Indie
Bleib lieber, wo du bist«, sage ich mit liebenswürdiger Stimme, obwohl ich am liebsten kotzen würde. Nach und nach verstummen die Motorengeräusche und mit ihnen auch die Lichter, die mich zunächst angestrahlt hatten, als wäre ich auf einer Bühne. Für einen Moment sehe ich nur die Umrisse von Rag.
Bullig. Riesig. Mächtig.
Dunkel gegen den noch vom sanften Glühen des Abendrots aufgehellten Himmel. »Kann man nicht mal in der Stunde des eigenen Todes seine Ruhe haben?«
Er sitzt noch auf dem Motorrad, die Augen auf mich fokussiert. Langsam erkenne ich mehr und mehr seine Gesichtszüge, sein schönes Gesicht, das selbst durch seine Grausamkeit und Unberechenbarkeit nichts an Ebenmäßigkeit und Attraktivität eingebüßt hat.
»Ist doch auch kein Zustand, dass das Letzte, was ich von dieser Welt sehe, deine fiese Fresse sein soll.«
Für einen Moment bereue ich, dass ich ihn so gereizt habe, denn alles an ihm scheint so zu glühen, als würde er gleich explodieren.
»Samael hat mich gebeten, dir etwas zu erzählen«, sagt er stattdessen und seine Emotionen sind so schnell verflogen wie der nächtliche Wind über den Gräbern.
»Du kannst gleich wieder fahren und deinem Chef sagen, dass mich niemand davon abhalten konnte«, schlage ich freundlich vor. »Machen wir uns doch nichts vor. Samael hat mit dir die falsche Wahl getroffen, er hätte lieber so einen Dauerschwätzer wie Pius schicken sollen.«
Rag antwortet nicht gleich. Inzwischen sind meine Augen wieder an die Dunkelheit adaptiert, mein Herzschlag hat sich wieder normalisiert und mein Gehirn funktioniert.
»Das, was ich dir erzählen soll, kann nur ich erzählen«, sagt er emotionslos. »Denn nur ich war dabei.«
Fieser. Fieser. Samael. Ich weiß nicht, was kommt, aber es wird etwas Schreckliches sein.
»Es war der 18. Geburtstag von Vincenta«, sagt er und seine Augen sind ruhig auf mein Gesicht gerichtet.
»Schon lange her«, unterbreche ich ihn. »Darüber brauchen wir jetzt nicht quatschen.«
»Sie war so jung und so hübsch wie du …«, erwidert er. »Sie war so voller Leben, aber sie hatte Angst. Angst vor dem Neuen.«
Angst vor Azrael, denke ich mir.
Der Mond steht jetzt direkt über der Kapelle, sie wirft einen langen Schatten quer über den Friedhof, der sich mit den Schatten der Grabsteine verbindet.
»Es ist kein schöner Anblick«, flüstert er. »Wenn sich jemand das Hirn wegpustet.«