Pico Torquino, Kuba, 29. Juli 2013

Die Maschinengewehrsalven rattern in der Ferne, irgendwo explodiert eine Bombe, und die wassergesättigte Luft schmeckt nach Pulverrauch.

»Zurück! Alle zurück!«

»Go back! Pull back from the right …«

Es sind zu viele, denkt Dorrotya, während sie ebenfalls zu laufen beginnt. Jeder getötete Dunkle lässt zwei neue aus dem unendlichen Reich des Bösen aufsteigen. Sie sieht sich nach ihrer Schwester Haynalka um, dann entdeckt sie sie vor sich in den dichten Dschungel hineinlaufen, bergab, weg von dem Tor. Die Wurzeln sind so glitschig, dass Dorrotya ins Taumeln gerät und sich an einer Liane festhält. Eine andere Hüterin stolpert an sie dran, dann laufen sie beide weiter bergab, über den ockerfarbenen Boden, das unwegsame Gelände weg vom kubanischen Tor. Adrenalin scheint in der Luft zu liegen, noch ist es keine Panik, aber das Stakkato der gebrüllten Befehle zerrt an den Nerven aller. Vor ihr sieht sie Haynalka schwanken, bei jedem Schritt scheint sie auszurutschen und zu taumeln, nach wenigen Metern sucht sie schließlich hinter einem größeren Felsen Deckung. Schnell springt Dorrotya bergab über mehrere Felsen, lässt sich dann schwer atmend neben Haynalka fallen, während die andere Hüterin weiterläuft. Das Moos ist nass, die hohe Luftfeuchtigkeit nimmt einem fast den Atem.

»Aussichtslos«, keucht Dorrotya, während sie ihre Schwester am Arm packt. »Das Tor hätte schon vor Stunden geschlossen werden müssen, ich will gar nicht wissen …« Sie unterbricht sich selbst, als sie die graue Gesichtsfarbe ihrer Schwester sieht. »Was ist los?«

Haynalka antwortet nicht. Sie lehnt an dem Felsen, ihre Augen sind geschlossen. Ihr stehen Schweißtropfen auf der Stirn.

»Du bist verletzt«, sagt Dorrotya ruhig, als sie die Hand ihrer Schwester sieht, die sie sich auf den Bauch drückt. »Lass mich die Wunde sehen.«

Haynalka schüttelt nur den Kopf.

»Ich bring dich da raus.«

»iAtrás, todos atrás! Pull back!«, hört sie das Geschrei der anderen. »iRetirada!« Jools stolpert über flechtenüberzogene Steine zu ihnen und duckt sich hinter einen Baum.

»Zu hohe Verluste«, zischt Jools Dorrotya zu. »Das Tor ist unmöglich zu halten. Wir müssen es schließen.«

»Die Oberin hat gesagt, auf keinen Fall schließen«, keucht Felicia, während sie sich neben ihre Schwester wirft. »Das hat seine Gründe!«

»Hast du gesehen, wie viele Dunkle aus dem Tor kommen? Wir müssen das stoppen. Sie müssen es schließen«, sagt Jools, ihr Atem geht noch immer viel zu schnell. Sie drückt ihren Rücken an den Baumstamm hinter sich.

»Der Druck auf die anderen Tore wird zu groß, wenn wir es schließen«, flüstert Haynalka. »Ihr habt keine Ahnung, was passieren wird, wenn wir dieses Tor versiegeln.« Sie atmet qualvoll ein.

Keiner hatte Daymara geglaubt, dass die Energieamplitude absolut unvergleichbar war. Das mussten sie jetzt bitter büßen.

»Es wird die Hölle. Das Schließen des Tores bedeutet … dass ihr …« Sie ringt nach Luft. »… den Orden gefährdet. Und die Operation in Whistling Wing.«

Beunruhigt versucht Dorrotya, die Hand ihrer Schwester von der Verletzung wegzubiegen.

»Lass es mich ansehen«, sagt sie sanft.

»Rosibel und Daymara können das Tor nicht mehr schließen«, flüstert Felicia. »Daymara Gonzales ist tot.«

Der letzte Satz hängt wie eine riesige schwarze Blase zwischen ihnen, Dorrotya hebt jetzt doch den Blick vom blutverschmierten Bauch ihrer Schwester. Die Stille zwischen den vier Frauen ist erfüllt von den hektisch zugerufenen Befehlen anderer Hüterinnen, dem Geruch von Tod und Aussichtslosigkeit. Dann springen mit mehreren großen Sätzen Ayasha und Namika über die riesigen Wurzeln, werfen sich neben den vier Frauen auf den Boden.

»So etwas …«, stößt Namika schwer atmend hervor, »so etwas habe ich noch nie gesehen. An keinem Tor. Das ist …«

»Wahnsinn«, bestätigt Ayasha. »Wir bräuchten … wir bräuchten alle unsere Kämpferinnen hier.«

»Nicht einmal dann könnten wir es schaffen«, erwidert Namika und lädt ihre Waffe neu, es klackt aggressiv, als sie das Magazin hineinschiebt.

»Ihr dürft das Tor nicht schließen«, wispert Haynalka. Jedes Wort, das über ihre Lippen kommt, scheint eine Qual zu sein.

»Aber was ist die Alternative?«, will Ayasha wissen. »Wir dürfen das Tor nicht kampflos aufgeben. Wir dürfen die Dunklen nicht in die Welt lassen.«

»Wir müssen verhindern, dass …« Namika unterbricht sich, sieht Haynalka prüfend an.

»Nicht. Das. Tor. Schließen«, stößt Haynalka mit letzter Kraft hervor.

Alle verstummen, sehen betreten von Haynalka zu Dorrotya.

»Haynalka«, flüstert Dorrotya. Ihre Umarmung wird fester. »Ich bring dich da raus. Ich verspreche es dir …«

Alle blicken an ihr vorbei in das dichte Unterholz, unfähig, dem Leid der Schwestern in die Augen zu sehen. Es gibt keine Hoffnung für Haynalka. Ihr Gesicht wird grau und ihr Blick starr.

»Haynalka«, wispert ihre Schwester immer und immer wieder, während der Tod unbeirrbar seine Finger ausstreckt.

Über sich hören sie Vogelschwingen, ein riesiger Schwarm der Dunklen erhebt sich über dem dichten Urwald, verfinstert die Sonne und strebt einem neuen Ziel entgegen.

Whistling Wing.

Als Dorrotya ihren Blick hebt, ist dieser entschlossen.

»Schließt das Tor«, sagt sie, an keinen bestimmten gerichtet.

»Daymara ist tot«, wiederholt sich Felicia.

Nur ein Schwesternpaar kann ein Tor endgültig schließen, es für immer für das Böse versiegeln. Jools schüttelt den Kopf, sie weicht dem Blick von Dorrotya aus.

»Ich kann es nicht tun«, sagt Dorrotya ruhig. Ihre Arme schließen sich fester um die Schultern ihrer toten Schwester. »Tötet Rosibel.«

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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