Indie
Die Kälte der Grabplatte kriecht bis zu meinen Knochen.
»Daddy«, sage ich spöttisch, obwohl mein Herz fast stehen bleibt. »Wenn das mal keine gute Nachricht ist. Endlich haben wir unseren Daddy gefunden.«
Sein Mund verzieht sich zu einem leichten Lächeln.
»Scheiße, dass bei der ganzen Aktion so was wie ich rausgekommen bin«, sage ich mit freundlicher Stimme.
Irgendetwas stimmt nicht, ich weiß nicht, was es ist, aber die Ruhe, die Sam ausstrahlt, ist nicht gespielt. Mum als Mittlerin der Energie zu verwenden, ist natürlich ein Trumpf – ich habe keine Ahnung, wie es normalerweise abgelaufen wäre. Wir hätten die böse Energie neutralisiert, aber wie dies funktionieren soll, wenn sie in Mum steckt, ohne Mum zu schädigen, weiß ich nicht. Aber er muss noch einen Trumpf im Ärmel haben, einen, der mehr wiegt, als Mum auf seiner Seite zu haben. Und dann ist da noch das mit dem Tor. Wieso spüre ich nichts von dem Energiestrom? Wieso spüre ich nichts von Azrael? Sollte er nicht schon die Finger nach mir ausstrecken?
»Ist sie jetzt doch schon gestorben, Ernestines Schwester. Emma Spencer«, sagt er, mehr so als Feststellung. »Eure Hoffnung.« Er lächelt nicht, beobachtet meine Hand, die über den Grabstein wischt. »Lilli-Thi macht keine halben Sachen, das solltet ihr wissen.«
Noch zwei Minuten, dann ist Mitternacht.
»Und auch ich mache keine halben Sachen«, sagt er mit sanfter Stimme und trotzdem klingt es nach einer Drohung.
Hat unser Plan überhaupt noch Sinn?
Dawna nimmt meine Hand und zieht mich hoch.
»Wenn ich heute sterbe, dann für etwas Größeres, etwas unglaublich Wichtiges, etwas, das mehr bedeutet als mein Leben und euer Leben«, hallt Mums Stimme in meinem Kopf nach.
Noch eine Minute bis Mitternacht. Wenn der erste Schlag der Glocke zu hören ist, werden wir beginnen, das Grab zu öffnen. Die Sekunden ticken vorbei, ohne dass wir etwas sagen, ich sehe auch nicht mehr Sam an. Wir werden jetzt unseren Plan nicht mehr ändern können. Wir werden nicht wissen, was er wirklich vorhat, was uns wirklich erwartet.
Der erste Glockenschlag weht zu uns herüber und Dawna beginnt zu murmeln, ihre Worte werden von der Dunkelheit geschluckt. Sie verneigt sich vor dem Westen und dem Osten und ich tue es ihr gleich, während mein Blick über die weite Ebene schweift, die hinter der Friedhofsmauer liegt. Ein zweiter Glockenschlag.
Die Ebene ist leer, wie ausgestorben liegt sie vor mir, dann drehe ich mich wieder zum Grab. Energie flutet zwischen Dawna und mir, irgendwie zu schwach, nicht entschlossen genug. Vielleicht weil ich mit meinen Gedanken woanders bin, abgelenkt durch die Gewissheit, dass er uns genau dorthin geführt hat, wo er uns hinführen wollte, dass es nie unser Ding war, sondern immer seins, und dass wir schon wieder verflucht dazu sind, viel zu spät zu merken, was eigentlich geschieht.
Der dritte Schlag der Glocke.
»Aperimus«, flüstert Dawna. Sie zeichnet ihre Runen mit geschlossenen Augen, sieht mich nicht an. »Aperio et aperimus.«
»Aperimus«, wiederhole ich, während auch meine Finger durch den Sand gleiten. »Aperio et aperimus.«
Unsere Hände berühren sich schon fast, zwei letzte Runen, dann stoßen unsere Finger aneinander. Gänsehaut fließt über meinen Körper, der vierte Glockenschlag erfasst mich, und obwohl wir gerade keine richtige Kraft aufbauen konnten, höre ich das Schaben von Stein auf Stein, und genau dort, wo der Stein schon einmal zerbrochen war, scheinen sich die zwei Steinplatten zu verschieben.
Von den Dunklen ist nichts zu hören.
Der fünfte Glockenschlag.
Nichts, was noch Hoffnung gibt, wir stehen alleine hier, ohne einen Verbündeten.
Emma. War nicht der erste Schlag der Glocke unser geheimes Zeichen? Das Zeichen dafür, dass sie nun kommen soll, sich mit uns Azrael entgegenzustellen? Aber es ist nichts zu hören. Samaels Blick ist auf mich gerichtet, so zuversichtlich, dass mir flau im Magen wird. Lilli-Thi macht keine halben Sachen, höre ich seine Stimme.
Ein Geräusch hinter mir bringt mich dazu, mich umzudrehen. Sind es die Flügel Tausender Vögel? Ist es ein Gewittersturm, der über die Ebene rast?
Eine Wolke füllt den Horizont mit Schwärze. Eine Wolke, die keine ist. Ein riesiger Schwarm von Vögeln nähert sich dem Friedhof. Die Kohorten, die vor uns stehen, bekommen noch Rückendeckung. Sie fliegen in breiter Front, formieren sich ständig neu … manchmal fliegen sie so dicht zusammen, dass man nur einen tiefschwarzen Punkt sieht, dann wieder auseinander, es entstehen geometrische Muster am Nachthimmel, schwarze Netze, gewaltige Formen, die sich ständig verändern, sich verdunkeln und wieder aufhellen. Und je näher sie kommen, desto mehr zentriert sich der Schwarm auf das Ziel, das er anstrebt.
Und davor ein Pferd im gestreckten Galopp. Wie ein Déjà-vu, Dawna auf dem Schwarzen. Jetzt ist es Emma, die den Schwarzen zu einem halsbrecherischen Tempo antreibt. Als sie näher kommen, sehe ich die zwei Wölfe rechts und links von ihr, dicht an ihrer Seite. Ihre langen Haare haben sich gelöst und flattern wie eine silbrig rote Fahne hinter ihr. Kurz bevor sie den Friedhof erreichen, verhindert die Mauer die Sicht.
Es wird alles gut gehen, denke ich. Sobald Emma da ist, werden wir Azrael vernichten. Was danach ist, mit all diesen Vögeln, ich will es nicht wissen. Es wird so sein, wie Mum es gesagt hat – wir werden es nicht schaffen, lebend hier wegzukommen.
Als ich mich umdrehe, sehe ich den schwarzen Schlund des Tores direkt vor mir und das mulmige Gefühl sickert von meinem Bauch in den Kopf.
Wo ist die Energie, die wir neutralisieren sollen?
Wo ist Azrael?
Das Geräusch von Tausenden von Flügeln hüllt mich ein. Das Hufgetrappel des Schwarzen nähert sich uns im rasenden Galopp. Die Dunklen, die vor uns stehen, bilden seltsamerweise plötzlich eine Gasse. Dann ist Emma direkt neben uns. Wie in Zeitlupe sehe ich die fliegende Mähne des Schwarzen, Schaum vor dem Mund, die Augen weit aufgerissen. Ich erhasche einen Blick auf Emmas Gesichtsausdruck, er ist entschlossen und zu allem bereit.
Aber anscheinend hat sie sich für etwas ganz anderes entschlossen, als wir ausgemacht hatten. Mit einem gewaltigen Satz springt der Schwarze über den geöffneten Grabstein und den Grabengel und ich höre Emmas Worte wie einen riesigen Seufzer quer über den Friedhof.
»Für Ernestine. Weder durch Lobsprüche noch durch Einschüchterung!«
Dann galoppiert der Schwarze in die Gasse der Engel hinein, die ihren Blick nicht wenden. Nur ein Wispern und Rascheln scheint die Kohorten zu erfassen, von einer unruhigen Kraft erfasst, die sie sich nicht erklären können. Mit donnernden Hufschlägen nähert sich der Schwarze dem nächsten Grab und springt mit kraftvoller Eleganz darüber. Mit einem allerletzten, gewaltigen Sprung überwindet er einen eingestürzten Teil der Friedhofsmauer, für einen Moment noch sehe ich Emmas Haare wie eine wirbelnde Fahne.
Die fliegenden Vögel vermischen sich zu neuen Figuren am Himmel, sie ballen sich zu einem nachtschwarzen Keil, der sich an die Fersen von Emma heftet. Das wilde Rauschen nimmt zu, wirbelt Emotionen auf.
»Emma«, flüstert Dawna neben mir und ihre Fassungslosigkeit kriecht durch meine Hand in mein Herz.
Im nächsten Moment ist der Schwarm über uns hinweggezogen, angezogen von Emma, die mit dem Schwarzen über die trockene Prärie schießt.
Dawnas Händedruck wird fester, aber es fühlt sich nicht wie ein Trost an, eher, als würde gerade unsere Hoffnung über die Ebene davonschießen und uns verzweifelt mit unserem Schicksal allein lassen.
Dann spüre ich eine Bewegung an meiner Seite.
Diego.
Diego und Dusk werden mit uns in den Tod gehen.
Es ist nicht so, wie es sein sollte, denke ich und drücke Dawnas Hand so fest, dass es wehtut.
Die Gasse der Dunklen schließt sich wieder, noch immer ist nichts zu spüren von der Ankunft Azraels.
Sams Lächeln liegt fein um seine Mundwinkel.