Dawna
Ich drehe mich um. Aufrecht und unbeugsam steht Kat in der Mitte der Straße, sie blickt in Richtung des Motels und breitet die Arme aus. Schnee wirbelt wie eine Fahne hinter unserem Pick-up und Kat wird immer kleiner und kleiner. Ihre Macht wird die Engel eine Weile hinhalten können. Aber wie lange? Dann lenkt mich eine Bewegung von ihrer Gestalt ab und der Wüstenhund ist plötzlich bei ihr. Sein weißes Fell leuchtet im Mondlicht, reiner als der Schnee. Mit langsamen, federnden Tritten überquert er die Straße und stellt sich neben sie. Wie oft habe ich Granny mit ihm so stehen sehen. Wie oft lag ihre Hand auf seinem breiten Schädel. Und trotz aller Gefahr, trotz aller Angst und Hoffnungslosigkeit fliegt ein Lächeln über meine Lippen.
»Diego de la Vega«, flüstere ich, »gib auf sie acht.«
Indies Kopf liegt schwer auf meiner Schulter, ihr Körper fühlt sich an wie ein nasser Sack. Mum dagegen ist gespannt wie ein Bogen. Ich sitze zwischen den beiden und versuche verzweifelt, Mum alles zu erklären, aber sie kann mir einfach nicht zuhören. Alles, was sie sagt, ist: »Sie hat mir einfach nichts zugetraut.«
Als wäre ihr persönliches Problem mit Granny das einzige, was gerade von Bedeutung ist.
Die Comtesse blickt ohne jede Regung geradeaus, ob sie sich völlig ausgeklinkt hat oder sich auf die vereiste Straße konzentrieren muss, weiß ich nicht. Jedenfalls hat sie noch kein Wort gesagt. Ab und zu räuspert sie sich, was jedes Mal die leise Hoffnung in mir weckt, dass sie gleich etwas Klärendes beiträgt, doch dann schweigt sie weiter beharrlich. Das Navi zeigt noch achtzehn Stunden an, drei sind wir schon unterwegs. Für all die Wege, die wir mit Mum auf unseren Umzügen zurückgelegt haben, eigentlich eine überschaubare Strecke, doch in mir weckt diese Zahl eine Unruhe, die ich kaum noch aushalten kann. Achtzehn Stunden. Was, wenn der Weg, den wir zu Fuß in den Bergen zurücklegen müssen, so weit ist, dass wir es nicht mehr rechtzeitig schaffen? Ich reiße mich zusammen und versuche, mich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren.
»Du musst gar nicht alles wissen«, sage ich energisch, Mums letzten Satz ignorierend, »es geht nur darum, dass du lernst, was in diesem Buch steht, und es im richtigen Moment anwendest.«
»Ich werde nicht wissen, wann der richtige Moment ist«, unterbricht sie mich, »wie soll ich so etwas wissen, wenn ich nicht einmal weiß, warum meine eigene Mutter mir nicht vertraut hat.«
Sie atmet einige Male ein und aus. Um sich zu beruhigen oder um sich so richtig aufzuregen, weiß ich nicht.
»Eure Granny hat mir nie eine Chance gegeben. Ich war immer die Dumme. Die nichts wissen durfte.«
Sie macht eine weit ausholende Geste und die Comtesse räuspert sich ungefähr zum hundertsten Mal.
»Wir. Wussten. Auch. Nichts.«
»Alles um sie herum war ein riesiges dunkles Geheimnis. Ständig gab es verschlossene Türen. Geflüsterte Gespräche mit Fremden. Kästchen, die sie irgendwo vergrub und dann wieder ausgrub, um sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion bei den Kiesgruben zu verbrennen. Manchmal wachte ich nachts auf und sie war einfach verschwunden. Und nur einer dieser riesigen Hunde lag vor meinem Bett. Ich fürchtete mich zu Tode und morgens fand ich sie in all ihren Sachen schlafend in der Küche.«
»Sie wollte uns nur schützen.«
»Sie war verrückt. Allein die Sache mit diesen Hunden. Ich hatte immer Angst vor ihnen. Schon als Kind hatte ich Angst vor ihnen und später auch, als ihr da wart. Ich hatte Panik, dass sie euch etwas tun, verstehst du? Richtige Panik. Aber Granny, der war das egal. Sie ließ es zu, dass ihr bei ihnen einschlieft. Ich konnte das nicht fassen, aber es war so.«
»Ich weiß.«
Den Teufel werde ich tun und ihr auch noch auf die Nase binden, dass es keine Hunde waren, sondern Wölfe. Und dass diese Wölfe immer noch um uns herum sind. Es würde sie völlig verstören.
»Es war nur Zufall, dass nie etwas passiert ist.«
Sie seufzt und setzt sich noch gerader hin, als würde ihr das mehr Sicherheit geben.
»Ich kann mich noch erinnern, als sie diesen Welpen mit nach Hause brachte. Schneeweiß war er und so wild, er zerbiss alles, was er zwischen die Zähne bekam. Das war kein Hundewelpe. Und das Komische war, als sie ihn mitbrachte, war ich gerade mal sechs oder sieben Jahre alt. Und ich könnte schwören, sie hatte ihn noch, als ich sie zum letzten Mal sah. Das ist doch nicht normal. So alt wird kein Hund.«
»Das alles ist vorbei. Du musst das jetzt vergessen. Bitte. Wenigstens für die nächsten Tage. Wenn das alles ausgestanden ist, hast du noch genug Zeit, darüber nachzudenken.«
Ich versuche, sachlich zu bleiben, obwohl mir gleich der Kragen platzt, und ich bezweifle, dass achtzehn Stunden ausreichen werden, um Mum auf Spur zu bringen. Zum Glück schläft Indie. Sie wäre schon längst ausgerastet. Der Pick-up schlingert ein bisschen, weil die Comtesse zu nah an den völlig vereisten Seitenstreifen herangekommen ist. Am liebsten würde ich selbst fahren. Die Comtesse hat bestimmt schon zwanzig Jahre nicht mehr hinter dem Steuer gesessen. Wahrscheinlich besitzt sie gar keinen Führerschein. Außerdem trägt sie immer noch ihre verspiegelte Sonnenbrille. Mitten in der Nacht. Ich verkneife mir ein Seufzen und schließe die Augen.
»Einmal kam eine unglaublich seltsame Frau nach Whistling Wing. Sie fuhr in einer schwarzen Limousine vor. Das war in dem Sommer, als ich zehn wurde. Es war wahnsinnig heiß und der ganze Wagen war mit Staub überzogen. Die Frau war alt und hager, größer als Granny und sah aus wie eine Klosterschwester. Zumindest hatte sie eine weiße Kutte an, die auch voll mit Staub war. Eine andere Frau wartete im Wagen, während Granny mit ihr sprach. Ich schwöre dir, Dawna, ich bin mir sicher, dass sie mich mitnehmen wollte. Ich schloss mich in meinem Zimmer ein. Der letzte Satz, den ich von ihr hörte, war: ›Es ist an der Zeit.‹ Ich wäre eher gestorben, als mit dieser Frau zu gehen. Jahrelang wurde ich von dem Gedanken verfolgt, dass sie wiederkommen würde und ich keine Wahl hatte und mitgehen musste. Ich träumte von ihr und von einem riesigen Gebäude auf den Klippen hoch über dem Meer. Strandhafer biegt sich im Wind und ich stehe verloren unter einem Torbogen und traue mich nicht, einen Schritt in dieses Gebäude zu tun. Ich bin verloren, weil mich meine eigene Mutter verlassen hat.«
Sie schweigt und wischt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Wenn ich jetzt nicht die Kurve kriege, dann kriege ich sie gar nicht mehr.
»Die Mütter der Hüterinnen müssen genauso wie die Hüterinnen selbst auf den Tag der Initiation vorbereitet werden. Sie fasten nur einen Tag und sind verpflichtet, die Gebete …«
»Schätzchen, es ist zu spät. So wie ich die ganze Sache verstanden habe, sollten die Mütter ihr Leben lang auf ihre Rolle vorbereitet werden. Ein Leben lang.«
»Das macht doch alles keinen Sinn, Mum, wir können jetzt nicht über dein GANZES Leben nachdenken. Wir haben keine Zeit. Du musst die Gebete lernen …«
Mum schüttelt nur den Kopf. Sie verschränkt die Arme vor der Brust.
»Es ist zu spät«, flüstert sie, »es ist einfach zu spät. Diese ganze Sache hat mich mein Leben gekostet. Ich durfte den Mann nicht haben, den ich geliebt habe. Ich durfte nicht dort leben, wo ich leben wollte. Ich hatte nicht die Mutter, die ich gebraucht hätte.«
Ab und zu kommen uns andere Autos entgegen, deren Lichter so grell sind, dass sie sich hart in meinen Kopf bohren. Ich sollte schlafen. Wie Indie. Sie rollt sich zusammen wie eine Katze. Ihr Haar quillt unter der Kapuze ihres Sweatshirts hervor. Sonst sehe ich nichts von ihrem Gesicht. Sie zuckt, wenn die Scheinwerfer sie treffen, und krümmt sich noch mehr zusammen, als könnte sie so verschwinden. Kann ich die Dunkelheit noch länger ertragen? Wann, wann endlich taucht ein grauer Lichtstreif am Horizont auf, der den neuen Tag ankündigt?
»Sie hätte es doch wenigstens versuchen können, Dawna. Wenigstens das. Sag mir, warum sie das nicht getan hat.«
»Sie wollte uns schützen«, wiederhole ich hilflos, obwohl ich selbst nicht daran glaube, »sie hat uns immer geliebt.«
»Sie hat euch geliebt. Mich hat sie verachtet.«
Die Comtesse lenkt den Pick-up in eine kleine Parkbucht und macht den Motor aus. Dann steigt sie wortlos aus, schultert ihre Winchester und knallt die Tür hinter sich zu.
»Was macht die jetzt?«, zischt Mum. »Lässt sie uns hier sitzen, oder was?«
»Sie wird mal pinkeln müssen.«
Wir sehen ihr zu, wie sie durch den Schnee stapft und hinter einer Hecke verschwindet.
»Oder sie gibt sich einen Kopfschuss«, füge ich hinzu.
Wieder streifen Scheinwerfer die verschneite Landschaft entlang, als sie unseren Pick-up erfassen, wird der Fahrer langsamer und hält schließlich neben uns an. Er steigt aus seinem Wagen und klopft an unser Seitenfenster. Er sieht aus wie ein Cop, der gerade auf dem Heimweg ist.
»Gibt es Probleme?«
Mum öffnet das Fenster und der Mann späht in das Innere des Pickups.
»Nein. Alles in Ordnung«, sage ich schnell, bevor Mum etwas erwidern kann. Doch ihr verheultes Gesicht spricht Bände.
»Das scheint mir aber nicht so«, sagt er und stützt sich mit den Armen in unserem Fenster ab, »drei Frauen, mitten in der Nacht, alleine auf der Straße.«
»Ist das verboten?«, frage ich genervt.
»Verboten nicht. Aber gefährlich. Da kann schließlich allerhand passieren.«
Er beugt sich noch weiter vor, damit er einen Blick auf Indie erhaschen kann.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich Sorgen machen, aber das ist wirklich nicht nötig«, sagt Mum und setzt ihr strahlendstes Lächeln auf, »wir haben genug Benzin im Tank. Wir haben ein Navi. Wir sind wirklich gut ausgerüstet.«
»Und wo wollen Sie hin? Um diese Uhrzeit?«
Ich presse meine Lippen aufeinander, damit ich ihn nicht anschreie. Die Kälte, die durch das geöffnete Fenster hereinströmt, gibt mir den Rest. Sie kriecht in meine Knochen. Indie bewegt sich unwillig, ich lege ihr meinen Arm um die Schultern.
»Zu meiner Tante.« Mum zuckt etwas hilflos mit den Schultern. »Ich habe sie ewig nicht gesehen und eigentlich habe ich gedacht, sie ist tot. Unsere Familienverhältnisse sind etwas schwierig, deswegen bitte ich Sie, lassen Sie uns …«
»Drogen? Haben Sie Drogen konsumiert?«
»Das letzte Mal 1999. Ich schwöre es.«
Mum versucht es mit einem halbherzigen Augenaufschlag, doch der Mann lässt sich davon nicht beeindrucken.
»Sie haben doch etwas zu verbergen«, sagt der Cop, und als er keine Antwort bekommt, steckt er seine Hand in die Jackentasche und wühlt suchend darin herum. Er findet sein Handy und tippt eine Nummer ein.
Wir starren ihn schweigend an. Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren würde, hätte ich die letzten drei Tage geschlafen und gegessen. Aber so fühle ich mich nur noch einer Ohnmacht nahe, unfähig, etwas zu tun oder zu sagen. Gerade will er anfangen zu sprechen, da taucht die Comtesse hinter ihm auf und rammt ihm ihre Winchester in den Rücken. Ihm fällt das Telefon aus der Hand und mit einem gut hörbaren knirschenden Geräusch tritt sie mit ihrem schweren Stiefel darauf.
»Die Vorstellung ist vorbei, Mister«, sagt sie und steigt zu uns in den Wagen.
Wir fahren schweigend, bis die Lichter des anderen Wagens schon lange hinter uns verschwunden sind. Mum wirft immer wieder einen nervösen Blick in den Rückspiegel, doch der Mann scheint uns nicht zu folgen.
»Vielleicht hätten Sie sein Telefon nicht kaputt machen sollen«, sagt sie nervös. »Wir haben schon genug Ärger am Hals.«
»Telefone sind Teufelszeug«, sagt die Comtesse.
Ich nehme das ledergebundene Buch in die Hand, das mir Indie zu Beginn der Fahrt auf den Schoß gelegt hat, und schiebe es zu Mum hinüber. Ich bin froh, dass Indie daran gedacht hat, es mitzunehmen.
»Sieh es dir wenigstens an«, sage ich, »bitte. Es kann doch nicht schaden, einen Blick hineinzuwerfen. Vielleicht kannst du nicht mehr alles lernen. Vielleicht kannst du auch bei der Initiation daraus lesen, was weiß ich, wie die Regeln sind.«
Noch immer ist der Himmel sternenklar, keine einzige Schneeflocke segelt durch die eisige Nachtluft. Der Pick-up schnurrt gleichmäßig die gerade, scheinbar endlose Straße entlang. Die Schneeflächen links und rechts von uns glitzern unberührt. Schon seit vielen Kilometern haben wir keine Ortschaft mehr passiert, keine Häuser, nichts.
Mum runzelt die Stirn und dreht das Buch eine Weile herum, als wäre sie nur am Einband interessiert. Es ist altes, speckiges Leder. Abgenutzt, als hätte es jemand schon tausend Mal benützt, um etwas hineinzuschreiben oder nachzuschlagen.
»Ernestine hatte auch so eines«, sagt sie leise, »es lag auf ihrem Nachttisch.«
Vorsichtig klappt sie es auf. Ihre Miene verändert sich nicht.
»Es war das gleiche Zeichen auf der ersten Seite. Wie eingebrannt. Siehst du?«
Wir beugen uns beide über das Buch. Die erste Seite ist geschwärzt, aber man erkennt deutlich das Zeichen der Hüterinnen. Darunter ein verblasster Schriftzug:
Buch der Schatten
Mums Hände zittern, die Seiten rascheln, als sie weiterblättert, erst langsam, dann schneller, viel zu schnell, als dass ich die Worte in einer fremden Sprache alle erfassen könnte. Ist es Latein? Oder etwas anderes?
»Dawna«, sagt sie und ich wage es nicht, sie anzusehen, »sie hat mir daraus vorgelesen. Jeden Abend. Jeden einzelnen Abend, bis ich zu alt war und nicht mehr wollte, dass sie mich zu Bett brachte. Ich kenne jedes Wort, das hier geschrieben steht.«
Weit vor uns, im Osten, beginnt sich der Horizont silbern zu färben. Der neue Tag streicht über den Himmel und lässt die Sterne verblassen.