2

Indie

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Ich wache davon auf, dass die Küchentür aufgerissen wird. Schlagartig bekomme ich Kopfschmerzen. Vergeblich versuche ich, den Traum festzuhalten, aus dem ich gerade hochgeschreckt bin. Ein Traum von Vincenta, der Schwester meiner Ururgroßmutter Victoria, hat sich wie ein Albtaum auf meine Brust gesetzt. Wir sind die Hüterinnen. Wir beugen uns nicht, sagte sie, das schwarze Kleid bauschte sich im Wind, ihr Blick auf etwas gerichtet, das hinter mir war. Etwas, das wahnsinnige Angst in ihr auslöste. Ich gebe dir meine Seele nicht, höre ich es weit entfernt. Es klingt vertraut, aber doch fremd. Ich gebe sie dir nicht …

Mein Blick fällt auf Dawna, die mitten in der Küche steht und deren Gesichtsausdruck eine Mischung aus Panik und Entschlossenheit ist. Zwischen meinen Traum und sie schiebt sich der Gedanke an Gabe, verdrängt alles Negative aus meinem Kopf. Denn nichts ist mehr so wie gestern. Bis zum gestrigen Tag dachte ich, Gabe würde sich immer für die Engel entscheiden und nie für mich. Aber er hat sich zwischen mich und Rag gestellt, er hat sich für die andere Seite entschlossen, für die Seite des Lichts und nicht die der Dunkelheit. Du und ich, denke ich an seine letzten Worte gestern, bevor er dann von den Schüssen der Comtesse vertrieben wurde.

»Miley muss weg«, wispert mir Dawna zu. »Der Leichenwagen muss weg. Komm schon.«

Sie sieht aus, als hätte sie gerade geduscht, und in ihrer Stimme schwingt ein Unterton, den ich nicht an ihr kenne. Ist es Panik? Ja, Mädchen, denke ich und mit diesem Gedanken bin ich wieder brutal im Hier und Jetzt. Genau das sollten wir auch haben. Panik. Riesige Panik. Mega-turbo-gigamäßige Panik. Denn gestern haben wir Samael, den Boss der bösen Engel, entbannt. Er sitzt irgendwo, in welcher Gestalt auch immer, und versucht, die gefallenen Engel wieder um sich zu vereinen. Ihnen einen Auftrag zu geben. Nicht irgendeinen Auftrag. Den Auftrag, uns, die Hüterinnen des Lichts, zu zwingen, das Engelstor zu öffnen, um dem Bösen auf die Welt zu helfen. Um Azrael auf die Welt zu helfen, damit er die Schöpfung vernichten kann.

Er braucht deine Seele, Indie, wispert es tief in mir drin.

»Komm schon. Wir dürfen jetzt nichts falsch machen.« Sie sieht mich beschwörend an. »Ich werde mich von Miley trennen, ich verspreche es dir, und dann …« Sie unterbricht sich abrupt, denn hinter ihr tauchen Miley und Rudy auf. Sie haben die Nacht, nach unserer Flucht vom Friedhof, hier verbracht, aber jetzt sollten wir die beiden wirklich loswerden. Miley hat einen unglaublich besitzergreifenden Blick drauf. Wortlos gehe ich zum Spülbecken und lasse den Wasserstrahl direkt in meinen Mund laufen. Wie jetzt, Dawna will sich von ihrer großen Liebe trennen? Um derenwillen sie gestern bereit gewesen war, die größte vorstellbare Scheiße zu machen, einen Dämon zu entbannen? Dawna steht so dicht neben mir, dass sie mich hin und wieder berührt und mir dadurch das Wasser ins Gesicht spritzt.

»Kat und Miss Anderson sind noch da«, flüstert sie und starrt dabei auf die Veranda hinaus. »Du weißt, was sie wollen.« Ihr Blick schweift zu Miley.

»Ein Platz am Feuerchen?«, frage ich laut, während ich den Wasserhahn abdrehe, und lasse ihre Aussage, dass sie sich von Miley trennt, unkommentiert. Die zwei Frauen haben echt einen Sprung in der Schüssel. Helfen erst Lilli-Thi und ihren Kumpanen und dann wollen sie weiter bei uns wohnen. Unvorstellbar. »Die trauen sich was.« Meine Stimme hört sich dumpf an, weil ich mir das Gesicht an einem Geschirrtuch abtrockne. »Die kommen jetzt einfach hier rein, oder wie?«

Ich hebe meinen Kopf und unsere Blicke treffen sich.

»Indie. Bitte«, flüstert Dawna und sieht mich hypnotisierend an. »Ich darf ihn ihnen nicht ausliefern.«

Ich kann an ihrem Hals sehen, wie ihre Schlagader pulsiert. Kräftig und schnell. Sie spricht nicht weiter, starrt jetzt auf die Küchentür, ihr Gesichtsausdruck verändert sich plötzlich. Von panisch zu wild entschlossen, dann packt sie Mileys Hand, zieht ihn zur Hintertür und schiebt ihn und Rudy hinaus. Ich werfe hastig das Geschirrtuch auf den Tisch. Miley ist das beste Druckmittel, um Dawna dazu zu zwingen, das Engelstor zu öffnen. Und wenn ich raten darf, was Dawna sich gerade zusammengereimt hat, dann meint sie, dass dieser Zusammenhang Kat und Miss Anderson eben in dem Moment auch aufgefallen ist. Ich habe keine Ahnung, was wir den zweien entgegensetzen können. Ich habe keine Ahnung, wer die beiden sind, was sie vorhaben und welche Tricks sie auf Lager haben. Aber eins ist klar, sie wissen, dass wir wissen, dass sie nicht die Guten sind. Dass sie nicht die normalen durchgeknallten Engelssuchenden sind, als die sie sich ausgegeben haben. Dass sie irgendetwas im Schilde führen, von dem wir nicht das Geringste wissen.

»Wieso sonst sollten sie noch da sein?«, scheint Dawna zu wispern, während sie ihre Hand auf die Türklinke legt.

Um uns zu schützen, was sonst, will ich sagen. Weil der bescheuerte Rag seine Aggressionen nicht unter Kontrolle hat, deswegen. Der hätte mich gestern doch glatt allegemacht und dann wär’s aus gewesen für Azrael. Nix mit auf die Welt kommen und die Herrschaft übernehmen. Ohne meine Seele hat er verloren.

Dawna reißt die Küchentür auf, direkt davor stehen die zwei Frauen. Das einzige Geräusch, das man hört, ist der Reißverschluss, den Kat gerade nach unten zieht. Die ungemütliche Stille dehnt sich in die Länge. Kat sieht nicht Dawna an, sondern mich. Ihre Augen verengen sich ein wenig, sie strahlt jede Menge Aggression aus. Nichts mehr mit der freundlichen, gesprächigen Kat. Jetzt bereue ich keine Sekunde lang, mit dem Leichenwagen den Ford Bronco gerammt zu haben. Im Gegenteil, ich finde es richtig schade, dass nicht noch ein paar Stoßstangen und Kotflügel davongeflogen sind.

»Wir müssen los«, sagt Dawna im patzigen Tonfall, während sie mit ihrer noch freien Hand die meine packt.

Die Worte hängen in der Luft, zwischen uns, wir wissen, was es bedeutet. Keine Gesprächsbereitschaft. Die Blicke von Kat und mir verhaken sich, mein Herzschlag explodiert auf einmal.

Du kannst mir nichts, denke ich und verenge auch ein wenig die Augen. Verpiss dich einfach. Ich hab dich durchschaut, kapiert, mit einschleimen ist nichts mehr. Was meint ihr eigentlich, wer ihr seid!

Kats Augen werden noch eine Spur dunkler, wenn das überhaupt geht, und mir ist nicht klar, wie ich sie jemals sympathisch finden konnte. Kat ist eine Kämpferin. Ihre glatte kaffeebraune Haut liegt samtig über stahlharten Muskeln. Ihre seidige dunkle Stimme geht einem runter wie Öl, aber ihre freundlichen Worte sind nichts als Show. Und wenn ich raten dürfte, was sie auf ihrem Unterarm eintätowiert hat, dann käme eine schwarze Feder gleich an erster Stelle. Miss Anderson tritt zur Seite, um uns vorbeizulassen. Kat starrt mich noch immer an, als wir uns an ihnen vorbeidrücken. Ich habe den Eindruck, dass sie eigentlich etwas sagen will, aber sich im letzten Moment doch noch zurückhält.

Nebeneinander stehen drei Autos. Mums Pick-up. Ein roter Ford Bronco. Ein Leichenwagen. Die Sonne hat sich über die federgrauen Wolken geschoben und breitet ein rosa Tuch über den eisgrauen Himmel und unseren weiß behauchten Hof. Es sieht alles wie eingefroren aus, als wäre die Zeit stehen geblieben. Selbst der Leichenwagen, mit dem ich das Friedhofstor umgebügelt und den Ford gerammt habe, sieht dadurch friedlich aus.

»Oh nein«, erklärt Rudy sehr bestimmt, als ich auf den Leichenwagen zugehe, und packt mich bei beiden Schultern. »Ich fahre.«

Ich sehe ihn so cool an, dass ihm wahrscheinlich demnächst die Hände abfallen, mit denen er mich berührt.

»Wir wollen doch nichts riskieren«, grinst er breit und sein Blick schweift eine Sekunde zu lang zur Kühlerhaube des Leichenwagens.

»Seh ich da einen feuchten Fleck an deiner Hose?«, flüstere ich und kneife die Augen zu. »Entspann dich, Rudy. Ich sag’s niemandem.«

»Indie, du bist echt ein Feger.« Er hebt eine Augenbraue und beugt sich noch ein kleines Stückchen nach vorne. »Hab ich dir schon gesagt, dass ich das wirklich mag an dir?«

Wir starren uns einen Augenblick an, er hält noch immer meine Schultern fest.

»Dass du dir in die Hose machst, wenn du mit mir Auto fährst?«, frage ich liebenswürdig nach, während ich ungeduldig seine Hände abschüttle. Hinter uns hupt Miley, der neben Dawna auf dem Beifahrersitz unseres Pick-ups sitzt und Rudy komische Handzeichen gibt, die alles bedeuten könnten. Ich gehe um den Leichenwagen herum, schlage einmal mit der flachen Hand auf die Aufschrift »Joe Sokoloski Funeral Home and Crematory« und setze mich mürrisch auf den Beifahrersitz. Der alte, lang gestreckte Cadillac sieht nach meiner Aktion gestern wirklich scheiße aus. Liebend gerne wäre ich mit Dawna gefahren. Aber bei dem Gespräch mit Miley kann sie mich sicher nicht brauchen.

Scheiße.

Wenn Dawna das mit Miley durchzieht, ihm wirklich den Laufpass gibt, dann bedeutet das natürlich, dass auch mit Gabe Schluss sein muss. Ausgerechnet jetzt. Es ist zum Heulen. Ich schaffe das sowieso nicht, flüstert es in mir. Ich kann ihn jetzt nicht gehen lassen, ich brauche ihn.

Rudy legt krachend den ersten Gang ein und der Leichenwagen hüpft nach vorne.

»Prima«, sage ich und stütze mich mit beiden Händen gegen das Armaturenbrett. »Du bist da ja echt Profi, Junge.«

Er antwortet darauf nicht, sondern sagt: »Das mit diesen Rockern. Das ist kein Spaß, Indie.«

Ach was. Und das mit den dunklen Engeln erst. Das ist ja so was von kein Spaß, dass es nicht zu glauben ist.

»Hey, das hat mich richtig aufgeputscht gestern. Ich hatte schon lange keinen solchen Wahnsinnsspaß«, entgegne ich.

»Wenn die Typen noch am Friedhof rumhängen, sollten wir sehen, dass wir weiterkommen«, schlägt Rudy vor.

»Schade«, sage ich. »Schade, dass Dawna gar nicht zum Friedhof fährt. Sie will das Auto vorm Murphy’s Law abstellen.«

»Okay«, sagt Rudy.

»Aber nur, weil’s näher an der Tanke ist. Ansonsten würden wir gerne am Friedhof abhängen«, mache ich weiter, obwohl ich beim Gedanken an den Friedhof einfach kotzen könnte.

»Okay«, sagt Rudy noch einmal, obwohl er nicht so aussieht, als wäre irgendetwas in seinem Leben okay.

Ich starre durch die Frontscheibe auf die Rücklichter unseres Pickups. Wenn uns der Besitzer dieses Leichenwagens erwischt, dann bedeutet das jede Menge Ärger. Wenn wir Glück haben, können wir den Wagen vor dem Murphy’s Law einfach stehen lassen und uns verdünnisieren.

»Diesem Joe Sokoloski möchte ich jetzt wirklich nicht begegnen«, füge ich noch hinzu. »Du weißt schon. Wegen des Fähnchens, das wir bei unserer letzten Fahrt verloren haben.«

Wir sind gerade aus dem Leichenwagen ausgestiegen, als Morti aus der Kneipe kommt. Morti ist der Besitzer der Tankstelle von New Corbie und ein echtes Arschloch. Wenn man Glück hat, sagt er keinen Ton. Wenn man noch größeres Glück hat, ist er gar nicht in der Tanke und man wird von Rudy oder Vince bedient. Seine dichten schwarzen Augenbrauen ziehen sich eng zusammen, während er von uns zu dem Leichenwagen sieht.

»Wahnsinn«, sage ich an ihn gerichtet und deute auf den Wagen. »Der hat ganz schön was abgekriegt.«

Mein Blick schweift auf die andere Straßenseite, wo Dawna unseren Pick-up geparkt hat und gerade mit unergründlicher Miene auf uns zukommt. Miley bleibt beim Pick-up stehen, seine Augen lassen Dawna nicht los. Rudy stellt sich mit verschränkten Armen und schrägem Kopf neben den Leichenwagen, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, wie demoliert das Auto ist. Morti geht einmal um das Auto herum, wirft mir dann wieder einen grimmigen Blick zu, als wüsste er mehr.

»So. Wir müssen wieder«, sage ich, als der Wind einen leisen Ton an mein Ohr weht. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit und er ist unabänderlich mit Grannys Stimme verbunden. Auf Sam muss man warten können, hat sie immer gesagt. Mein Herzschlag explodiert sofort, ich spüre körperlich, wie das Blut kräftig durch meine Adern rauscht. Sam Rosells Laden. Die Klingel, die ihn aus seinem Liegestuhl in den Laden rief. Hinter mir, an der Tür des Ladens, geschieht etwas.

Er ist wieder da.

Der Gedanke pulsiert in meinem Gehirn und verdrängt alles andere. Den Leichenwagen. Morti. Rudy. Miley.

Er ist wieder da.

Was hat er vor?

Wir haben den dunklen Engeln ihren Anführer zurückgegeben. Der Laden wirkt wie ein Magnet auf mich. Ich muss mich umdrehen, auch wenn ich nicht will.

Es sieht aus wie immer. Die abgerissenen Plakate, die die ganze Frontseite verkleben, sogar die Schrift »Rosell’s General Store«. Die vernagelte Tür. Nein, korrigiere ich mich, die Tür ist nicht mehr vernagelt, sie ist im Wind ein kleines Stück nach innen geschwungen und hat dabei die Ladenklingel ausgelöst. Ein lang gestreckter, heiserer Ton, so vertraut, als würde ich ihn jeden Tag hören. Ein eisiger Schauer rieselt mir über den Rücken, die Beine hinunter bis in die Füße. Auch Dawna hat es gehört, denn sie zuckt zusammen. Ihr Blick bleibt fest auf den Leichenwagen gerichtet und ihre Lippen bewegen sich ein klein wenig, als würde sie mit sich selbst sprechen. Vor der Veranda liegt Müll, einige überquellende Kartons, daran gelehnt eine alte Stoffliege. Sam Rosells alte Sonnenliege, auf denen er seine Tage im Hinterhof verbrachte, betrunken, besinnungslos. Bis zu dem Zeitpunkt, als er dann starb, totgesoffen und besetzt von einem neuen Herrn. Samael. Dem Anführer der dunklen Engel.

Im nächsten Moment tritt ein Glatzkopf aus der Tür. Ich bleibe wie festgewurzelt stehen, kann mich nicht bewegen. Es ist ganz offensichtlich nicht Sam Rosell, trotz der Glatze. Er ist etwas kleiner, aber sein Rücken ist breiter als der von Sam, als wäre er es gewohnt, hart zu arbeiten. Er trägt eine verwaschene Jeans, die fast weiß ist, und ein schwarzes Hemd. Er hält etwas vor seiner Brust, eine große Schachtel. Sie scheint ganz aufgeweicht zu sein und droht, jeden Moment zu zerfallen. Ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden, nicht von der aufgewellten Pappe, die er hält, gefüllt mit Schokolade.

»Hey«, sagt Rudy neben mir. »Wer ist das denn? Der neue Besitzer von Rosells Laden?«

Keiner sagt etwas, aber Rudy hat keine Hemmungen.

»Hey«, schreit Rudy quer über die Straße und hebt grüßend eine Hand. »Nett, Sie zu sehen!«

Scheiße. Rudy hat echt kein Hirn im Kopf.

»Das ist der neue Besitzer vom General Store«, erklärt Rudy, als würde es das besser machen.

In dem Moment löst sich die Schachtel ganz auf und der Inhalt ergießt sich über die Veranda. Der Fremde bückt sich nicht danach, sondern kommt über die Straße zu uns herüber.

High Noon. Ein Cowboy, der die Straße überquert. Seine Hände in der Haltung, als würde er gleich seine Revolver herausziehen. Solche O-Beine, dass man meint, er hätte seit seiner Kindheit nur im Sattel gesessen. Klack, klack, klack machen die Absätze seiner Stiefel auf dem Asphalt. Er hat keine Eile, kommt auf uns zu, als hätte er auf uns gewartet. Jetzt weiß ich auch, dass ich ihn schon einmal gesehen habe, damals, im Murphy’s Law, als wir uns vor Rag in Sicherheit gebracht haben. Dawna tritt einen Schritt näher zu mir, unsere Schultern berühren sich fast.

Er bleibt vor dem Leichenwagen stehen, man sieht ihm nicht an, was er sich denkt, aber ich bin mir hundertprozentig sicher, dass es sein Wagen ist. Ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden, und nachdem er einmal den Wagen umrundet hat, bleibt er direkt vor mir stehen.

»Na«, sagt er und entblößt beim Reden eine Reihe makelloser weißer Zähne. Zwischen den zwei vorderen Schneidezähnen ist eine große Lücke. Seine Stimme ist so rau, als hätte er sein Leben lang zu viel geraucht oder gesoffen. Sein Blick hat etwas seltsam Vertrautes, das mich sofort alarmiert.

»Ist das Ihrer?«, will Rudy wissen und deutet mit dem Kopf auf das Auto.

»Was haben Sie denn damit gemacht, Herr Sokoloski?«, platze ich heraus und könnte mir auf die Zunge beißen.

Sein Blick verhakt sich mit meinem. Er hat grüne Augen, die trotz des bedeckten Himmels strahlen, die sich so intensiv in meine bohren, als könnte er damit in mein Innerstes schauen. Bist du Sam Rosell?, denke ich mir. Los, zeig dich, du elende Ratte.

»Diego Rosell«, sagt der Mann mit seiner rauen Stimme, als hätte er meine Gedanken gespürt. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Ach, Sam Rosells Bruder?«, will Rudy wissen und grinst breit.

Diego antwortet nicht, sieht weiterhin nur mich an.

»Indie Spencer«, antworte ich förmlich. Du weißt das, Junge. Was soll das blöde Herumgerede. Sam Rosells Bruder, was für ein Quatsch.

»Werfen Sie das alles weg?«, fragt Rudy und unterbricht damit die angespannte Stille. »Wenn Sie die Oppossumfallen nicht mehr brauchen, ich hätte da schon Verwendung für …«

Diego deutet wortlos hinter sich, aber er lässt mich nicht aus den Augen, als wolle er sich mein Gesicht einprägen. Mit einem breiten Grinsen geht Rudy über die Straße, um sich anzusehen, was alles auf der Veranda gestapelt ist.

»So, wir müssen dann«, sage ich und packe Dawna am Ärmel. Dawna sieht aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Er kann uns nichts, denke ich mir, aber sie scheint das nicht wahrzunehmen. Der kann uns echt nichts. Er ist nicht Sam Rosell, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Hast du seine Augen gesehen? Seine Augen sind ganz anders, ich bin mir sicher, ich würde es an den Augen erkennen.

Miley schlendert Rudy hinterher.

Endlich interessiert sich Diego Rosell nicht mehr für mich. Er geht vor seinem Wagen in die Hocke und begutachtet die eingedrückte Vorderseite. Morti steht neben ihm, die Hände vor der Brust verschränkt und die Augenbrauen gerunzelt.

»Lass uns gehen«, zische ich Dawna zu. »Pack deinen Miley und los geht’s.«

Stumm dreht sie sich von mir weg, geht mit mir über die Straße. Während Dawna Miley zu überzeugen versucht, dass er sich von uns zu seiner Mutter bringen lässt, bleibe ich vor dem Gerümpel stehen. Auf der Veranda liegen noch die Schokoladenriegel, die in dem zerplatzten Karton gewesen waren. Der Anblick erzeugt ein Schwindelgefühl hinter meinen Augen und ich habe plötzlich den Geschmack von alter Schokolade auf meiner Zunge. Sam Rosells Sonnenliege lehnt halb über einer Schachtel mit Papier und einer alten Decke. Sonnenliege. Ich habe sofort wieder das Bild vor Augen. Der Keller von Rosell’s General Store. Die Sonnenliege. Die Decke. Die Coke. Und die Blätter. Die Blätter mit den Zahlen, die kleine ordentliche Schrift. Irrsinnig klein, lauter Zahlen, Zahlen, Zahlen. Kolonnen von Zahlen. Ich beuge mich über den Karton mit Papier und mir wird sofort richtig schwindelig, als ich sehe, was es ist. Diego Rosell hat anscheinend das Kellerabteil ausgeräumt und will die Blätter mit den Zahlen wegwerfen.

Die Zahlen sind genauso winzig, wie ich sie in Erinnerung habe. Hier draußen im Tageslicht kann man es viel besser erkennen als drunten im Keller. Denn plötzlich fällt mir auf, dass es nicht nur Zahlen sind, sondern elend klein auch Zeichen.

Zeichen.

Nicht irgendwelche Zeichen, chinesische Schriftzeichen, in regelmäßigen Abständen. Als hätte sich jemand die Mühe gemacht, ein Blatt zu verzieren. Es sieht aus wie ein Schmuckblatt, als würden die Zahlen und Zeichen keinen Sinn ergeben, als hätte jemand, ohne darüber nachzudenken, irgendetwas aufgeschrieben. Zahl. Zahl. Zahl. Chinesisches Zeichen. Und wieder. Zahl. Zahl. Zahl. Chinesisches Zeichen.

»Lass uns jetzt gehen«, sagt Dawna, so nahe neben mir, dass ich erschrecke.

»Die ist noch voll in Ordnung«, stellt Rudy fest und klemmt sich eine Lebendfalle unter den Arm. »Der spinnt doch, so was wegzuwerfen. Andere Leute würden sich drum reißen.«

»Scheiße«, sage ich. Ich fühle mich, als wäre ich gerade aus einer festen Trance erwacht, den schalen Geschmack einer langen, unruhigen Nacht auf den Lippen.

Chinesische Schriftzeichen können eigentlich nur eines heißen. Lilli-Thi.

Lilli-Thi macht keine Schmuckblätter. Die Blätter müssen eine Bedeutung haben. Vielleicht eine Bedeutung, die uns irgendwie weiterhilft. Ich schaue zu Morti und Diego hinüber. Diego ist inzwischen unter den Leichenwagen gekrochen und man sieht nur seine Lederstiefel hervorragen. Morti ist in die Hocke gegangen. Sein Atem steigt gefroren in den diesigen Himmel.

Ich packe die Schachtel mit den Papieren.

»Okay. Lasst uns losfahren. Ich hätte jetzt alles.«

Miley, Rudy und Dawna sehen mich total komisch an.

»Willst du nicht lieber schauen, ob er auch Strapse wegwirft?«, fragt Rudy mit einem breiten Grinsen.

»Vielleicht finde ich ja einen Stöpsel«, antworte ich mit meiner freundlichsten Stimme. »Für deinen Mund. Dann brauch ich mir dein elendes Gesabber nicht mehr anzutun.«

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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