9

Indie

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Meine Vogelnarbe ist durch Dawna versiegelt. Das Staunen darüber, wozu ich jetzt fähig bin, füllt mich komplett aus. Ich kann nicht mehr aufhören damit, meinen Geist über meinen Körper hinauswachsen zu lassen, mühelos wechsle ich vom Gedankenspiegeln zum Gedankeneindringen und zum Gedankenvernichten … Ich höre das entsetzte Keuchen nicht, das in der Luft liegt, wie in einem Film, der mich nichts angeht, sehe ich Dorrotya zu Boden gleiten und dort liegen bleiben. Ist sie ohnmächtig? Ist sie tot?

»Indie«, dringt eine Stimme in meine Gedanken hinein.

Wie durch eine Nebelwand nehme ich wahr, dass Dorrotyas Gegenwehr erlischt. Die Oberin scheint auf mich zuzueilen, auch Kat, Miss Anderson und Emilia. Nach und nach springen auch die anderen Hüterinnen auf. Aber sie kommen nicht näher, ihre Gesichter sind schmerzverzerrt, ihre Hände zur Abwehr gehoben. Ein Schild versucht, meine Gedanken abprallen zu lassen, jemand versucht, meine Gedanken zu spiegeln, schafft es aber nicht. Wie kleine böse Dämonen surren irgendwelche Fetzen von Erinnerungen durch mein Gesichtsfeld, aber sie halten mich nicht auf, sie stören mich nur wie eine brummende Fliege an einer Fensterscheibe. Nichts und niemand kann die zerstörerische Gewalt stoppen.

Mit einem lauten Klatschen gibt mir Dawna eine Ohrfeige und das Einzige, was sie zu denken scheint, ist: Stopp.

Der Schlag ins Gesicht lässt mich aufwachen. Ich höre wieder Geräusche, sehe alles klar und deutlich vor mir. Behutsam ziehe ich meinen Geist wieder zurück in meinen Körper und kneife kurz meine Augen zusammen.

Als ich wieder aufblicke, sehen mich die Frauen entsetzt an.

»Indie …«

Es ist Mum, die sich mit einem Aufschrei wieder in Bewegung setzt und auf mich zustürzt.

Kat hält sich ihren Bauch, als hätte sie Schläge erhalten, die Oberin weicht zurück und sinkt auf einen Stuhl. Ihr Gesicht ist noch voller Schmerz und für einen Augenblick schlingt sie ihre Arme um den Körper und wiegt sich vor und zurück.

Hayalka kniet sich neben Dorrotya, legt eine Hand auf deren Brust und zieht eines ihrer Augenlider nach oben. Vorwurfsvoll dreht sie sich zu mir um, als schließlich Dorrotya einen tiefen Atemzug macht und die Augenlider zu flattern beginnen. Ein erleichtertes Raunen geht durch den Raum.

»Scheiße. Indie«, zischt mir Dawna zu und mein Kopf fühlt sich seltsam wattig an. »Was hast du getan?«

»Wir müssen beraten«, sagt die Oberin kraftlos. »Ihr seid vorerst entlassen.«

Die Sonne berührt den Horizont und ergießt seine blutroten Strahlen über das Meer. Dawna und ich laufen auf dem brettharten Sand durch die Gischt. Kleine Vögel laufen vor uns davon und fliegen auf, bevor wir sie erreichen.

»Du hättest sie töten können«, sagt Dawna vorwurfsvoll.

»War das nicht der Sinn der Sache?«, frage ich, obwohl ich mir bewusst bin, einen Tick zu weit gegangen zu sein. »Ihnen klarzumachen, dass wir sie plattmachen können?«

Ich bin vor allen Dingen noch total high davon, wozu ich fähig bin. Zugegeben, nur dann, wenn ich mit Dawna zusammen bin. Inzwischen schmerzt meine Wunde so stark wie schon lange nicht mehr. Aber ich wage es nicht, Dawna zu fragen, ob sie wieder unser Licht zwischen uns aufflammen lassen könnte.

Dorrotya hätte mich auch getötet. Nicht mit dem ersten mentalen Angriff, der meine Narbe aufplatzen hat lassen, als wäre sie nie verheilt gewesen. Aber die Drohung, die danach im Raum stand, war zu deutlich, um überhaupt darüber reden zu müssen.

»Du solltest es kontrolliert machen«, stößt Dawna hervor, wütend und ein klein wenig verzweifelt. Es war eine Prüfung, nur eine Prüfung. »Du solltest keinen Feuersturm lossenden.«

»Und was hast du gemacht?«, will ich wissen. »Das war nicht mein persönlicher Feuersturm. Das waren wir. Du und ich.«

Darauf sagt sie nichts mehr, sie weiß, dass es stimmt. Vermutlich weil sie gedacht hatte, dass ich ihr nicht helfen kann, war sie ganz schön in die Vollen gegangen.

»Du und ich«, wiederholt sie mich, dann bleibt sie abrupt stehen. Die Sonne scheint zu verglühen, die Helligkeit schwindet und schickt düstere Schatten, die aus den Felsen in den Sand kriechen.

»Was machen wir, wenn sie uns nicht aufnehmen?«, flüstert sie.

Meint sie, das war nicht überzeugend genug?

Wortlos laufen wir weiter, Dawna wird immer schneller und ich habe das Gefühl, nicht mithalten zu können. Sie schottet ihre Gedanken ab, ist in sich gekehrt. Nur ihre Beunruhigung kann ich spüren, ganz weit entfernt, wie eine düstere Vorahnung, was noch kommen wird. Die Zeit verfließt, mein Körper funktioniert trotz der Schmerzen im Bauch.

Vor uns drängt sich die Felswand bis an den Meeressaum und das dumpfe Klatschen der Wellen lässt mich ahnen, dass es hier nicht weitergeht. Ich sehe das helle Oberteil von Dawna, das sich weiter auf diesen Felsvorsprung zubewegt. Meine Hose wird nass, erst bis zu den Knien, dann spritzt das Wasser bis zum Bauch.

Ich sehe sie sofort, obwohl die Dunkelheit jetzt schon so weit fortgeschritten ist, dass die Farben verblassen. Es sind Felicia und Jools, mit dem Rücken zur Wand und vor ihnen stehen ganz offensichtlich die Seeleute, mit denen sie sich heute Mittag angelegt hatten. Und anscheinend haben die ein paar Kumpel mitgebracht, es sieht verdammt danach aus, als wollten sie die beiden Mädchen mal so richtig aufmischen. Obwohl ich ihre Gesichter nicht mehr klar erkennen kann, spüre ich, dass sich die Situation umgekehrt hat. Es sind zu viele Männer, als dass die beiden eine Chance gegen sie hätten.

Mein Herzschlag wird langsam und kräftig, mein Atem strömt gleichmäßig durch meinen ganzen Körper.

»Na Mädels«, sage ich, während ich neben Dawna anhalte.

Die Männer sagen nichts, einige drehen sich zu uns.

»Geht«, sagt Felicia zu uns, lässt aber die Männer nicht aus den Augen.

Das schafft ihr doch nie, denke ich mir. Sie kneift nur die Augen zusammen, und obwohl sie meinen Gedanken gelesen hat, schottet sie ihre eigenen ab.

»An eurer Stelle würde ich nichts aufs Spiel setzen«, sagt sie ruhig.

»Ihr dürft gerne mitmachen«, sagt ein sehr muskulöser Mann mit dunklen Locken. »Hab ich nichts dagegen.« Er spuckt in den Sand und die anderen Männer beginnen zu lachen.

»Das hier ist unser Problem«, erklärt Felicia weiter, als würde sie nicht vor Furcht einflößenden Kerlen stehen. »Wenn ihr hierbleibt und uns helft, verstoßt ihr gegen die Ordensregeln.«

Die Männer sehen jetzt uns an, der Anführer verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich von oben bis unten. Felicia und Jools wissen, was passiert, wenn wir nicht bleiben.

»Ihr solltet nichts riskieren. Wer gegen die Regeln verstößt, ist es nicht wert, den Orden hinter sich zu haben«, warnt uns Jools eindringlich.

So wie ihr?, denke ich mir.

»Bin anscheinend noch nicht durch mit dem ganzen Regelwerk des Ordens«, antworte ich und verschränke ebenfalls meine Arme vor der Brust.

»Verschwindet einfach, das macht euer Leben einfacher«, flüstert Jools, sieht aber nicht uns an, sondern die Typen vor ihr. »Das hier ist unsere Baustelle.« Langsam gehen wir auf die beiden Mädchen zu.

»Eine Hüterin lässt die andere nicht im Stich«, sage ich.

»Na, das wird ein Spaß«, sagt einer der Typen mit rauchiger Stimme. Bedächtig setzen sich die Männer in Bewegung und kommen jetzt auf uns zu.

»Ihr wisst ja, dass wir Yankees das mit den Regeln und der guten alten Tradition leider nicht so ganz kapieren«, sage ich laut, während wir uns breitbeinig rechts und links neben den Mädchen aufstellen.

»Ich sehe da ein paar andere Typen, die dringend verschwinden sollten«, fügt Dawna hinzu. »Täte ihnen bestimmt gut.«

»Lasst sie doch mitmachen«, sagt einer der Typen, »statt euch darüber zu beschweren, dass ihr nur zu zweit seid.«

»Wir beschweren uns nicht«, faucht Jools und greift unvermittelt den Mann an. Um mich herum vermischen sich die Kräfte von Dawna, Jools und Felicia zu einem eigenen kleinen Kosmos, dann stürze auch ich mich in diesen Kampf.

Felicia und Jools klettern den Felsen nach oben, während wir wieder durch das knietiefe Wasser um den Felsen herumwaten und auf der anderen Seite weiterlaufen. Die Typen sitzen in einem Ruderboot und verschwinden in die nächste Bucht. Noch immer rätsle ich über die Abschiedsworte des muskulösen Kerls. »Gleichstand«, hatte er gesagt und Jools hatte mit hochmütiger Stimme geantwortet: »Das nächste Mal gehört die Fahne wieder uns.« Sie hatten uns nichts erklärt, wir hatten nichts gefragt. Aber vielleicht war die Warnung von Felicia als Dank gedacht: »Ohne den Orden könnt ihr es nicht schaffen. Hütet euch davor, die Regeln des Ordens und die Worte der Oberin anzuzweifeln. Das hat schon einigen Hüterinnen mehr Ärger eingebracht, als ihnen lieb war.«

Es ist inzwischen so dunkel, dass ich nur das helle Shirt von Dawna vor mir gleichmäßig auf und ab hüpfen sehe. Hin und wieder rutsche ich ein wenig auf dem Tang, gerate aus dem Takt. Dawna nicht, sie läuft gerade wie ein Roboter, gleichmäßig, unbeirrbar, schnell, effektiv. Ich gebe ein bisschen Gas, um zu ihr aufzuschließen.

»Hast du bemerkt, was passiert, wenn wir so starke mentale Energie freisetzen?«, fragt mich Dawna, mit dem Blick fixiert sie einen Punkt in der Ferne.

Ja, man fühlt sich grenzenlos. Absolut frei und übermenschlich. Sie schüttelt den Kopf, als wäre das nicht die richtige Antwort.

»Man muss sich für eine Kampftechnik entscheiden. Diese Männer eben. Ich konnte mir nur einen nach dem anderen vornehmen und ich hätte mich in der Zeit nicht bewegen können. Angriffe von hinten abzublocken, wäre zu dem Zeitpunkt nicht möglich gewesen.«

Eine Weile laufen wir schweigend nebeneinanderher. Ich muss ihr recht geben. Es klappt alles hervorragend, wenn es nicht zu viele Gegner sind. Aber was passiert, wenn es mehr sind?

Sie bleibt plötzlich stehen und nimmt mich bei der Hand. »Vielleicht brauchen wir ihn doch. Den Orden.«

Ihr Blick richtet sich auf einen Felsen, als hätte sie dort etwas entdeckt. Ich drehe mich um und versuche zu erkennen, was sie sieht. Als ich mich wieder zu ihr drehe, haben sich ihre Augen verengt. Zielstrebig geht sie auf den Felsen zu, plötzlich sehe auch ich die Gestalt, die dort breitbeinig auf uns wartet.

Ihre Augen sind wie glühende Kohlen auf uns gerichtet, sie sieht ein wenig irre aus, voller Hass. Je näher wir kommen, desto mehr schwindet dieser Eindruck, ihre Emotionen zeigen sich nicht mehr in ihrem Gesicht.

Lilli-Thi.

»Dawna.« Ich versuche, ihre Hand zu erwischen, aber ihre Energie lässt mich nicht an sie heran.

»Lilith«, sagt sie, während sie ein paar Meter vor der Asiatin stehen bleibt.

Lilli-Thi neigt nur ein klein wenig den Kopf, als würde sie sie grüßen. Mich ignoriert sie, als wäre ich nicht anwesend.

»Wieso bist du hier?«, fragt Dawna eisig. »Wieso nicht bei deinem Herrn und Meister? Hat er dich geschickt? Was ist dein Auftrag?«

»Lilli-Thi nimmt keine Aufträge an«, wispert Lilli-Thi heiser. »Lilli-Thi ist ihr eigener Boss.«

Auch das Schweigen, das zwischen den beiden jetzt entsteht, schließt mich aus. Es macht mich unruhig, Dawna so zu erleben.

»Lilli-Thi hilft. Sie hilft, wo sie kann«, sagt sie ruhig.

Dawna antwortet ihr nicht und Lilli-Thi beginnt zu lächeln, aber es scheint nur ihr Mund zu sein, der sich verzieht.

»Hütet euch vor denen, die auf eurer Seite zu sein scheinen.«

»Willst du mir Ratschläge geben?«, fragt Dawna.

»Lilli-Thi gibt keine Ratschläge«, erwidert Lilli-Thi tonlos. »Sie sucht und sie findet.« Ihre Stimme wird zu einem unheimlichen Raunen. »Die Wahrheit hat viele Kinder. Es gibt keine Grenzen für die Freiheit. Für unsere Freiheit.«

»Sprich nicht in Rätseln«, sagt Dawna drohend.

»Lass das«, zische ich Dawna zu und will sie wegziehen. Die Frau ist komplett durchgeknallt, ich weiß nicht, wieso Dawna das nicht sehen will. Endlich gibt Dawna nach und dreht sich zu mir um. Inzwischen ist der Strand komplett dunkel, nur der Himmel ist noch hell, ein rötlicher Schimmer, die Erinnerung an den Sonnenuntergang.

»Sie tötet grausam, aber der Tod kann auch Erlösung sein«, ruft Lilli-Thi hinter uns her und beginnt zu lachen.

Ein seltsames Geräusch, als würde eine rostige Tür auf und zu schwingen, es hat nichts Fröhliches an sich, es ist nur unheimlich und drohend. Eine Ankündigung, die sie ohne Gnade umsetzen wird.

»Fragt sie, was mit den Hüterinnen geschah …«

Wir beginnen, wortlos zu laufen, erst schwerfällig durch den tiefen Sand, bis wir auf den harten feuchten Sand der Brandung kommen. Und in unseren Ohren noch immer die Worte von Lilli-Thi.

Fragt sie, was mit den Hüterinnen geschah, die das Tor nicht schließen konnten …

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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