9

Dawna

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Wer seid ihr, sollte ich denken. Aber ich denke nur eines: Dusk! Dusk ist zurück! Mein Herz macht einen aufgeregten Hüpfer nach dem anderen. Er ist nicht tot! Er kann uns sagen, wer die Person ist. Diese eine Person, die wir finden müssen. Ich sehe sein rauchiges Fell verschwinden, aber das macht mir keine Angst. Er ist zur Stelle, wenn ich ihn brauche. Er wird wiederkommen. Er wird es mir sagen.

Kat und Miss Anderson verlassen ihre Position vor dem Bronco und kommen auf uns zu. Unter Miss Andersons Tweedmantel zeichnet sich auf Brusthöhe etwas ab, was ein Schulterhalfter sein könnte.

»Und jetzt zu euch«, sagt Indie halblaut neben mir.

»Leidest du an maßloser Selbstüberschätzung?«, zische ich sie an.

Was die beiden hier eben abgezogen haben, war mehr als ein Statement. Es war der Beweis, dass sie mächtiger sind als die Wölfe, mächtiger als Rag. Mächtiger als Indie und ich, muss ich gar nicht hinzufügen. Ich habe keine Ahnung, wer sie sind und warum sie hier sind, aber irgendetwas in mir sagt mir, dass sie nicht zu den Engeln gehören. Trotzdem schrillen meine Alarmglocken. Was wissen wir schon über sie? Sie haben sich auf Mums Anzeige gemeldet. Die Einzigen, die auch in Kontakt mit Engeln treten wollten. Aber sie haben sich nie richtig in die Gruppe eingegliedert. Sie ziehen ihr eigenes Ding durch, und wenn sie an den Channelings teilnehmen, wirken sie seltsam unbeteiligt und trotzdem wachsam, aufs Äußerste gespannt. Ich denke an unser erstes Zusammentreffen in New Corbie. Die Engel waren hinter mir her und kaum … meine Gedanken überschlagen sich … kaum war ich in Reichweite von Kat und Miss Anderson, verschwanden die Engel. So abrupt, wie ein Magnet von einem anderen Magnet abgestoßen und in die Gegenrichtung geschleudert wird.

»Legt euch nicht mit Raguel an«, sagt Miss Anderson mit ihrem leicht näselnden Tonfall, als sie vor uns stehen, »meidet den Club und das Morrison Motel. Wenn sich ein Zusammentreffen nicht vermeiden lässt, seht zu, dass euer Herz rein und voller Liebe ist …«

Sie fixiert erst Indie und dann mich. Ihre Stirn ist gerunzelt und ihre kleinen Augen hinter den schmalen Brillengläsern scheinen zu glühen. So habe ich Miss Anderson noch nie gesehen. Plötzlich wirkt sie nicht mehr unterkühlt, sondern voller Energie. Ich starre auf die Stelle, an der ich das Schulterhalfter und ihre Waffe vermute.

»Haben Sie vielleicht noch eine Empfehlung für uns?«, faucht Indie.

Endlich nimmt sie den blöden Schlapphut ab und wirft ihn hinter sich auf die Kühlerhaube des Navara. Die Schneeflocken werden dichter. Früher hätten wir uns auf den Rücken gelegt und die Flocken mit dem Mund aufgefangen und auf der Zunge zergehen lassen. Ich liebe Schnee, hätte ich gesagt und Indie hätte mir einen Schneeball in den Kragen gestopft. Vor ungefähr hundert Jahren. Jetzt wische ich die Flocken unwirsch von meinem Gesicht. Noch immer fühlt sich die Stelle unter dem Kinn, an der mich Pius berührt hat, wie verbrannt an. Hat auch er sich verändert? Gewinnt er an Macht, je länger er mit den Schwarzen zusammen ist? Jedenfalls war nicht mehr viel übrig von dem weinerlichen Kerl, den wir im Sommer kennengelernt haben.

»Etliche«, sagt Miss Anderson und schiebt mit ihrer behandschuhten Hand ihren Tweed ein Stück zurück, damit sie auf ihre Armbanduhr sehen kann. Auf ihrem Gesicht schwebt ein genervter Ausdruck. Kat dagegen wirkt wie immer entspannt. Als hätte sie nicht gerade Raguel direkt gegenübergestanden.

»Aber dies ist kein guter Ort für Unterhaltungen«, fährt Miss Anderson fort.

»Ach nein?« Indie kneift die Augen zusammen. »Ich finde, es ist ein verdammt guter Ort, um ein paar wichtige Dinge zu klären.«

Sie dreht sich um und läuft um den Navara und die Motorräder herum auf das Motel zu.

»Indie«, rufe ich ihr atemlos hinterher und setze mich ebenfalls in Bewegung. Mittlerweile glaube ich, dass Indie völlig auf der falschen Fährte ist. Und mit welcher Halsstarrigkeit sie weitermarschiert, lässt meine Wut auf sie schlagartig zurückkehren.

»Es gibt da wirklich einiges, was ich wissen will«, ruft sie über die Schulter zurück.

Sie drückt die Glastür auf und lässt sie hinter sich zuschwingen. Ich quetsche mich eilig hinter ihr durch die Tür und auch Kat und Miss Anderson laufen uns hinterher. Sobald ich den ersten Schritt in das Motel setze, spüre ich die Anwesenheit der Engel. Ein seltsamer, rauchiger Geruch hängt in den weitläufigen Gängen. Ich blicke nach rechts auf die ausgetretenen flamingofarbenen Teppichböden, sogar die Wände sind mit dem Zeug beklebt. An vielen Stellen hängen Stücke davon lose herunter und am Boden sind so ausgetretene Stellen, dass man den blanken Beton hindurchsieht. Wenn ich die Augen schließe, kann ich Indie auf diesem Teppichboden krabbeln sehen. Und ich selbst stehe daneben, eine kleine rosafarbene Tasche in der Hand, während Mum mit der Dame an der Rezeption spricht, sich durch das hüftlange rote Haar streicht.

Quatsch, denke ich, man kann sich an gar nichts erinnern, wenn man noch so klein ist. Und trotzdem fühle ich den Stoff von Mums gebatiktem Rock unter den Fingern und den Teppichboden unter den bloßen Füßen.

»Miss Indiana Spencer«, sagt Miss Anderson scharf hinter uns und Indie zuckt zusammen, »die Vorstellung genügt. Wir haben uns schon lange ein Bild über deinen Charakter gemacht und er entspricht genau meinen Erwartungen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Aber genug. Wir sind nicht hier, um Konversation zu betreiben.«

Indie dreht sich nicht um, sondern stützt sich mit beiden Händen auf dem Tresen ab, hinter dem früher die Rezeption war. Ich will sie packen, stattdessen folge ich ihrem Blick. Er ist auf das Schlüsselbrett gerichtet, eine mit rotem Stoff beklebte Sperrholzplatte. Das Motel hat fünfzig Zimmer. Alle Schlüssel hängen da, bis auf einen, den des Zimmers mit der Nummer 44.

»Das war unser Zimmer«, flüstere ich, »früher, als wir hier …«

»Daran kannst du dich nicht erinnern«, sagt Indie heftig, obwohl sie genau weiß, dass ich recht habe.

Der Typ, der unsere Koffer zum Zimmer bringt, denke ich, er hat so schwarze Haut und so strahlend weiße Zähne. Mum trägt Indie auf der Hüfte und ich laufe ihm hinterher. Er streicht mir über den Kopf. »Die 44 ist etwas Besonderes, meine Kleine«, sagt er. »Die 44 bedeutet Unendlichkeit …«

Und ich sehe an ihm hoch. Er trägt Jeans und ein weißes Hemd und auf seiner Brust liegt eine dicke goldene Kette. Er sieht aus, als würde er alles wissen.

»Unendlichkeit«, flüstere ich.

»Ja, meine Kleine.« Er steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Tür. Das Zimmer ist voll mit unglaublicher Helligkeit. Die Sonnenstrahlen tanzen.

»So«, sagt Kat, »ich glaube, wir haben genug gesehen.«

Sie schüttelt ein Minzbonbon aus einer kleinen Dose und steckt es sich in den Mund. »Wir wissen, dass sie hier sind, sie wissen, dass wir hier sind. Deswegen sollten wir jetzt gehen.«

Sie sind in unserem Zimmer, denke ich, im Zimmer der Unendlichkeit. In dem Zimmer, in dem Mum vor über fünfzehn Jahren zum ersten Mal unsere Koffer ausgepackt hat.

Sie haben alles gewusst. Vom ersten Moment an wussten sie, wo wir sind. Sie waren immer da. Shantani am Pool. Lilli-Thi. Sam. Bis uns Granny versteckt und unsere Spuren verwischt hat.

»Los«, sagt Kat, »jetzt raus hier.«

Sie streckt ihre Hand nach Indie aus, doch die taucht einfach darunter weg und rennt los. Sie sprintet den Gang hinunter, und erst zwei Sekunden später beginnen auch wir zu laufen. Unsere Schritte werden vom Teppichboden verschluckt, als würde man über Wolken laufen. An den Wänden kann man an den hellen Quadraten sehen, wo früher Bilder hingen. Jetzt ist da nichts mehr. Alles leer. Wir laufen durch eine weitere Glastür. Indie hat schon die erste Treppe erreicht und hetzt die Stufen hoch und ich wundere mich, wie fit Miss Anderson ist.

Obwohl sie wie immer ihre Mary Janes trägt, kann sie nicht nur locker mit Kat und mir mithalten, nein, sie wirkt sogar, als hätte sie noch jede Menge Reserven. Ihre Bewegungen sind mühelos und geschmeidig.

Was hat sie getan, denke ich, was hat sie zu Sidney gesagt, als Azrael beim Channeln in ihr war und sich als Jophiel ausgegeben hat?

Sag mir deinen Namen … sag mir deinen Namen …

Drei Mal und jedes Mal hatte Sidney »Jophiel« geantwortet, drei Mal, bis Tara dazwischentrat und Sidney endlich aus der Trance erwachte.

Ich bin die Seele, ich bin das vollkommene Licht. Ich bin die Liebe. Ich bin meine eigene Bestimmung.

Was hatte Miss Anderson damit bezweckt? Warum hat sie gerade diese Worte gewählt? Hatte sie Azrael aus Sidney vertrieben? Und wir haben nichts davon verstanden und Indie … Ich halte mich am Treppengeländer fest. Miss Anderson zieht mich zurück. Ich spüre das glatte Leder ihres Handschuhs auf meinem Handrücken.

»Dawna.« Ihr Atem scheint nicht schneller zu gehen als eben noch unten in der Halle. »Geh zum Wagen zurück, fahr nach Hause.«

Ich sehe Kat nach, die noch einen Zahn zugelegt hat, und schüttle den Kopf, da lässt sie mich einfach los und läuft weiter. Je weiter wir nach oben kommen, desto stärker wird der Brandgeruch, und als wir im dritten Stockwerk angelangt sind, habe ich das Gefühl, ich muss mir meinen Schal auf die Nase pressen. Indie ist nicht zu stoppen. Sie läuft den Gang entlang, doch endlich holt Kat auf, sie erreicht vor Indie das Zimmer mit der Nummer 44, stellt sich davor und breitet die Arme aus.

»Wage es nicht«, zischt sie.

»Was!?«, zischt Indie zurück. »Ich denke doch, ihr könnt ein gutes Wort bei Sam und Lilli-Thi für uns einlegen.«

»Wir sind ihm nicht gewachsen«, flüstert Kat, »er ist der Meister.«

Indie versucht, sich an Kat vorbeizudrängen, doch Kat gibt ihr einen Stoß, dass sie mit dem Rücken gegen mich prallt.

»Wecke ihn nicht«, Kats Atem geht stoßweise, »du weißt nicht, was du entfachst. Wenn wir jetzt gegen ihn kämpfen müssen, werden wir verlieren! Er braucht einen Körper! Wenn er einen Körper hat, ist er verletzbar, sein Geist wird uns vernichten! Wecke nie den Geist eines Dämon!«

Kat und Indie starren sich böse an und ich versuche, Indie von der Tür wegzuziehen. Hinter dieser Tür verdichtet sich die Dunkelheit. Sam sammelt seine Kräfte. Mit jedem Atemzug. Und schon jetzt ist er so mächtig, dass er uns alle auslöschen könnte.

»Indie«, flüstere ich beschwörend, »lass den Scheiß. Wir müssen hier weg. Sie spüren es …«

»Wer seid ihr?« Indie beachtet mich nicht. »Wer seid ihr, dass Rag euch unterlegen ist? Ihr habt ihn angesehen und er ist einfach gegangen.«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Miss Anderson hinter uns auf die Knie sinkt. Sie bekreuzigt sich dreimal und berührt dann mit der Stirn den Boden vor ihren Knien. Ihre Finger beschreiben eine Acht auf dem Boden und ihre Lippen bewegen sich. Genauso wie in der Nacht, als wir Sam entbannten. Als Indie den Ford Bronco rammte. Da saß Miss Anderson auf dem Beifahrersitz und ihre Lippen bewegten sich in rasender Geschwindigkeit.

»… Veni Sancte Spiritus et emitte caelitus lucis tuae radium …«

Immer wieder wiederholt sie diesen Satz, während ihre Hand über den Boden streicht und Kat sich mit ihrem Rücken gegen die Tür stemmt. Es brodelt hinter ihr und langsam beginnen Schweißtropfen, über ihre Stirn zu laufen.

»Er wird uns vernichten«, flüstert Kat, »wir werden jetzt langsam zurücktreten. Langsam, versteht ihr. Miss Anderson und Dawna …«

»Wer seid ihr?«, wiederholt Indie.

»Sie nehmen den Weg … und wir …«, ihre Stimme bricht und ich spüre, wie Hitze durch meinen Körper jagt.

Lilli-Thi hat ihn in einer Schale Blut gefangen. Sie wiegt ihn, wie ein Kind. Ihre weißen Hände streicheln seinen Geist, nähren ihn und manchmal hält sie ihn in einer Faust. Gebündelt. An ihr Herz gedrückt. Sie ist schwach, denn noch zieht er alles aus ihr. Sie ist Mutter und Geliebte.

»Komm herab, oh Heil’ger Geist, der die finstre Nacht zerreißt, strahle Licht in diese Welt«, flüstert Kat und die Schweißtropfen perlen in den Kragen ihrer Daunenjacke.

Ihre Pupillen sind riesig und im Weiß ihres Auges scheinen Äderchen geplatzt zu sein.

»… Veni Sancte Spiritus et emitte caelitus lucis tuae radium …«

»Gehört ihr zu Sam? Wollt ihr uns schützen, damit …« Sie stoppt, nimmt Kats linken Arm und Kat lässt es geschehen. Sie schiebt Kats Ärmel zurück und ich will sie nur noch mit mir fortziehen. Weg von hier. Weg aus der Dunkelheit. Die Holzmaserung der Tür scheint sich aufzulösen und tanzt vor meinen Augen.

»Habt ihr die Tätowierung?«, will sie wissen. »Habt ihr die schwarze Feder?«

»… nec laudibus nec timore …« Miss Andersons Stimme schwillt an und hinter der Tür scheint etwas in Bewegung zu geraten.

Ich kann nur auf Kats Arm starren. Da ist keine Feder. Die kaffeebraune Haut an ihrem Unterarm ist unversehrt. Aber ihre Handfläche, ihre weiße Handfläche! Ein Dreieck, die Spitze da, wo sich die Handlinien treffen, und in diesem Dreieck schwebt ein Auge. Sie sehen grob aus, harte Schnitte, die schlecht vernarbt und deswegen deutlich zu erkennen sind.

»Sie hat das Zeichen«, flüstere ich, »sie hat Grannys Zeichen!«

»Nec laudibus nec timore«, flüstert sie, »eine Hüterin beugt sich nicht!«

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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