46° 59’ 51,086’ N, 110° 57’ 34,29’ W
Mount Monarch
Plötzlich hat sie das Gefühl zu fallen. Sie steht zwischen den Wagen, als sich alles zu drehen beginnt. Sie bekommt Angst, dass sie wirklich umfällt, so stark ist das Drehen, und beugt sich nach vorne und stützt sich mit den Händen auf den Knien ab. Unter ihr der Schnee ist so blendend weiß, dass es in den Augen schmerzt. Sie spürt die Blicke der Frauen auf sich. Stumm sehen sie zu, wie sie sich aufrappelt und an den Wagen entlangtastet. Stumm bleiben sie stehen, aber keiner kommt, um sie zu stützen. Ihr Herz rast, als wäre sie gelaufen. Sie hört das Gebell der Hunde nur noch entfernt und schafft es um einen Wagen herum, dann rutscht sie mit dem Rücken am Holz entlang, in die Hocke und wartet, dass die Kälte in ihren Körper kriecht, stärker wird als die Angst und ihre Gedanken lähmt.
Es ist diesmal anders, denkt sie erschrocken, diesmal sind es nicht nur Träume. Es passiert etwas. Die Gefahr wächst.
… Veni Sancte Spiritus et emitte caelitus lucis tuae radium …
Sie hat diese Worte schon so lange nicht mehr gehört. Jahrzehnte muss es her sein und doch schwingen die Worte in ihren Ohren.
… ein Dämon in seiner Reinform …er wird uns vernichten …
Sie zieht sich ihre Kapuze über den Kopf.
… Veni Sancte Spiritus et emitte caelitus lucis tuae radium …
Es hallt in ihren Ohren. Wo kommen diese Worte mit einem Mal her? Es geht zu schnell. Die Zeit ist noch nicht gekommen. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und spürt Tränen in den Augen. Nie hat sie geweint. Nicht als sie fortgegangen ist. In all den Jahren der Einsamkeit nicht. Und jetzt … Plötzlich steht jemand vor ihr.
»Du«, sagt Chakal.
Er nennt sie nie beim Namen. Selbst als er dort, mitten in der Wildnis, auf sie wartete, sprach er sie nicht mit ihrem Namen an, als wäre ihr Name Gift für seine Zunge. Dort in den Bergen hatte er sich in einen Wolf verwandelt und war als grauer Schatten vor ihr hergelaufen. Sie hatte gewusst, dass er sie töten wollte. Und jetzt weiß sie es wieder.
»Du bringst das Böse«, sagt er und geht vor ihr in die Hocke. »Warum gehst du nicht zu ihnen zurück.«
Sie starrt in seine Augen, die fast kein Weiß zeigen. Der Wolfsblick. Nicht alle, die das Erbe tragen, haben ihn. Die Augen zeigen, ob mehr Mensch oder mehr Wolf in ihnen steckt, und bei Chakal ist es der Wolf.
»Zu wem«, sagt sie böse, »zu wem sollte ich gehen.«
»Les Fleurs«, sein Atem riecht nach Blut und jetzt sieht sie, dass auch in seinen Mundwinkeln und an den Schläfen Blut klebt. Es ist früh am Morgen und die Wölfe kommen von der Jagd. Chakal ist derjenige, der töten darf. Die anderen treiben, aber nur er darf töten. So ist das Gesetz des Rudels. Früher war es Cheb. Aber Cheb ist nun zu alt. Er gibt alles ab. Stück für Stück. Bald wird Chakal das Rudel anführen. Bald wird er derjenige sein, der das Gesetz macht.
»Ich gehöre nicht zu ihnen«, sagt sie und drückt sich mit dem Rücken gegen das Rad des Wagens. Sie spannt alle Muskeln.
Nie war sie dort gewesen. Nie war sie unter dem steinernen Torbogen hindurchgegangen, um ihre Hände auf den Stein zu legen und die Treue zu schwören. Nec laudibus nec timore … So war die Bestimmung. Jede Hüterin musste ein Jahr im Orden verbringen. Das Jahr vor ihrem achtzehnten Geburtstag und in diesem Jahr musste sie alle Fähigkeiten erlernen, die sie brauchen würde. So hätte es geschehen sollen. Aber sie dachten, sie wären klüger. Sie waren so jung gewesen. Jung und wild und nicht willens, sich zu beugen. Und als der Stein im Rollen war, konnten sie ihn nicht mehr aufhalten. Wie oft hatte sie daran gedacht, dass vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn sie den einfachen Weg gegangen wären. Natürlich wäre es ein Weg voller Entbehrungen gewesen. Ein Weg voller Gefahr. Eine Hüterin beugt sich nicht. Eine Hüterin liebt nicht. Eine Hüterin gibt ihr Leben, um das Tor geschlossen zu halten. Aber trotz allem wären sie ein Teil des Ordens gewesen. So aber waren sie allein.
»Warum hast du dann das Zeichen.« In Chakals Augen spiegelt sich der Wald, der schnelle Lauf durch die Berge, sie kann den Schweiß des gehetzten Tieres riechen. Bitter und süß zugleich. Die Fährte, der er durch die Nacht gefolgt war.
»Du weißt es«, sagt sie harsch, »du weißt, dass eine Hüterin von einer ihr verwandten Hüterin gezeichnet werden kann. Es gibt keinen Grund dafür, dass ich das Zeichen nicht haben sollte. Meine Großmutter war eine Hüterin. So wie ihre eigene Großmutter. Lass mich zufrieden, Chakal. Ich werde nicht mehr lange hier sein …«
Sie bricht ab und Chakal kommt noch näher. Er bewegt sich geschmeidig und voller Kraft. Sein Gesicht ist genau vor dem ihren, doch jetzt beginnt das Bild zu flimmern, es flimmert und sie sieht das Gesicht eines Mädchens, die weiße Haut und das rote Haar. Ihre erschrockenen Augen, als sie ihre eigenen Hände betrachtet. Hände, die voller Blut sind.
Oh Gott, denkt sie, sie ist verletzt, das hätte nicht passieren dürfen.
»Du musst JETZT gehen«, sagt Chakal und das Bild verschwindet, zieht sich zurück, aber es lauert am Rande ihres Bewusstseins.
Sein Gesicht ist so nah vor ihrem, dass sie sich abwenden muss. Der metallische Geruch lässt ihren Magen drehen.
»Cheb wird bald sterben.«
»Er ist dein Vater«, sie atmet tief durch den Mund. Die eiskalte Luft legt sich wie eine Klammer in ihre Kehle und sie fragt sich, wie dumm und verzweifelt sie sein muss, um an das Mitgefühl eines Wolfes zu appellieren.
»Und ich könnte dich schon jetzt töten«, sagt Chakal und lässt seine Hand an ihren Hals schnellen. Sie fängt sie kurz vor ihrer Kehle und hält sie fest. Noch immer spürt sie die Kraft in sich pulsieren. Die Kraft, die das Zeichen ihr vor so langer Zeit gegeben hat.
Ich kann es noch, denkt sie und Zuversicht rieselt durch ihren Körper.
Sie dreht Chakals Arm und zwingt ihn so in die Knie.
»Nicht mehr lange«, seine Augen werden schmal und dunkel, »nicht mehr lange, alte Frau.«