Morrison Motel, 29. Juli 2013

Sie gehört ihr. Die Sterbende gehört ihr alleine. Sie hat sie in dem Zimmer gefunden und fortgeschleppt, ihr Blut verklebte sich mit den Federn, machte Spuren auf den Boden, doch darauf achtet keiner. Ihnen ist sie egal. Sie tun das, was der Meister von ihnen verlangt. Wenn er sagt: »Tötet die Frau«, dann töten sie sie. Aber er hat nichts gesagt. Er hat sie einfach vergessen.

Allein hat sie sie hinuntergeschleppt, in den Club, durchs Foyer, in die Gänge unter dem Motel. Die Sterbende war still gewesen. Sie hatte nicht gekämpft, nichts gefordert, aber sie konnte an ihrem schwachen Herzschlag spüren, dass sie noch lebte, noch. Nicht mehr lange, vielleicht.

Sie schleppte sie in das kleine Zimmer mit der flimmernden Glühbirne, versteckt in den zahllosen verwinkelten Fluren des Motels. Das Zimmer mit der Pritsche, mit den Blättern, sie musste schließlich ihre Arbeit tun, die Arbeit, die niemand sonst tun wollte.

Sie hat sie in eine Ecke gelehnt und sie eine Weile von der Pritsche aus nur angesehen, lange hatte sie nichts mehr besessen, nur für sich, ohne dass Samael es ihr wieder wegnahm und zerstörte. Über ihr hörte sie den Gleichklang der Stiefel auf den Teppichen. Sie formierten sich, wenn Neue ankamen, entstand kurz Unruhe, doch dann gliederten sie sich ein, sie stellten keine Fragen, erwarteten keine Erklärungen, sie funktionierten, angezogen von Samael, dem Meister. Lilli-Thi bezweifelte, dass die Dunklen wussten, worum es in Wahrheit ging. Selbst sie verlor es dann und wann aus den Augen.

Jetzt beginnt sie ihre Arbeit, ihre Augen verschleiern sich und sie beginnt zu schreiben. Die chinesischen Zeichen fließen aus ihrer Feder, Zeile um Zeile, eine nicht enden wollende Flut der Geborenen und der Sterbenden, sie weiß nicht, wie viele davon schon durch ihre Feder geflossen sind, seit sie die Dienerin war. Sie wusste nicht, wie viele es waren, wann es begann und wann es aufhören würde. Sie wusste nur, dass sie aufschreiben musste, was ihr eingegeben wurde. Lilli-Thi war Dienerin und Werkzeug. Etwas lässt ihre Hand innehalten und kurz verfliegt der Nebel, die Sterbende hat sich bewegt. Hat sie gesprochen?

Lilli-Thi blickt auf die letzten Zeichen unter ihrer Hand. 51° 31’ 4,26’’ N, 0° 10’ 26,335’’ W. Das St. Mary’s Hospital in London. Die Geburtskoordinaten der Sterbenden. Und in ihr schwingen die Todeskoordinaten, das Datum des heutigen Tages. Die Koordinaten von New Corbie. Wieder bewegt sich die Sterbende und sie legt die Feder aus der Hand, steht auf, um näher an sie heranzugehen. Sie legt den Kopf schief, schwarzweiß ist ihr Blick, wie der eines Vogels. Auch die Sterbende öffnet die Augen.

»Ah«, flüstert sie, als sie Lilli-Thi erkennt, »der Tod sieht mich an.« Sie lächelt.

»Aber ich erinnere mich, dass du nicht immer der Tod gewesen bist. Ich erinnere mich, dass du aus dem Paradies vertrieben wurdest, weil deine Leidenschaft das Grün des Gartens verbrannte und nicht dein Hass. Ich erinnere mich, dass dein Ungehorsam und deine Schönheit der Grund waren. Wer hat dich gezähmt? Wer hat sich Lilith zur Dienerin gemacht? Wer konnte deinen Willen brechen …«

Ihre Stimme erstirbt, während die Glühbirne flimmert und unter den Tritten der Dunklen zu schwanken beginnt. Lilli-This Augen bohren sich in die Augen der Frau, sie ist schon zu weit fort, um Angst zu haben, zu schwach, um einen letzten Versuch zu unternehmen, ihr Leben zu retten.

»Ich erinnere mich, dass Lilith eine von uns war.« Die Worte, die stockend über die Lippen der Sterbenden kommen, sind wie Schläge in Lilli-This Gesicht. »Ich erinnere mich, dass sie zu den Frauen gehörte und die Männer …«, die Sterbende hustet, ein entsetzliches, röchelndes Geräusch, »… ihr immer unterlegen waren. Was ist mit dir geschehen, Lilli-Thi?«

Abrupt steht Lilli-Thi auf, sie geht zu der Pritsche zurück, die Hand auf die Brust gelegt.

»Sie soll schweigen!«, zischt sie. »Sie soll ruhig sein!«

Wieder röchelt die Sterbende und das Gefühl, das Röcheln käme aus ihrer eigenen Brust, setzt sich in Lilli-Thi fest. Unter ihrer Hand spürt sie etwas, das ihr mehr Angst einjagt als das Licht der aufgehenden Sonne an einem Frühlingsmorgen.

Sie setzt sich auf die Pritsche und nimmt die Feder in die Hand, sie muss es beenden, ihre Arbeit ausführen, die Sterbende vernichten, ihre Todeskoordinaten niederschreiben – doch ihre Gedanken sind leer. Da ist nichts, was sie niederschreiben könnte.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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