Dawna
Dusk drückt sich von der Wand weg und geht geschmeidig die Treppen hinunter. Sein Haar ist noch länger und wilder, als ich es in Erinnerung habe. Die Sonne hat es ausgebleicht und den rauchigen Ton in ein sandfarbenes Gold verwandelt. Er sieht aus, als hätte er die Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, nur damit zugebracht, in der Wildnis herumzustreifen. Unter dem schwarzen T-Shirt zeichnen sich seine Muskeln ab, sehnig, unnachgiebig. Er öffnet die Tür des Pick-ups und lässt sich zu mir auf den Beifahrersitz gleiten.
»Prinzessin«, sagt er und ein leichtes Lächeln spielt um seine Mundwinkel, »was sind das für Neuigkeiten?«
Ich sehe ihn nicht an, sondern blicke starr nach vorne, zur Eingangstür, sie steht offen, das Fliegengitter bewegt sich sacht im Wind. Granny hat immer gesagt, auf Whistling Wing gibt es keinen Frühling. Zuerst ist es kalt, es schneit und regnet und schneit und regnet und plötzlich reißt der Himmel auf und die Sonne vertreibt den Winter und den Frühling in einem Rutsch. Sie lässt das Gras und die Blumen in Windeseile wachsen und verbrennt sie gleichzeitig. Sie ist Schöpfer und Henker in einem. Die Bäche, die der Frühling über das Land schickt, trocknen aus und die flirrende Hitze kehrt zurück. Es gibt nichts dazwischen, alles geschieht zu schnell. Der Himmel ist strahlend blau und kündigt die Hitze an. An einem Tag läuft man in Winterstiefeln über den Hof, am nächsten Tag barfuß.
»Ich wusste, dass sie euch nicht zähmen können.« Er dreht sich zu mir. Unsere Knie berühren sich und ich rutsche ein Stück zur Seite. »Niemand zähmt die, die mit den Wölfen laufen.«
»Wir laufen nicht mit den Wölfen«, sage ich böse. »Wir mussten uns gegen den Orden entscheiden. Und du kannst mir glauben, mir wäre wohler, wenn wir ihn hinter uns hätten.«
»Ernestine wusste, dass es so kommen würde.« Er macht ein zufriedenes Gesicht, als wäre alles schon im Vorhinein klar gewesen, als hätten wir gar nicht zu fahren brauchen. »Sie hat nie gut vom Orden gesprochen. Sie sprach nur von den Steinen, die sie ihr in den Weg legten.«
»Hör mal, Dusk«, fauche ich ihn an, »wir haben das nicht deinetwegen getan. Du kannst mit deiner Selbstzufriedenheit wieder einen Gang runterschalten. Ich weiß, dass du nicht wolltest, dass wir fahren. Aber wir müssen alle Möglichkeiten abklopfen. Das hat nichts, rein gar nichts mit dir und mir zu tun!«
Wieder hat er es geschafft, dass ich wütend werde. Ich muss an den Tag denken, als Diego uns zum Flughafen brachte. Dusk verschwand schon am frühen Morgen. Ich sah von meinem Zimmerfenster aus, wie er über die Wüste davonjagte, eingehüllt von feinem Frühlingsregen, sein Fell glänzte nass und ich war enttäuscht, dass er sich nicht von mir verabschiedete. Er tat nie das, was ich wollte. Nie.
»Grrrr …« Er lässt seine Hand zwischen die Nackenstütze und meinen Hals gleiten und ich sehe ihm wütend in die Augen. Seine Pupillen sind sichelförmig und nichts spiegelt sich darin. Bald wird er nur noch Wolf sein. »Kein Wunder, dass es mit dem Orden nicht geklappt hat.«
Sein Blick streift belustigt von meinen Augen zu meinen Lippen und dann zum Saum meines weißen Tops.
»Ihr seid nicht für den Orden bestimmt.«
»Und. Was gibt es Neues in New Corbie?«, wechsle ich abrupt das Thema. »Ist Rag schon aufgetaucht? Pius? Lilli-Thi?«
»Ernestine wollte nicht, dass ihr zurückgeht, mach dir deswegen keine Gedanken«, sagt er, ohne auf meine Frage einzugehen.
»Sam Rosell? Hast du ihn schon gesehen? Halten sie sich nur im Motel auf?« Dass er mir keine Antworten gibt, macht mich wütend und hilflos zugleich. Ich frage mich, wozu ich im Auto sitzen geblieben bin. Ich sollte nicht mit ihm sprechen, außer das Nötigste. Er ist kein Mann, mit dem man vernünftig reden kann. Manchmal scheint es so, doch dann ist er nur noch Wolf. Nur noch Instinkt und dann interessiert ihn nur noch das, worauf er geprägt ist.
»Ihr habt uns hinter euch. Auf uns könnt ihr zählen. Diego gibt sein Leben für euch.«
»Ich weiß.«
Er spricht nicht von sich, aber ich weiß, was er damit sagen will. Plötzlich ist die Verbundenheit wieder zwischen uns und Dusks Miene entspannt sich. Seine Finger liegen an meinem Haaransatz, er streicht eine Haarsträhne zurück, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hat. Für einen Moment ist er ganz darauf konzentriert, auf mein Haar zwischen seinen Fingern, meinen Hals, und seine Pupillen werden blitzartig riesig und weit.
»Aber das wird nicht reichen. Es werden Hunderte kommen. Ich habe sie gesehen. Von überall her sind sie auf dem Weg.« Jetzt drehe ich mich doch zu ihm. »Sie werden uns vernichten, wenn uns niemand hilft.«
»Du bist noch schöner geworden.«
»Ihre Motorräder stehen vorm Murphy’s Law.«
»Ich kann deine Kraft sehen. Du hast dich verändert, seit der Initiation hast du dich verändert.«
»Ist es nicht mehr unter eurer Kontrolle, das Murphy’s Law?«
»Du bist kein Mädchen mehr, Dawna.«
Ich ziehe scharf die Luft durch die Nase ein und spüre, wie Dusks Finger an meiner Schläfe Schauer über meinen Körper jagen.
»Hör auf damit«, sage ich hilflos, dann verstumme ich und Dusk zieht mich in seine Arme.
Atemlose Minuten verstreichen, während mein Kopf an seiner Brust liegt, ich höre, wie Mum das Küchenfenster öffnet, der Wind reißt es ihr aus der Hand und lässt es gegen die Hauswand schlagen. Indies und Beebees Stimmen wehen zu mir herüber, doch ich spüre nur Dusks Arme, die mich fest umschließen.
»Was ist mit dem Murphy’s Law?«, sage ich leise.
»Wir haben es aufgegeben, Diego wollte nichts riskieren. Es ist besser, sich ruhig zu halten. Wir konzentrieren uns auf Whistling Wing. Die Frauen sind nicht schlecht, sie haben dazugelernt.«
Ich nicke und schließe die Augen. Vogelschwärme ziehen durch meinen Kopf, Vogelschwärme, die auf Whistling Wing programmiert sind. In jeden einzelnen dieser hageren, grauen Köpfe sind die Koordinaten von Whistling Wing eingepflanzt. Sie werden uns im Traum finden, mehr und mehr und mehr.
»Ich habe Angst, Dusk«, flüstere ich.
Dusk küsst meine Stirn und antwortet nicht.
In meinem Traum ist Miley wieder da. Ich strecke ihm meine Hände entgegen und ziehe ihn schlaftrunken zu mir herunter. Sein Körper fühlt sich schwer auf meinem an, seine Lippen sind rau, anders als bei unserem letzten Kuss. Seine Berührung hart und fordernd. Ich schrecke auf und weiß im ersten Moment nicht, wo ich bin. Höre ich die Brandung rauschen, die an die Klippen unterhalb des Klosters schlägt? Ich setze mich im Bett auf, die Decke hat sich um meine Beine gewickelt. Ist es das Rauschen der Hickorys? Der Wind, der sich in den Blättern des Himbeerbaumes fängt? Angestrengt lausche ich, dann stehe ich auf und tappe durch das Zimmer auf den Flur hinaus, ich habe brennenden Durst. Das Haus schläft, es scheint zu atmen, ruhig und gleichmäßig. Grannys Flüstern begleitet mich die Treppen hinunter, in der Küche hat jemand ein kleines Licht brennen lassen, als ich einen Blick auf die Veranda werfe, weiß ich auch, wer: Diego sitzt in dem Schaukelstuhl und lässt ihn sacht hin und her wippen.
Ich halte mein Glas unter den Wasserhahn und trinke es mit einem Zug leer, dann fülle ich es noch einmal und gehe hinaus, zu Diego auf die Veranda. Er lächelt mich an.
»Die Zigeuner.«
Zuerst weiß ich nicht, was er damit meint. Dann wird mir das Geräusch wieder bewusst. Ich lehne mich an das Geländer und verenge die Augen. Es ist nicht der Wind im Himbeerbaum und auch die Blätter der Hickorys schweigen. Es ist auch kein Rauschen, es ist das Geräusch von Motoren. So viele Jahre hatten sie New Corbie gemieden, hatten Kalo, Miley und Nawal zurückgelassen mit dem Versprechen, nie mehr zurückzukehren, um nicht das Böse zum Rudel zu führen.
»Sie kommen zurück!«
Mein Herz macht einen freudigen Satz. Ich laufe barfuß die Treppen hinunter, über den Hof bis zum Tor, von dort aus kann ich die Straße sehen. Lichter ziehen in gleichmäßiger Geschwindigkeit darüber, und obwohl die Dunkelheit die Wagen verschluckt, weiß ich, dass sie es sind. Schwere Autos mit langen Wohnwagen. In gemächlichem Tempo kreuzen sie Whistling Wing.
»Sie sind wieder da!«, schreie ich.
Ich raffe mein Nachthemd und laufe in Richtung Straße, dann höre ich Diegos Stimme hinter mir. Zuerst seine Stimme, dann den harten Klang von Wolfspfoten auf dem Schotter. Nach wenigen Metern hat er mich eingeholt und versperrt mir den Weg. Wie früher drückt er seinen kantigen Schädel in meine Hände, stemmt seine Pfoten gegen meine Brust. Ich folge seinem Blick, der unruhig über den hellen Nachthimmel schweift, und so sehe ich sie auch. Ich kann sie nicht zählen, es sind zu viele. Geordnet ziehen sie ihre Bahnen, Schwinge an Schwinge. Wie konnte ich ihren heiseren Schrei vergessen, ihren Blick, der einen über Kilometer hinweg aufspürt. Den ganzen langen Winter, den ganzen Frühling wiegten sie uns in Sicherheit, nur um jetzt noch drohender zurückzukehren.
»Wie viele sind es?«, flüstere ich.
Diego richtet sich auf, die Verwandlung zurück in den Mann, den ich kenne, ist fließend, sie erschreckt mich nicht. Er nimmt meine Hand, während die Vögel näher kommen, nun kreisen sie über der Straße und folgen den Wagen der Zigeuner.
»Lass uns umkehren.«
»Werden sie die Zigeuner angreifen?«
»Chakal weiß, in welche Gefahr er sich begibt. Und die Engel brauchen keine Seelen mehr.«
Diego legt mir den Arm um die Schultern, seine Berührung ist warm und tröstlich.