Indie
Es ist abnehmender Mond. Der Schatten der Erde schneidet ihn in zwei Hälften, die dunkle und die helle, und wenn man lange genug die Scheibe ansieht, bemerkt man, dass sie zusammengehören. Der Schatten und das Licht. Das fahle Leuchten ergießt sich über die nächtliche Landschaft, macht aus den vertrauten Konturen eine unheimliche Bühne.
Seit wir Rudy, Vince und Beebee hinter uns gelassen haben, sprechen wir nicht mehr miteinander. Es gibt nichts mehr zu sagen, nichts, was uns jetzt helfen könnte. Wenn wir diese Nacht überleben, wird nichts mehr sein wie zuvor.
Der Motor des Navaras erstirbt, als Dawna vor dem Friedhof stehen bleibt. Die Mauer leuchtet gespenstisch weiß im Dunklen. Die eine Hälfte des Friedhofstors hängt noch schief in den Angeln, die andere liegt einige Meter davon entfernt auf dem Parkplatz, komplett verbogen.
Wenn du jetzt sagst: »Indie, was ich dir schon immer sagen wollte«, dann springe ich aus dem Auto und fange zu schreien an, denke ich, aber Dawna sagt gar nichts. Stattdessen holt sie eine Zigarette aus dem Handschuhfach und zündet sie an. In ihrem Gesicht flackern für einen Moment die Schatten, die das Licht des Feuerzeugs macht. Als die Kippe brennt, reicht sie sie an mich weiter. Unsere Blicke treffen sich, dann nehme ich einen Zug und beginne zu husten. Ich lasse die Fensterscheibe runter und atme die klare Luft von draußen ein.
Der Duft unserer Sommer in Whistling Wing hüllt uns plötzlich ein.
Beruhigend und sentimental. Vertraut und unwirklich.
Noch immer kratzt der Rauch in meinem Hals. Dawna nimmt mir die Zigarette ab, der tiefe Zug, den sie inhaliert, bringt sie nicht zum Husten. Hin und wieder blickt sie den Weg zurück, den wir gekommen sind, als würde sie auf jemanden warten. Ich tue so, als würde ich es nicht bemerken, als würde die Trauer über Miley mir nicht auffallen. Die weite dornige Fläche bleibt leer, ausgestorben liegt sie hinter uns.
Plötzlich ist die Luft von einem Geräusch wie von tausend Flügeln erfüllt. Das Rauschen und Flattern von Vögeln, die einen Landeplatz suchen. Ich lasse die Scheibe wieder heraufsurren und presse meinen Rücken fest in den Autositz.
Der Zeitpunkt ist gekommen.
Sie werden auf dem Friedhof landen, einer nach dem anderen, eine Kohorte nach der anderen. Träge beobachte ich ihren gleichmäßigen unaufgeregten Flug, sie sammeln sich, als hätten sie alle Zeit der Welt. Wie in einem Traum gleitet alles an mir vorbei, die riesigen Vögel scheinen Staub aufzuwirbeln. Als hätte ein Sandsturm die trockene Erde erfasst, steigen Wolken in den Himmel, nehmen die Sicht auf den Mond. Wir erkennen nicht, wo sie landen. Irgendwo hinter der Mauer lassen sie sich nieder und werden sich verwandeln. Mit jedem Vogel wächst der Druck auf meine Narbe, die Schmerzen drücken sich ins Fleisch wie heißer Stahl.
Ich muss nicht zu ihr sehen, um zu wissen, was sie tut. Auch sie lehnt sich zurück und konzentriert sich darauf, meine Narbe zu schützen. Es fühlt sich gut an und es ist ein irres Gefühl, im Auto zu sitzen, wie in einem Kokon, und die Wirklichkeit draußen zu beobachten, als würde sie einen nichts angehen.
Unruhe erfasst mich, so als hätte ich jetzt erst bemerkt, dass wir etwas übersehen haben. Irgendetwas ist nicht so, wie wir uns das gedacht haben.
»Wir werden die Prophezeiung erfüllen«, sagt sie nur, als würde das meine Frage beantworten.
Nach gefühlten Ewigkeiten bricht der Strom der Vögel ab, Dawna nickt mir jetzt zu. Ich sehe auf meine Uhr.
Elf Minuten vor Mitternacht.
Noch elf Minuten, und ich werde achtzehn Jahre alt sein.
Wir haben in den letzten Tagen so oft darüber gesprochen, was zu tun ist, dass zwischen uns kein Wort mehr fallen muss. Das Tor muss geöffnet werden, damit es durch den gewaltigen Energiestrom nicht unkontrolliert explodiert. Der Energiestrom muss neutralisiert werden. Danach ist das Leben von Dawna gefährdet, denn ab diesem Zeitpunkt braucht Azrael Dawna nicht mehr. Im Gegenteil, ab diesem Zeitpunkt kann sie ihm nur gefährlich werden. Die Dunklen werden versuchen, sie zu töten. Auf jeden Fall werden sie versuchen, uns zu trennen, um Dawnas Möglichkeiten, meine Narbe zu schützen, zu verhindern.
Gabe ist auf unserer Seite, wiederhole ich im Stillen. Gabe und seine Kohorte.
Aber nachdem ich den unendlichen Strom der Dunklen gesehen habe, die sich jetzt auf dem Friedhof formieren, scheinen mir Gabe und seine Kohorte nur ein winziger Teil davon zu sein.
Und was, wenn sie ihn enttarnt haben?
Dawna steigt aus dem Auto und legt ihren Waffengurt an. Sie bindet sich ihre Haare mit einem Haargummi straff aus dem Gesicht und schnallt sich ein Schulterholster um. Gänsehaut fließt über meinen Körper, als auch ich das Auto verlasse. Ich werfe das Wadenholster zurück in den Navara, es stört mich nur beim Kämpfen. Noch einmal sehe ich auf die Uhr.
Neun Minuten vor Mitternacht.
Es läuft alles nach Plan. Nach unserem Plan.
Wir nicken uns zu, auch Dawna hat noch einmal auf ihre Uhr gesehen. Dann laufen wir auf das Friedhofstor zu.
Jeden Gedanken ausschalten. Jedes Gefühl ausschalten. Es geht nicht mehr um Dawna oder mich. Es geht jetzt nur noch darum, unser Ziel zu erreichen, es darf keine Gefühle mehr geben, auch wenn danach unser Leben zusammenbricht.
Der leichte Wind wiegt die hohen Grashalme und erfüllt die Luft mit dem Geruch nach Heu.
Dicht an dicht stehen die Dunklen hinter unserem Grab. Sie ignorieren uns bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie andere Befehle erhalten.
Jeder Dunkle, den wir jetzt erschießen, wird keine Chance mehr haben, uns zu trennen oder Dawna zu töten.
Trotzdem gehen wir einfach auf unser Grab zu, ignorieren die Dunklen. Wir bleiben bei Mr Dentons Grab stehen, ein paar Meter vor unserem. Wie ein Wall scheint vor den Dunklen die Aggression zu wabern, wie Nebel an einem Herbstag. Mein Herz beginnt zu hämmern.
Noch sieben Minuten bis Mitternacht.
»Ich weiß es zu schätzen …«, sagt eine wohlbekannte Stimme genüsslich und meine rechte Hand schließt sich um den Griff der Beretta, die an meiner Hüfte klebt, und wie von selbst rutscht mein Finger zum Abzug, »… wenn ich mich auf jemanden verlassen kann.«
»Samael«, antwortet Dawna nur im selben Plauderton wie Samael. Erst jetzt sehe auch ich ihn.
In der Gestalt von Sam Rosell erhebt er sich vom Grab, bleibt aber dort stehen und sieht uns entgegen.
Ich mach ihn platt, denke ich mir, den Finger am Abzug der Beretta. Obwohl ich weiß, dass man ihn nicht töten kann, dass es verschwendete Munition ist, auf ihn zu schießen. Dawnas Wärme kriecht über meine Finger in meinen Bauch und hindert mich daran, die Waffe zu ziehen.
»Schätzchen, ich wusste, dass wir uns keine Sorgen machen müssen.«
Für einen kurzen Moment denke ich, dass er Dawna mit »Schätzchen« anspricht, dann zieht er eine Frau an seine Seite und legt ihr jovial den Arm um die Schulter. »Auf die zwei Mädchen ist Verlass.«
Dawna bewegt sich keinen Millimeter, kein Geräusch kommt über ihre Lippen. Sie ist in eine friedliche Wolke gehüllt, die jeden ihrer Gedanken schluckt, selbst ich kann nicht hindurchsehen. Nur mein Herz scheint gerade zu explodieren.
Es ist Mum.
Sie steht neben ihm, ihre Augen auf etwas gerichtet, das nicht existiert, uns beachtet sie nicht.
Mein Zeigefinger am Abzug rutscht heraus, meine Hand sinkt kraftlos an der rechten Seite herab. Das also ist der Grund, dass er Mum entführt hat. Er hat alles bis ins kleinste Detail geplant und die Gefahr, dass wir hier alle Dunklen ummähen, während sie nichts gegen uns unternehmen können, ist scheinbar einfach zu groß.
»Mum«, sagt Dawna mit fester Stimme. »Wie geht es dir?«
Mein Blick gleitet von einem Dunklen zum nächsten, ich versuche, Gabe und sein Gefolge auszumachen. Es sind unendlich viele der Dunklen, unwahrscheinlich attraktive, muskulöse Männer, die mit düsterer Miene geradeaus starren und auf ihre Befehle warten. Aber ich finde ihn nicht.
»Mum«, wiederholt sich Dawna. »Ich bin’s. Dawna.«
Rag ragt aus der Menge heraus wie ein Fels, größer als alle, von einer knisternden Aggression gefüllt.
»Wir holen dich da raus. Versprochen«, fährt sie fort, als wären hier nicht Hunderte von Dunklen und ein Dämon namens Samael.
Mein Blick gleitet weiter. Jophiel steht in vorderster Front. Und an der anderen Seite von Mum entdecke ich Pius.
Kein Gabe.
Keine Lilli-Thi.
»Komm einfach zu uns.« Dawnas Stimme klingt, als würde sie lächeln. »Mum. Hörst du mich?«
»Sie will, dass du wieder auf ihre Seite wechselst, Schätzchen«, sagt Sam mit sanfter Stimme und auch er lächelt. Das Lächeln ist ungemein einnehmend und sympathisch und die Wut auf ihn verschlägt mir den Atem. »Mädchen, wir sind nicht auf verschiedenen Seiten, das muss euch doch langsam klar geworden sein.«
Er nimmt seinen Arm von Mums Schulter, so als wolle er ihr die Entscheidungsfreiheit überlassen, wohin sie gehen will.
»Eurer Mum war es schon immer wichtig, einen Mann an ihrer Seite zu haben«, seine Stimme wird zu einem Flüstern, »einen Geliebten.«
Ein unauffälliger Blick auf die Uhr. Vier Minuten bis Mitternacht.
»Halt die Klappe, Sam«, sage ich rau. »Lass es uns einfach tun.«
Eine kleine Bewegung in der Menge lässt mich den Blick wenden. Der Einzige, der nicht mehr starr nach vorne sieht, ist Rag. Er sieht mich an und ich versuche, ihn zu ignorieren.
»Gut gesprochen, Mädchen«, sagt Sam.