Pico Torquino, Kuba, 29. Juni 2013

Der Dschungel fordert alles zurück, denkt Rosibel Gonzalez. Nichts von dem, was wir erschaffen, wird Bestand haben, in rasender Geschwindigkeit schluckt die grüne Hölle alles Menschliche. Sie lehnt sich in ihrem Schaukelstuhl zurück, in den Armen ihre Enkeltochter Mercedes, die mit offenem Mund schläft, so entspannt, wie es nur sehr kleine Kinder tun. Erst vor wenigen Tagen war sie ein Jahr alt geworden. Ihr Blick schweift zu ihrer Tochter, die ihr Baby stillt, die kleine Maria.

Es geht trotzdem immer weiter, mit Mercedes und Maria, die genau wie meine Schwester und ich das Tor bewachen werden. Ihre Tochter Ignatia sieht hoch und lächelt, als sie den Blick ihrer Mutter auf sich spürt. Nie hat sie sich vorstellen können, dass sie diesen Babys so viel Liebe entgegenbringen könnte.

Die vertrauten Geräusche des Dschungels erfüllen sie mit einer Macht, die ihr fast den Atem nimmt. Ja. Das ist mein Leben, denkt sie. Die Vögel flöten und kreischen draußen, im grünen Dämmerlicht der hohen Bäume, Frösche quaken und leise dringt der Toco-rols-Ruf des Tocororos ins Haus. Der halb zahme Papagei auf der Veranda krächzt plötzlich lautstark los, mehrmals schreit er »Que?« über die kleine Lichtung.

»Rosibel«, hört sie die Stimme ihrer Schwester Daymara. »ROSIBEL.«

Sie muss lächeln. So klingt ihre Schwester immer, wenn sie durch irgendetwas beunruhigt ist. Meist sind es ihre Messgeräte, die angeblich die hohe Luftfeuchtigkeit nicht ertragen, oder der Computer, der mit großer Regelmäßigkeit spinnt. Manchmal auch nur die Schuhe, »beschissene schimmelnde Schuhe«, schreit Daymara dann auf der Veranda.

»Rosibel.« Daymara hat leuchtend rote Wangen, als sie durch die Tür stürmt. Eine tintenschwarze Haarsträhne hat sich aus ihrem langen schwarzen Zopf gelöst und ringelt sich um ihren Hals wie eine Schlange. Obwohl sie auch über vierzig Jahre alt ist, hat sie nichts von ihrer jugendlichen Ausstrahlung verloren, noch immer ist sie voller Tatendrang, begeisterungsfähig und körperlich fit. Das Baby lässt Ignatias Brust los und beginnt, gellend zu schreien.

»Schsch«, macht Ignatia und drückt ihm die Brustwarze wieder in den Mund.

Daymara senkt ihre Stimme, aber auch jetzt merkt man ihr an, wie aufgelöst sie ist. »Das Tor. Es geschieht etwas.«

Rosibel schüttelt den Kopf. Daymaras Wahn, ständig irgendwelche Frequenzen von irgendwelchen Strahlungen zu messen, ist manchmal schwer zu ertragen. Die kleinste Abweichung von der Normalität konnte Daymara dazu bringen, darüber während des ganzen Abendessens wildeste Theorien zu äußern.

»Das ist mein Ernst. Steh auf und sieh es dir an«, fährt sie Rosibel an. Ihre Messsonden wirft sie einfach auf den Küchentisch, eines der Geräte rutscht über die gesamte Tischplatte und schlägt auf dem Fußboden auf. Beunruhigt über so viel Impulsivität steht Rosibel nun doch auf. Vorsichtig legt sie die schlafende Mercedes auf das weiße Eisenbett. Der Papagei krächzt noch einmal »Que?« und plötzlich verstummen die Geräusche des Dschungels. Ein dumpfes Donnern scheint ein Gewitter anzukündigen. Mit einem ärgerlichen Ausruf zieht Daymara das Geschirrtuch von ihrem Seismografen. Die Schwestern stehen davor, die Nadel, die mit einem leichten Scharren über das Papier fährt, beginnt zu zittern, schlägt nach oben und unten aus, der Ausschlag nimmt in beide Richtungen zu, bis sich die Nadel wieder beruhigt.

Leichtfüßig eilen sie beide über die Veranda, Rosibel beunruhigt, dass Daymara keines ihrer Messgeräte mitnimmt.

Wie oft war sie den ockerfarbenen Weg bis zum Tor gegangen, das Rauschen des Wasserfalls im Ohr. Immer dasselbe und doch immer anders. Wie die Ewigkeit, ein Kontinuum. Fein zerstäubte Wassertropfen hängen zwischen den Ästen, das bekannte Flöten der Vögel und die Rufe der Amphibien schwellen wieder an. Jede der rutschigen Wurzeln kennt sie, sie weiß, wie viele Schritte sie noch hat bis zum Tor. Der Dschungel verschluckt sie, im Laufschritt nehmen sie die leichte Steigung, dann spuckt der Dschungel sie wieder aus. Die Hochfläche ist wie immer, aber Rosibel ist inzwischen voll und ganz von Unruhe erfüllt. Daymara nimmt ihre Hand, sie ist kalt, obwohl es so heiß ist, und schweißnass.

Eine leichte Erschütterung erfasst Rosibels Körper. Der Stein liegt über dem Tor wie an jedem der Tage, an dem sie ihn kontrolliert hatte. Neunundzwanzig Jahre inzwischen. Neunundzwanzig Jahre, seit sie die dunkle Energie zurückgedrängt hatten. Tag für Tag hatte an diesem Tor Ruhe und Frieden geherrscht. Das Vibrieren, das Rosibel jetzt tief in ihrem Bauch spürt, ist nur schwach, aber es lässt sie sofort umkehren.

Die beiden Kinder schlafen, Ignatias müder Blick richtet sich auf ihre Mutter.

»Du musst Kuba verlassen. Jetzt sofort. Nimm die Kinder und geh. Du hast keine Zeit, Ignatia.«

Ignatia sagt nichts, sie fragt nichts. Mit einer sanften Bewegung legt sie das Baby neben Mercedes und beginnt, das Nötigste zu packen.

Rosibel schiebt den Schaukelstuhl in die Ecke des Zimmers und öffnet eine Falltür. Dort in der Dunkelheit liegen all die Waffen, die sie nie gebraucht hatten.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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