39

Dawna

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Sie sind da!« Miss Anderson reißt mir energisch das weiße Gewand vom Leib, während ich auf Emma starre, die vor uns auf dem Boden liegt. Mum hat sie gepackt und versucht, sie aufzurichten. Miss Anderson drückt mir meine Klamotten gegen die nackte Brust. »Es geht los!«

»Wir werden Emma und eure Mutter schützen. Wir werden den Wagen verteidigen … bis zum Äußersten …«, erklärt Kat, die Indie hilft, ihre Sachen anzuziehen. Sie legt ihr einen Waffengürtel um die Hüften und zieht ihn fest. Miss Anderson reicht auch mir einen Gürtel, er fühlt sich schwer und gut an, als ich ihn festschnalle.

»Das macht keinen Sinn«, Emma öffnet die Augen. Ihr Blick ist verschleiert, »ich werde sterben. Helft den Mädchen. Ihr müsst ihnen helfen, die …«

»So ein Quatsch!«, sagt Indie. »Wir brauchen sie nicht. Wir gehen jetzt da raus und machen sie fertig. Los, Dawna.«

Das Kreischen der Frauen schwillt an. Heulen mischt sich darunter. Das Heulen der Wölfe, die in den Kampf gehen.

»Wir müssen nun Seite an Seite stehen …«, höre ich Diegos Stimme, »… nur so können wir den Stamm retten. Nur wenn wir eins sind. Mensch und Wolf vereint …«

Seine letzten Worte gehen in einem Aufschrei unter. Ich filtere Chakals Stimme heraus, er ruft seine Männer, ich höre die Namen Chilali und Amaroq, Liluye, Iye und Sirin, er befiehlt ihnen, die vorderen Seiten des Lagers zu schützen, dann schwillt das Heulen an und verschluckt alles andere. Mein Herz setzt einen Schlag aus, denn ich weiß, dass die Engel nun das Lager erreicht haben.

»Ich werde sowieso sterben«, macht Emma einen letzten Versuch, doch diesmal schneide ich ihr das Wort ab.

»Wir werden sie aufhalten. Ich verspreche es dir. Du wirst nicht sterben. Wir brauchen dich.«

Es ist keine Zeit für unser Wiedersehen, doch eine Welle des stummen Einvernehmens schwappt über Emma und mich. Sie lächelt.

»Gut«, sagt sie. »Gut.«

Indie und ich stehen voreinander, unsere eng anliegenden, weißen T-Shirts sind mit unserem Blut verschmiert. Kat will uns unsere Anoraks reichen, doch ich schüttle nur den Kopf und stecke mir das Messer, das immer noch zwischen uns gelegen hat, in den Waffengürtel. Miss Anderson legt mir die Hand auf den Arm.

»Ihr wisst, was zu tun ist, um Emma zu retten«, sagt sie.

Wir nicken stumm.

»Findet Lilli-Thi. Nur sie kann die Todeskoordinaten verändern.«

Noch nie brannte ein Gefühl wie dieses in meinem Körper. Es fließt vom Auge der Hüterinnen über meinen Rücken in meinen Kopf genau in den Punkt zwischen meinen Augen. Dort sitzt es wie ein glühendes Mal. Ich bin hellwach, mein Geist so klar, als wäre ich gerade erst geboren. In der längsten Nacht des Winters. In der Stunde, als die Welt am dunkelsten war. Die Tür knallt gegen den Wagen und ich blicke in Diegos und Dusks Wolfsaugen. Die Comtesse steht aufrecht neben ihnen. Sie sehen das Blut auf unseren Körpern und an unseren Händen und wissen, dass die Initiation geglückt ist. An uns vorbei laufen Frauen und Kinder, sie laufen geduckt und schlängeln sich an den Wagen vorbei, Wölfinnen sind unter ihnen, aber keine Männer.

Wir springen vom Wagen, ich lege meine Hand auf Dusks breiten Wolfsschädel und spüre, wie meine Kraft in ihn hineinfließt. Er senkt seinen Kopf. Prinzessin, flüstert es um mich herum. Dann beginnen wir, in die Gegenrichtung zu rennen, weg von den Frauen, die versuchen, sich und ihre Kinder zu retten. Weit vor uns geht ein Wagen in Flammen auf, dann ein zweiter, ein dritter. Der Schein des Feuers färbt den Himmel orange.

»Sie brennen alles nieder!« Indie läuft neben mir.

Wir tauchen in die Irrgänge der Wagenburg, Dusk und Diego hetzen vor uns her. Wo die Comtesse ist, weiß ich nicht und ich hoffe, dass sie bei Emma, Mum und den Hüterinnen geblieben ist. Dusks und Diegos große Wolfskörper schlagen alles zur Seite, was uns in den Weg kommt. Werden die Hüterinnen es schaffen, den Wagen zu verteidigen? Sie werden es nur schaffen, wenn wir die meisten der Engel vernichten. Indies Gedanken sind in meinem Kopf, als wären es meine eigenen, noch stärker und klarer als in unseren Sommern, noch stärker als in der Zeit unserer größten Nähe. Wir haben es geschafft. Ich greife nach ihrer Hand. Du hast es geschafft. Du konntest mir verzeihen.

Wir überqueren den dritten Ring des Lagers, jetzt sehe ich ihn genau vor mir, den Plan des Lagers, als hätte ich ihn auf einer geheimen Karte gespeichert, die fünf Ringe, die den Kern des Lagers fest umschließen, den heiligen Mittelpunkt, den Raum, der für alle verboten ist, denen nicht nachdrücklich der Einlass gewährt wurde. Wir laufen auf die brennenden Wagen zu, Rauch steigt mir in die Kehle, in die Augen, denn dort sind die Engel eingedrungen, dort kämpfen Chakals Jäger, die stärksten Wölfe des Stammes werden dort ihr Leben lassen. Meine Beine sind leicht. Wir lassen unsere Hände los und ziehen gleichzeitig unsere Glocks aus dem Gürtel. Ich weiß, dass ich kein Problem mehr habe zu treffen. Wir laufen im Gleichschritt, den Blick auf den Schein des Feuers gerichtet, rollen uns unter einem aufgebockten Wagen durch, überqueren so den zweiten Ring und kommen im ersten, breitesten Ring zum Stehen. Sofort sind wir wieder auf den Beinen und Indie gibt ihren ersten Schuss ab. Der Knall lässt die Kämpfenden auseinanderfahren. Ich erkenne Pius und Rag, seine Laseraugen richten sich sofort auf uns. Dusk und Diego sprinten über den Platz und kommen Chakal zu Hilfe, der gegen einen anderen Dunklen kämpft. Doch bevor sie ihn erreichen, hebe ich meine Glock und schieße mein Magazin leer.

Wirbelnde schwarze Federn nehmen uns für einen Moment die Sicht. Ich habe getroffen und der Engel, der eben noch Chakal in der Mangel hatte, löst sich in Rauch und Federn auf. Indie und ich tauschen einen Blick. Der Platz ist übersät von kämpfenden Wölfen. Ihr Blut färbt den Schnee dunkel, die Rauchwolken sind so dicht, dass mir die Lunge brennt. Lilli-Thi konnte ich nicht entdecken. Ich lade die Glock nach, Schweiß steht auf meiner Stirn und läuft in den Ausschnitt meines T-Shirts. Aus den Augenwinkeln sehe ich eine dürre Wölfin vorbeihetzen und erkenne in ihr die Wölfin, die uns nicht zu Emma vorlassen wollte. Sie muss einen Schlag abbekommen haben, denn ihre gesamte linke Körperseite ist blutüberströmt. Ich umfasse die Glock mit beiden Händen und rolle mich hinter der Tonne hervor, ich gebe mehrere gezielte Schüsse ab, doch sie gehen ins Nichts, zu nahe sind Dusk und Diego an Rag, als dass ich ihn gefahrlos treffen könnte. Die Engel versuchen, an den Wölfen vorbeizukommen, ich weiß, was sie im Blick haben, sie sehen die Wölfin im zweiten Ring verschwinden, ihr Schmerz hat sie kopflos gemacht, sie wird ihnen den Weg zu den Frauen und Kindern zeigen. Und zu Emma. Sofort lassen die Engel von den Wölfen ab und setzen sich in Bewegung. Zurück! Wieder schnellen Indies Gedanken in meinen Kopf. Wir stellen sie im zweiten Ring!

Ich sehe, wie Indie an einem großen verbretterten Wagen vorbeihuscht, ein Durchlass, der kaum groß genug ist, um hindurchzukommen. Auch ich renne los. Ich kann nicht mehr auf Dusk und Diego achten, ich muss schneller als die Engel sein. Ich umrunde die Wagenreihe, bis sich ein Spalt zwischen den Brettern bietet, durch den ich mich durchdrücken kann. Mittlerweile hat das Feuer auf die komplette erste Wagenreihe übergegriffen. Wenn wir nicht aufpassen, wird es sich rasend schnell um das Lager ziehen und uns alle verbrennen. Doch die Wölfe sind klug, denke ich, es muss doch Fluchtwege geben, von denen wir nichts ahnen.

Ich halte einen Moment inne. Die Kampfgeräusche von der anderen Seite des Ringes werden leiser, dafür wird das Prasseln des Feuers lauter.

Indie! Wo bist du?

Ich versuche, meinen Atem in den Griff zu bekommen und mich daran zu erinnern, was ich gelernt habe. Ich laufe zu einem Wagen, der schief zwischen den anderen steht, und ziehe mich am Dachvorsprung hoch. Ich schwinge mein Bein über den Rand, es kostet mich kaum Anstrengung, nur die Initiationswunde beginnt wieder zu bluten, ich kann die dunklen Flecke im Schnee sehen. Geduckt laufe ich den zweiten Ring entlang, von hier oben kann man alles überblicken, es sieht genau so aus, wie ich mir das Lager vorgestellt hatte. Ein Ring geht in den anderen über, dazwischen ein Labyrinth aus Gängen, Winkeln, verschachtelten Gassen. Es ist unmöglich, sich darin zurechtzufinden. Hinter mir schlagen die Flammen meterhoch in den schwarzen Nachthimmel. Wo ist sie? Wo ist Lilli-Thi?

Hinter mir höre ich die Engel, die den ersten Ring durchbrechen, und ein lautes Aufheulen zeigt mir, dass die Wölfe ihren Plan ändern, auch sie verteilen sich, versuchen, einen Vorsprung zu erlangen, um dann wieder geballt angreifen zu können. Chakal wird seine Kämpfer auf die andere Seite des Lagers schicken, dort werden sie sich sammeln. Weder Indie noch Lilli-Thi kann ich entdecken, während ich von Wagen zu Wagen springe, mit einem großen Satz schaffe ich es zum dritten Ring hinüber und endlich, im Halbdunkel der engen Gänge, sehe ich Lilli-This dunkle Gestalt, ich ahne sie mehr, als dass ich sie wirklich erkenne, ihren zierlichen Körper in der schwarzen Ledermontur, das wehende, aufgetürmte Haar. Zielstrebig bahnt sie sich ihren Weg durch den Schnee, als könnte sie Emmas Spur blind folgen. Der grimmige Wille zu töten setzt sich in meinen Kopf, ich bewege mich lautlos, der Schnee auf den Dächern dämpft meine Schritte. So schnell ich kann, überquere ich mehrere Wagen und komme mit Lilli-Thi auf gleiche Höhe. Ich spüre das Initiationsmesser durch meine Jeans, durch den Gürtel heiß an meiner Hüfte. Es scheint sich durch ihre Gegenwart aufzuladen und in meinem Kopf formt sich das, was ich tun muss. Mit Schwung springe ich ab, zwischen Wäscheleinen mit bunten Tüchern, einem Gewirr aus Stoffen, komme ich zum Stehen, ich reiße die Glock hoch, da trifft mich ein unvermuteter Schlag von der Seite und meine Waffe schlittert unter den Leinen hindurch, außer Reichweite. Lilli-This Stiefel verschwinden und ich bin mit einem Satz wieder auf den Beinen.

Ich weiß, wer mich zu Fall bringen wollte.

Es ist Gabe.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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