Tod ist so nahe, die blutige Spur, beginnt hier und heute in uralter Zeit, sein Griff ist so eisig, sein Atem so weit …
Das Ende des Gedichts gibt keinen Hinweis auf das, was geschehen wird, ob es ein gutes Ende nimmt oder ein schlechtes. Ich flüstere die letzten Zeilen und horche in mich hinein, doch nichts passiert. Nichts.
Ein Rascheln lässt mich zusammenzucken und ich richte mich auf. Ich erwarte Indie, die sich Sorgen macht, wo ich so lange bleibe, doch stattdessen mache ich einen silbrigen Schatten zwischen den Pappeln aus, dann tritt Dusk auf den kleinen Platz. Schon lange habe ich ihn nicht mehr in seiner Wolfsgestalt gesehen. Er kommt zu mir und ich vergrabe meine Hände in seinen dichten Pelz. Ich muss an unsere Begegnung denken, nachts, als ich noch nicht wusste, wer er war, als er verletzt dalag und ich Angst vor ihm hatte und mich trotzdem gleichzeitig zu ihm hingezogen fühlte.
»Dusk«, flüstere ich und er legt sich neben mich und spendet mir mit seiner Wärme Trost und Geborgenheit. So wie vor langer Zeit, als ich an Diegos Wolfsbauch geschmiegt einschlief, vor langer Zeit, als Granny noch über uns wachte und alles lenkte.
Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und sein Herzschlag mischt sich mit meinem.
»Dawna«, glaube ich, Grannys Stimme zu hören, »mein Wolfsmädchen …«
Wir stehen in Grannys Zimmer, das Zimmer, das bis vor wenigen Tagen Mum und Emma zusammen bewohnt haben. Emma reicht mir wortlos meine schwarze enge Trainingshose und ich schlüpfe hinein. Durch das Fenster sehe ich nur noch die Rücklichter von Sidneys Navara, das Motorengeräusch entfernt sich und hinterlässt ein angstvolles Kribbeln in meinem Bauch, durch das offene Fenster hören wir es, bis es weit hinter der Gärtnerei in der Dunkelheit verklingt.
»Die Gärtnerei. Das Wegekreuz.« Emma greift hinter sich und reicht mir nun auch die Trainingsjacke. Unten schlägt eine Tür und ich trete ans Fenster. Sidney, Eve, Beebee und Tara treten auf die Veranda. Sidneys Stimme hört sich aufgeregt an. Sie läuft einige Schritte über den Hof. Der aufsteigende Mond fängt sie mit sanftem Licht ein. Schließlich bleibt sie mit hängenden Armen stehen, den Blick in die Richtung, in der ihr Auto verschwunden ist. Der Staub legt sich, mehrere Atemzüge steht sie einfach nur da. Emma legt mir behutsam den Waffen-Hüftgürtel um. Er fühlt sich schwer an. Sie schließt die Schnalle, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Sie verrutscht ihn ein kleines Stück, bis er perfekt auf meinen Hüftknochen sitzt.
Ich sehe, wie Sidney zögernd zurück zum Haus geht. Dann bückt sie sich an der Stelle, an der der Navara gestanden hat, und hebt den gefalteten Zettel auf. Die anderen Frauen umringen sie, während sie den Zettel auseinanderfaltet, erst zögernd, dann hastig, mit zitternden Fingern streicht sie ihn glatt und liest, während der Wind im Himbeerbaum flüstert.
Ich nehme das Schulterholster in Empfang und lege es an. Meine Gefühle sind komplett ausgeschaltet, selbst die Gedanken an das, was jetzt kommt, sitzen nur noch als ungutes Gefühl im Bauch. Wir haben keine andere Wahl, denke ich und ignoriere den Knoten im Magen.
Hinter mir tritt Kat in mein Zimmer, auch sie ist schwer bewaffnet. Wir tauschen nur einen kurzen Blick, noch ist es zu früh, um loszufahren. Emma reicht mir die Glock, streicht mir die Haare zurück und windet sie geschickt zu einem strengen Knoten, der mich beim Kampf nicht stören wird. Ihre Hände sind sanft, aber bestimmt, kräftig, trotz ihres Alters.
Der entsetzte Laut, der fast synchron aus Sidneys, Eves und Beebees Mund kommt, bohrt sich in mein Herz. Sidney lässt den Zettel fallen und nimmt Eve und Beebee an den Händen. Gemeinsam laufen sie ins Haus, ich höre ihre eiligen Schritte auf der Treppe.
Draußen bückt sich Tara nach dem Papier, wir treten einen Schritt zurück, damit sie uns nicht am Fenster erkennt, doch sie sieht nicht zu uns hinauf. Eine atemlose Sekunde lang warten wir darauf, was sie macht. Kurz verharrt sie so, mit dem Zettel in der Hand, doch dann dreht sie sich um und läuft los, erst langsam. Dann schneller und schneller. Sie verlässt Whistling Wing, vermutlich für immer, und jeder Schritt bringt sie näher nach New Corbie, zum Motel und zu denjenigen, zu denen sie gehört.
»Verräterin«, flüstert Emma. Ihre Hände ruhen auf meinen Schultern.
Sidneys Schritte kommen näher, ohne anzuklopfen, wird die Tür aufgerissen und Sidney stürzt herein.
»Eine Nachricht. Von Indie!«, stößt sie hervor. »Sie will alles alleine zu Ende bringen, um Vic zu retten! Sie will das Tor endgültig schließen! Sie will sich töten!«