New Corbie, Ende Mai 2013
Zuerst fährt sie zu Sam Rosells Laden. Der Frühling bohrt sich in ihren Rücken, lässt sie schneller und schneller werden, als würde er sie den Highway hinunterjagen. Sie hasst New Corbie. Sie hasst New Corbie, wenn die Sonne von einem blitzblauen Frühlingshimmel hinunterstrahlt, die Luft frisch und würzig ist und der Wind, der gegen ihren Körper schlägt, der Wind des Neuanfangs ist. Vielleicht hasst sie den Frühling sogar noch mehr als New Corbie. Mehr als die Menschen, die dort leben. Mehr als die Mädchen. Er lässt ihr Herz schneller schlagen und sich ihren Geist daran erinnern, woher sie kommt. Aus einem Land, in dem ewiger Frühling herrscht, in dem der Frühling Früchte trägt und kein Herbst, kein Winter alles wegfegt.
Sie stoppt die Duke vor dem Laden, steigt aber nicht ab, sie lässt den Motor sanft grollen und ihren Blick über die Fassade wandern. Der Frühling treibt die Leute vor die Türen. Nur hier ist alles still, der Laden verschlossen, der Platz, an dem früher das Schild hing, ist leer, das Holz darunter dunkler, ein Mahnmal, eine stumme Anklage. Sie wendet sich zur anderen Seite. Auch das Murphy’s Law scheint verschlossen, ein paar Kinder sitzen davor in der Sonne, sie tauschen Spielkarten oder Süßigkeiten. Als eines der Kinder mit dem Finger auf sie zeigt, auf sie oder auf das Motorrad, klappt sie das Visier hinunter und gibt Gas. Die Kinder starren ihr noch lange nach.
Sie durchquert das Brachland, von dem erst vor wenigen Wochen die letzten Schneeflecke getaut sind, jetzt wächst das Gras wild, hüfthoch wogt es im Wind zwischen den Ginsterbüschen, die Ebene wird bald vertrocknen, unbarmherzig, so sicher wie der Tod. Sie lächelt bei dem Gedanken und biegt in den langen, gewundenen Weg nach Whistling Wing ein. Ein riesiger, umgestürzter Hickory liegt am Straßenrand, in ungleiche Stücke zerteilt und von der Natur mit überbordendem Grün zurückerobert. Am Tor stehen drei Frauen, schon aus der Ferne erkennt sie, dass die Mädchen nicht dabei sind. Die Mädchen nicht. Die Mutter nicht. Die Schwester nicht. Sie bremst das Motorrad so spät und heftig, dass sie quer zu den Frauen zu stehen kommt und mit ihrem Knie das Bein der blonden, zierlichen Frau berührt. Zu ihrem Erstaunen weicht diese nicht zurück. Sie sehen sich ruhig an, lange.
»Die Mädchen sind nicht hier«, sagt die Frau schließlich.
Wieder dauert es eine gefühlte Ewigkeit. Die beiden anderen, eine junge Frau in einem geblümten wadenlangen Kleid und eine ältere mit stacheligem grauem Haar, verschränken die Arme vor der Brust, was ihr wieder ein freudloses Lächeln abringt.
»Lilli-Thi«, setzt die ältere hinzu.
»Wo sind sie?« Sie macht eine Bewegung aus, auf der Veranda, und verengt die Augen. Die Wölfe. Ein Weißer. Ein Dunkler. Ihre gelben Augen fixieren sie.
»Dusk«, flüstert sie.
Dann schnellt ihre Hand vor und schließt sich um die Kehle der blonden Frau und drückt zu. Schmerz schießt in ihre Schulter, da, wo das Messer sie verletzt hat, Schmerz, der sich wie eine dunkle Wand in ihr ausbreitet.
»Es wird ihnen nichts nützen«, zischt sie.
Die Wölfe setzen sich in Bewegung, doch ehe sie Lilli-Thi erreichen, lässt sie die Frau los und jagt davon.
Die Wölfe verfolgen sie, bis sie Whistling Wing weit hinter sich gelassen hat.