46° 59’ 51,086’ N, 110° 57’ 34,29’ W
Mount Monarch

Als sie aufwacht, steht Elin neben ihrem Bett.

»Du hast gesprochen«, zischt sie, »du solltest den Mund halten. Du solltest nicht hier sein. Du …«

Ihre schwarzen Augen glühen in der Dunkelheit.

»Du hast ihre Namen genannt und du weißt, dass das Böse von diesen Namen angelockt wird. Also halt den Mund.«

Der Wind treibt Schneeflocken gegen das kleine Fenster. Sie bleiben kleben. Bald wird man nicht mehr hinaussehen können, so dicht wird der Sturm sie gegen das Fenster treiben. Sie dreht sich von Elin weg und zieht sich die Decke über den Kopf. Ohnmacht füllt ihr Herz.

»Geh weg.« Ihr Körper ist nass vor Schweiß. »Lass mich zufrieden.«

Sie hört, wie Elin zu ihrem Bett hinübergeht und sich daraufsetzt und wartet, dass ihr Atem ruhiger wird. Die Träume haben sie gefunden. So lange war sie sicher davor. So lange war ihr Schlaf ruhig und bleiern gewesen. Keine Erinnerung. Nichts. Sie hatte sich ins Bett gelegt und hatte sich gefragt, ob sich der Tod genau so anfühlen würde. Eine Zeit, in der die Gedanken stillstanden und die Erschöpfung sie mit fortriss.

Barmherzig, hatte sie gedacht, der Schlaf ist die Barmherzigkeit.

Manchmal hatte sie tagelang geschlafen. Sie hatte aufgehört, auf Nachricht zu warten. Und irgendwann war sie sich sicher gewesen, dass keine Nachricht mehr kommen würde. Dass sie es geschafft hatten. Dass sie den Plan nicht mehr brauchen würden. Und dann. Eines Nachts wachte sie auf und wusste: Es ist so weit. Seitdem schlief sie fast nicht mehr. Sie hielt sich wach und die Träume damit fern.

Elin hasst sie. Elin spürt ihre Gedanken und manchmal hat sie Angst, dass Elin ihre Gedanken lesen kann. Sie ist jung und ihr Geist irrt umher wie ein hungriges Wiesel. Schnell, mit spitzen kleinen Zähnen. Vielleicht kann sie mitten in ihr Herz blicken. Vielleicht weiß sie alles und hasst sie deswegen. Sie fragt sich, warum Chebs Wahl genau auf diese Frau gefallen war. Warum musste sie den Wagen mit der Frau teilen, die sie am meisten hasste? Warum nicht eine von denen, die sie nur stumm ansahen, wenn sie durch das Lager ging, die ihr nachblickten, aber nicht redeten? Sie akzeptierten Chebs Entschluss, fanden sich damit ab. Vielleicht, weil Elin eine von Chakals Frauen ist. Aber auch Chakal ist ihr nicht gut gesonnen. Wenn es nach ihm ginge, wäre sie längst nicht mehr hier, und sobald Cheb nicht mehr ist … sie schiebt diesen Gedanken fort. Cheb führt den Klan schon seit Jahrzehnten an und Chakal wird hoffentlich noch lange genug warten müssen, bis er sein Nachfolger wird, denn die Regeln sind klar, erst wenn Cheb stirbt, ist die Reihe an Chakal. Zumindest hofft sie das. Sie hofft, dass das Glück einmal auf ihrer Seite ist. Chakal kommt nicht mehr in Elins Wagen, seit sie da ist. Manchmal geht er vorbei und lässt seinen Blick umherschweifen. Er sieht nicht aus wie Cheb in dem Alter, er ist kleiner, gedrungener, sein Haar ist schwarz und drahtig und sein Gesicht von der Sonne gegerbt.

»Du wirst den Wagen mit ihr teilen«, hatte Cheb zu Elin gesagt. An dem Tag, an dem sie hier ankam. Müde, nach dem weiten Weg durch die unendlichen Berge, die Wälder. Sie hatte das Gefühl, die halbe Welt durchquert zu haben. Cheb stützte sich auf den Stock mit dem silbernen Wolfskopf und sie fragte sich, wie lange er noch so hier stehen würde. Wie lange er seine Leute noch zusammenhalten konnte. Der Wind trieb die ersten Schneeflocken durch das Winterlager. Eisige Schneeflocken und einer sagte: »Warum weiß sie davon? Warum hast du sie von Chakal herbringen lassen?«

Die anderen wurden unruhig und sie bekam Angst, dass Cheb sie nun doch fortschicken und sich nicht an den Vertrag halten würde. Die Müdigkeit riss an ihren Beinen und doch versuchte sie, sich aufrecht zu halten. Ja, Chakal hatte sie durch die Berge geführt. Er hatte am Treffpunkt gewartet, aber er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich nur an die Regeln hielt, weil er sich daran halten musste. Wenn es nach ihm ginge, hätte er sie da draußen umgebracht. Sie wusste das. Sie spürte es, den ganzen Weg lang.

»Der Platz ist heilig«, sagte der eine, »keiner weiß davon. Niemand darf hierherkommen. Dies ist die Abmachung.«

Chakals Blick verfing sich mit ihrem und sie konnte sehen, was er dachte.

Du bringst das Unglück, alte Frau, dachte er, das Unglück, das uns bis jetzt nicht finden konnte. Meine Schwester, Kalo, haben wir weggeschickt. Und jetzt müssen wir dich dulden.

»Du wirst den Wagen mit ihr teilen«, wiederholte Cheb.

Elin widersprach nicht. Sie räumte das eine Bett und nahm ihre Kinder zu sich in ihr eigenes Bett hinüber. Sie zog einen Vorhang quer durch den Wagen, er war aus bunten Tüchern zusammengeheftet. Doch nur Elins Seite war bunt. Die ihre schwarz.

»Mondglanz, so ist dein Name«, hatte sie zu Elin gesagt, an ihrem ersten Abend, und Elin hatte sich weggedreht. Ihr schwarzes, langes Haar fiel vor ihr Gesicht und sie konnte den Ausdruck darin nicht deuten. Jetzt weiß sie, was es war. Angst. Entsetzen.

Sie murmelt ein Gebet, das Vaterunser, es hilft dabei, dass die Bilder undeutlicher werden, dass sich der Traum zurückzieht und langsam verschwimmt. Das Gesicht des Mädchens verschwimmt, das Gesicht des rothaarigen Mädchens, deren Augen ihre eigenen sein könnten.

Sie werden ihnen nichts tun, denkt sie, bis die jüngere Hüterin achtzehn wird, werden sie abwarten, geduldig. Sie werden in ihrer Nähe bleiben, sie auf Whistling Wing festhalten und zu verhindern versuchen …

Sie lässt zu, dass ihre Gedanken stocken. Alles wiederholt sich. Die Zeit des Wartens. Victoria hoffte, sie könnte ihren Liebsten retten und das Tor trotzdem schließen.

Was für ein Trugschluss, denkt sie verzweifelt, die Zeit raste und die Mädchen dachten, es würde ewig dauern. Sie waren sich zu sicher. Und am Ende blieb nur Vincentas Tod, der letzte Ausweg. Der allerletzte. Denn Azrael braucht die Seele der jüngeren Hüterin. Vincenta musste sich umbringen, sie hatte keine Wahl.

Elins Atem wird ruhig und sie weiß, dass sie jetzt wieder in den Schlaf hinübergleitet. Jetzt traut sie sich, die Decke abzustreifen. Die Kälte der Nacht trocknet ihren Schweiß und sie sieht zu, wie sich ihr Bauch bei jedem Atemzug hebt und senkt. Ihre Arme liegen locker an ihren Seiten. Sie ist alt, aber ihr Körper ist voller Kraft. Sie kann tagelang laufen. Ihre Muskeln sind geschmeidig. Ihr Leben lang war sie auf der Flucht und diese Flucht hat sie stark gemacht.

Sie ist bereit, denn sie hat ihr ganzes Leben auf diesen Moment gewartet. Den Moment, in dem die Träume wiederkehren und der Atem des Bösen wieder über das Land streicht. Der rauchige Geruch ihre Lungen füllt, mag sie auch noch so weit entfernt sein. Sie weiß es. Er wird es versuchen. Seine Boten und sein Wegbereiter haben ihr die Träume geschickt. Samael ist zurück.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004_split_000.html
part0004_split_001.html
part0005.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013_split_000.html
part0013_split_001.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017_split_000.html
part0017_split_001.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022_split_000.html
part0022_split_001.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026_split_000.html
part0026_split_001.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031_split_000.html
part0031_split_001.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035_split_000.html
part0035_split_001.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049_split_000.html
part0049_split_001.html
part0050.html
part0051.html
part0052_split_000.html
part0052_split_001.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063_split_000.html
part0063_split_001.html
part0064.html
part0065.html
part0066_split_000.html
part0066_split_001.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074_split_000.html
part0074_split_001.html
part0075_split_000.html
part0075_split_001.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081_split_000.html
part0081_split_001.html
part0082_split_000.html
part0082_split_001.html
part0082_split_002.html
part0083_split_000.html
part0083_split_001.html
part0084.html
part0085.html
part0086_split_000.html
part0086_split_001.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090_split_000.html
part0090_split_001.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097_split_000.html
part0097_split_001.html
part0098_split_000.html
part0098_split_001.html
part0098_split_002.html
part0098_split_003.html
part0099.html