16

Dawna

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Die les Fleurs üben sich nicht nur im Laufen und Schießen. Sie sind auch exzellente Savate-Boxe-Française-Kämpfer. Ursprünglich wurde diese Kampfkunst von den Seeleuten in Marseille ausgeübt. Das Savate ist bekannt für seine Brutalität. Es war in den Wirren der vergangenen Jahrhunderte dazu entwickelt worden, auf Frankreichs Straßen zu überleben. Aber die Les Fleurs haben die Techniken noch verfeinert.

Miss Andersons Stimme scheint meinen Kopf nicht mehr zu verlassen. Ich sehe während des Laufens auf meine Armbanduhr. Eine Stunde Lauftraining, hat sie gesagt. Dann treffen wir uns bei den Kiesgruben.

Die Grundstellung beim Savate Boxe Française entspricht der im englischen Boxen. Aus dieser Stellung können gleichberechtigt alle zur Verfügung stehenden Waffen, vordere und hintere Hand, vorderes und hinteres Bein, eingesetzt werden. Erlaubte Trefferflächen sind: mit den Händen wie auch beim englischen Boxen Kopf vorne und seitlich, Rumpf vorne und seitlich. Mit den Beinen darf der gesamte Körper, Kopf, Rumpf inklusive Rücken, Beine des Gegners getroffen werden. Eine Ausnahme ist das Genick, der Kehlkopf und der Genitalbereich. Getroffen werden darf nur mit der Vorderseite des Boxhandschuhs und dem Fuß. Dies gilt selbstverständlich nur für das Training.

Wenn ich es bis New Corbie schaffen will, muss ich an Tempo gewaltig zulegen. Ich laufe durch das Kiefernwäldchen, an der Gärtnerei vorbei und dann auf das Brachland hinaus. Das Holster am Oberschenkel spüre ich kaum noch. Ich sehe weder nach links noch nach rechts. In der Ebene beschleunige ich mein Tempo. Ich atme die kalte Luft tief in meine Lungen und spüre jeden Schritt federnd durch meinen ganzen Körper schwingen.

Als Trefferebenen bezeichnet man: ligne haute figure, den Kopf. Ligne mediane corps, die Mitte, ligne bas jambe, die Beine.

Ich weiß nicht, warum ich mir all das sofort einpräge. Ich wünschte, Miss Andersons Stimme würde endlich schweigen. Endlich still sein. Doch stattdessen begleitet sie mich bis in meine Träume. Wieder blicke ich auf meine Uhr. Noch zu langsam. Immer noch. Ich spüre, wie mir der Schweiß über den Bauch läuft und mein T-Shirt an meiner Haut kleben lässt.

Tritte sind gesprungen und gedreht, mit beiden Beinen und in jeder Trefferebene. Zwei Ausnahmen sind möglich: Revers frontal, normalerweise nur gegen den Kopf, und der Coup de pied bas, nur bis Kniehöhe.

Ich fluche innerlich. Der gefrorene Boden knirscht unter meinen Füßen und mein Atem rast. Ich mag nicht mehr, denke ich, ich habe es satt. Ich will nicht mehr. Sie ziehen an meinen Beinen, diese Gedanken. Sie lassen mich langsamer laufen statt schneller. Ich schlängle mich durch den Wacholder und taste mit meiner rechten Hand nach der Glock. Soll nur einer kommen. Soll nur jemand versuchen, mich aufzuhalten.

Die Faustschläge kann man sich einfach einprägen. Uppercut: Aufwärtshaken. Direct: Gerade. Crochet: Haken. Und Swing: Schwinger. Wiederhole es, Dawna.

Dusk oder die Comtesse. Oder Miss Anderson. Sie können mich nicht aufhalten. Jetzt spüre ich, wie mein Tempo an Fahrt gewinnt. Ich denke an Miley. Wie er mich umarmt. An seine Küsse, an seinen nackten Körper und sein Haar, nass und glänzend. Der Boden fliegt unter meinen Füßen und plötzlich scheint mich die kalte Luft auszufüllen und mit Energie vollzupumpen. Alle Mühe fällt von mir ab. Alles ist leicht, alles fließt. Mein Rhythmus ist der Rhythmus der Erde, auf der ich laufe. Mein Rhythmus ist die Kraft des Windes und das Strahlen der Sonne. Mein Rhythmus ist der Mond, der als dünne Sichel am Himmel steht. Ich bin so leicht, dass ich schreien könnte. Der Modifikationspunkt. Ich habe ihn erreicht.

»Ich wusste, dass du kommen würdest.«

Nawal steht vor dem Garagentor, und obwohl sie noch kleiner und zierlicher wirkt als bei unserem letzten Besuch, bleibe ich vor ihr stehen, anstatt das Garagentor aufzureißen und in Mileys Zimmer zu stürmen.

»Schickt dich Kalo vor?«, frage ich.

Nawal nickt.

»Es geht nicht um Miley«, sage ich und höre auf meinen Herzschlag, der komischerweise sehr ruhig ist, »es geht um das Messer.«

Nawal sieht mich fragend an. Um ihre Schultern ist ein wollenes Tuch gewickelt. Ihr Haar ist zu einem dicken Zopf gebunden und die Katzen drängen sich, wie beim letzten Mal, um ihre Beine.

»Rag hat es«, sage ich, »du musst mir helfen.«

Nawal schweigt, weicht aber meinem Blick nicht aus.

»Ich bitte dich, dass du mir hilfst«, sage ich.

»Komm zum Club«, flüstert sie, »morgen Nacht.«

Ich sehe kurz zu Mileys Fenster hinauf. Dann lasse ich den Zettel fallen.

Wieder blickt Miss Anderson auf ihre Armbanduhr, als ich über die Kiesfläche auf sie zulaufe. In einer alten, krüppeligen Weide hat sie einen Sack aufgehängt. Aus der Entfernung sieht es aus, als würde dort irgendetwas Totes hängen. Als ich vor ihr stehe, drückt sie den Stoppknopf.

»Neunundfünfzig Minuten und einundreißig Sekunden«, sagt sie, »du steigerst dich. Schön.«

Ein Motorengeräusch lässt mich über die Schultern blicken. Der Ford Bronco kommt auf uns zu. Er zieht eine Fahne aus Staub und gefrorener Luft hinter sich her. Er holpert über den Kies und bremst vor uns ab. Zuerst steigt Kat aus. Sie trägt eine schwarze, enge Trainingshose, eine passende Jacke und halbhohe Boxerstiefel. Dann steigt Indie zögernd aus. Sie sieht mich nicht an, sondern lehnt sich nur abwartend gegen den Wagen.

»Im Orden durchlaufen die Hüterinnen jeden Tag drei Trainingseinheiten …«

»Laufen, Schießen, Savate«, unterbricht Indie betont gelangweilt Miss Anderson.

»Drei Trainingseinheiten Savate«, beendet Miss Anderson ungerührt ihren Satz, »dabei kämpfen die Schwestern gegen ihre Ausbilderinnen. Savate formt den Geist, den Körper und den Charakter. Es verlangt vollkommene Konzentration. Ein perfekter Kämpfer kann, auch wenn er klein und zierlich ist, einen körperlich überlegenen Gegner mühelos besiegen.«

Kat beginnt, auf der Stelle zu laufen und sich aufzuwärmen, während Miss Anderson vor uns auf und ab geht.

»Die Schläge werden mit größtmöglicher Präzision ausgeführt. Präzision überwindet alle Unterschiede in Größe und Kraft der Gegner. Prägt euch das ein. Ihr seid nicht unterlegen. Niemandem.«

Indie kaut an ihrer Unterlippe. Ich sehe ihrem Gesicht an, dass sie zweifelt. Sie hat Rag vor Augen. Selbst ich habe Rag vor Augen. Hinter den Kiesbergen ballen sich dunkle, schwere Wolken. Es wird Schnee geben. Viel Schnee. Nicht nur das bisschen, das wie Puderzucker alles bestäubt. Es wird so viel Schnee geben, dass die Welt darin versinkt.

»Bei einem deutlich größeren Gegner zielen alle Tritte gegen die Gelenke. Man kann jemandem mit einem präzise ausgeführten Kick mühelos das Knie brechen.«

Kat täuscht ein paar Schläge an und sprintet dann einen der Hügel hinauf. Es sieht unwirklich aus, als würde sie fliegen.

»Macht euch warm!« Miss Anderson blickt schon wieder auf ihre Armbanduhr, als hätten wir es eilig.

»Ich bin warm«, sage ich genervt.

»Dawna«, Miss Andersons Stimme ist noch unterkühlter als sonst, »der erste Lernschritt ist, dass man die Anweisungen seiner Ausbilderin befolgt. Ich erwarte von dir, dass du dich an diese einfache Grundregel hältst.«

Indie ist schon in Bewegung. Sie läuft hinter Kat her, sie scheint keine Mühe mit dem Modifikationspunkt zu haben. Ihre Bewegungen sind leicht und geschmeidig. Ihr rotes Haar weht wie eine gleißende Fahne hinter ihr her, während sie immer mehr an Tempo gewinnt. Sie wirft sich herum und hechtet den Hügel hinunter, immer schneller, bis sie unten auf ihren Füßen landet. Es sieht aus, als hätte sie Spaß. Ich stehe immer noch da.

»Die Engel«, sage ich böse, »die lachen sich doch tot über uns.«

»Das tun sie«, Miss Anderson nickt, »und das ist gut so.«

»Die erste Lektion ist der Chassé Bas.«

Miss Anderson hat sich glatte cremefarbene Lederstiefel mit weicher Sohle angezogen. Sie steht vor mir, während sich Kat vor Indie positioniert. Ich kann Indies Aggression fast körperlich spüren. Die Wolken sind noch dunkler geworden und türmen sich zu bizarren Formationen auf.

»Um den Chassé Bas auszuführen hebt der Kämpfer das Bein und stößt mit der Ferse, dem härtesten Teil seines Stiefels, gegen den Oberschenkel des Gegners. Bei dieser Technik kann die Schubkraft der Hüfte, kombiniert mit der Stoßkraft des Beines, leicht eine Kraft von mehr als dreihundert Kilo auf den Knochen des Gegners ausüben. Der Chassé Bas hält euch den Gegner vom Leib. Und nicht nur das. Er kann ihn sogar zu Fall bringen. Ihr stoßt, dann nehmt ihr das Bein zurück und bringt euch erneut in Position. Versuch es zuerst hier.«

Sie schiebt mich vor den Sack. Aber ich bekomme nicht einmal meinen Fuß in die erforderliche Höhe.

»Der hängt zu weit oben«, erkläre ich.

Miss Anderson nimmt die Arme hoch, macht eine schnelle Bewegung und im nächsten Moment liege ich ausgestreckt auf dem Boden. Mein Oberschenkel schmerzt höllisch. Vielleicht ist er gebrochen.

»Verdammt«, schreie ich los, »musste das sein? Ich dachte, wir trainieren! Ich dachte, wir bringen uns nicht gleich um!«

Gut. Er ist nicht gebrochen. Aber es tut weh. Und noch mehr nervt mich, dass ich vor Miss Anderson und Kat im Dreck liege. Und vor Indie.

»Glaubst du, Raguel interessiert, in welchem Trainingszustand du bist?«, sagt Miss Anderson.

Ich rapple mich auf und reibe mir über den Oberschenkel.

»Das wird ein richtiger blauer Fleck«, setze ich beleidigt hinzu.

Ich werfe Indie einen kurzen Seitenblick zu. Sie bindet sich ihr Haar energisch zu einem straffen Knoten, dann beginnt sie, auf Kat einzutreten. Als hätte sie nur auf die Gelegenheit gewartet, um mal so richtig Dampf abzulassen.

Na klar, Indie, denke ich, das ist ja wieder typisch.

Ich verstehe es selbst nicht, aber ich ärgere mich furchtbar über sie. Dass sie plötzlich einfach mitmacht. Normalerweise sperrt sie sich gegen alles. Warum nicht auch jetzt?

Jeder Tritt sitzt und Kat hat alle Mühe, sie abzufedern. In kürzester Zeit sind beide völlig durchgeschwitzt.

»Versuch es«, sagt Miss Anderson, »und setz deinen Stiefelabsatz ein.«

Ich stelle mich breitbeinig hin, dann trete ich halbherzig zu. Miss Anderson sieht mich streng an.

»Los. Weiter.«

Ich fühle mich beschissen lächerlich. Ich bin kein Kämpfer. Ich habe mich noch nie geprügelt und hatte auch nie vor, es zu tun. Wieder trete ich gegen Miss Andersons Oberschenkel.

»Savate ist eine Kampfkunst des Geistes«, erklärt Miss Anderson, wenig beeindruckt von meinem Tritt. »Savate ist grazil. Elegant. Genauigkeit und vorausschauendes Handeln sichern den Erfolg. Versuch es noch einmal.«

»Kann ich mich nicht auf die mentalen Dinge beschränken?«, sage ich.

»Jede der Schwestern wird genau gleich ausgebildet«, antwortet Miss Anderson, »so steht es im Kodex des Ordens.«

Ich bringe mich in Position und trete diesmal fester. Aber nicht fest genug.

»Gutes Distanzgefühl, gute Kondition, Koordination, Beweglichkeit und Schnelligkeit sind die Voraussetzungen für einen guten Savateur«, sagt Miss Anderson und steht immer noch genauso locker vor mir, als würden wir miteinander Tee trinken und kein Kampfsporttraining absolvieren.

»Kraft ist nur ein geringer Bestandteil«, redet sie weiter, »es geht um Technik und Willen.«

»Es würde mir leichter fallen …«, ich trete einen Schritt zurück und verschränke die Arme vor der Brust.

»Ja, Dawna?«

»Es würde mir entschieden leichter fallen«, sage ich, »wenn Sie nicht in Ihrem Tweedkostüm vor mir stehen würden.«

Kat und Indie hören schwer atmend auf zu kämpfen. Die Wolken öffnen sich über uns und erste dicke Schneeflocken fallen zwischen uns auf den Boden.

»Man darf sich nie von seinem Gegner täuschen lassen«, sagt Miss Anderson, »weder von seinem Äußeren noch von seinem Inneren.«

»Aber ich lasse mich nicht täuschen«, sage ich heftig.

Ich bin erschöpft, möchte ich hinzufügen. Ausgebrannt. Ich habe so viel im Kopf, dass ich nicht mehr weiß, an was ich zuerst denken soll.

»Man darf sich von nichts ablenken lassen«, sagt Miss Anderson, »äußerste Konzentration ist absolute Grundvoraussetzung. Indiana. Tausche mit deiner Schwester den Platz.«

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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