Marquessac, 31. Juli 2013
Das Zimmer ist erfüllt von einem tiefen Frieden. Weit entfernt sind die Wellen zu hören, die in sehr regelmäßigen Abständen gegen die Felsen donnern. Es riecht nach Thymian und Lavendel und das entfernte Kreischen der Möwen kann das Geräusch des Stifts auf dem Papier nicht übertönen, obwohl es nur ein so leises Scharren ist. Gleichmäßig und in moderatem Tempo fährt der Stift von links nach rechts über das edle Papier, setzt nicht ab.
Es wird Gewitter geben, auch wenn es noch ein lichter Sommertag ist, der den Wind als sanfte Meeresbrise durchs Zimmer schickt. Nur als dunkle Vorahnung ist der Horizont trüb.
Es klopft heftig an der schweren Eichenholztür.
Marie Esperance Armengol eilt durch die Tür, Sorge im Gesicht. »Ich komme vom Amplitudenraum. Es besteht Grund zur Annahme …«
Im nächsten Moment wird einfach die Tür aufgerissen und eine dunkelhäutige Frau stürmt herein.
»Notfall, Mutter Oberin«, sagt sie knapp. »Es muss der Ausnahmezustand ausgerufen werden und alle Kämpfer …«
»Lubaya Mbele«, unterbricht die Oberin mit kühler Stimme. »Es ist meine Aufgabe zu entscheiden, wann ein Ausnahmezustand ausgerufen wird und wann nicht…«
Lubaya verneigt sich ein wenig, man sieht ihr an, dass ihr der begangene Fauxpas unangenehm ist, aber es flackert noch etwas anderes in ihren Augen. »Probleme am Tor. Wir brauchen dringend Verstärkung.«
Angst. Es ist die Angst vor dem Tod.
»Das werde ich prüfen«, nickt die Oberin und wedelt mit der Hand, um zu zeigen, dass sie entlassen ist.
»Ich habe eben gehört …«, flüstert Marie, während die dunkelhäutige Frau rückwärts zur Tür geht, anscheinend unschlüssig, ob sie nicht doch noch etwas sagen soll. »… dass seit ein paar Tagen Vögel aus dem Tor kommen.«
»Wieso erfahre ich erst jetzt davon?«, fährt die Oberin sie an.
Seit Jahrhunderten war dieses Tor still, ihr Tor. Das Tor der Armengols. Und trotzdem wurde es bewacht, stärker als jedes andere Tor. Sogar stärker als die Tore, von denen man wusste, dass sie bedroht waren. Aber es war, als hätte Azrael seine Existenz vergessen. Doch Azrael vergisst nicht, er hat einen langen Atem, um sein Ziel zu erreichen.
Im nächsten Moment erschüttert eine Explosion das alte Gemäuer. Das antike Tintenfass kracht auf den Boden und die dunkle Tinte spritzt in alle Richtungen. Mit einem schrillen Schrei fällt Marie auf die Knie.
»Das Tor«, bringt sie hervor. »Die Amplitude der Energie ist zu hoch für unsere Sicherheitsmaßnahmen …« Sie rappelt sich wieder auf. »Der Druck auf das Tor ist zu hoch … Er war zu hoch …«
Für einen langen Augenblick scheint das Gebäude die Luft anzuhalten, zu horchen auf etwas, das da kommt, mit aller Gewalt.
»Ich habe selbst die Aufzeichnungen gesehen«, sagt Marie Esperance mit angstgeweiteten Augen. »Und die Stärke ist … unermesslich …«
»Ausnahmezustand«, flüstert die Oberin fast unhörbar. »Alle Kämpferinnen ans Tor.«
Sie bleibt allein zurück, lässt das Telefon auf ihrem Schreibtisch läuten. Der strahlend blaue Himmel hat sich eingetrübt. Sind es die Dunklen, die aus dem Innenhof nach oben fliegen, ein bestimmtes Ziel vor Augen, die die Sonne verdunkeln, das Licht des Lebens? Das Telefon schrillt weiter, unerbittlich, verlangt von ihr, Entscheidungen zu treffen.
Mit einem Ruck nimmt sie doch den altertümlichen Hörer ab und bellt ein unwirsches »Ja« hinein.
Es wird der Tag kommen, an dem du all deine Kräfte brauchst. Entscheide klug für den Orden. Deine Pflicht ist es, den Orden zu retten, dich all dem entgegenzustellen, das ihn gefährdet.
»Ferngespräch«, schnarrt eine weibliche Stimme, dann hört man sphärisches Rauschen in der Leitung.
Sie weiß, wer sie anruft. Sie weiß auch, welche Nachricht sie bekommen wird. Das kubanische Tor wurde geschlossen.
»Es ist alles ein abgekartetes Spiel«, flüstert sie, an sich selbst gewandt. Ein Spiel, das sie immer dachten, im Griff zu haben. Aber anscheinend hatten sie immer nur auf das reagiert, was ein anderer ihnen vorgegeben hatte. Er hatte sie in diese Situation manövriert.
Schachmatt?
»Dorrotya Somogyi«, sagt eine Frauenstimme, die sie kaum erkennt.
»Ich weiß«, antwortet sie. »Ihr habt euch nicht an meine Weisung gehalten.«
Das Knistern in der Leitung nimmt zu, bald wird das Gespräch unterbrochen sein.
»… keine andere Wahl«, meint sie zu verstehen. »… hohe Verluste …«
»Zurück in den Orden«, erwidert sie.
»Entschuldigen Sie«, hört sie jetzt glasklar die Stimme von Dorrotya. »Aber Whistling Wing ist jetzt stark gefährdet. Sollten wir nicht Whistling Wing ansteuern und unsere Hilfe anbieten?«
Das von euch, Dorrotya Somogyi, denkt sie bitter. Wisst ihr nicht, was das oberste Gebot ist, das alleroberste Ordensgebot?
»Nein«, bellt sie wieder in den Hörer. Zum ersten Mal ist sie von einer Unruhe erfüllt, die sie kaum kontrollieren kann. »Mein Befehl ist: Zurück in den Orden!«
»Entschuldigen Sie«, wiederholt sich Dorrotya. »Ich möchte Ihnen ungern widersprechen. Aber was ich hier gesehen habe, lässt mich stark daran zweifeln, dass die Mädchen auf Whistling Wing auch nur die geringste Chance haben, diesem teuflischen Sturm irgendetwas entgegenzusetzen.«
»Haben Sie mich nicht verstanden? Ich sagte: Zurück in den Orden! Wir brauchen Sie hier.«
»Ich habe Sie verstanden«, antwortet Dorrotya.
Eine weitere Detonation erschüttert das Kloster, die Oberin stützt sich mit einer Hand auf dem Schreibtisch ab. Der Leitung ist plötzlich tot. Mit einem wütenden Knall legt sie den Hörer auf. Mit einem weiteren Knall fliegt die Eichentür auf und schlägt gegen die Wand.
»Marie Armengol!«, fährt die Oberin ihre Schwester an, verstummt, als sie die Platzwunde auf deren Stirn sieht.
»Wir müssen in Erwägung ziehen, dass wir das Tor endgültig schließen«, sagt Marie ruhig.
»Was redest du da?«, sagt die Oberin und schiebt sie auf die Seite. »Das Tor ist immer gehalten worden. Die Stärksten und Besten haben es bewacht. Und auch jetzt …« An der Tür laufen sechs Kämpferinnen vorbei, die schweren Boots knallen im Gleichschritt auf den Boden. »… sind die Besten der Besten …«
»Hör auf mit diesem Gewäsch!«, fährt Marie sie an, die Stimme plötzlich auch wütend und energisch. »Das war früher. Die Besten der Besten …« Marie legt ihr die Hand auf den Unterarm und versucht, sie aufzuhalten. »Sei vernünftig! Was bedeuten all diese Regeln, was bedeuten sie, wenn dafür alle … sterben … Das kann nicht der Sinn der Regeln sein …« Ihre Stimme verebbt in einem Flüstern.
Mit glühenden Augen dreht sich die Oberin zu ihr. »Der Sinn der Regeln liegt manchmal verborgen, für keinen ersichtlich.« Sonst gäbe es diese Regeln nicht, sonst wüsste jeder selbst, was zu tun war.
Wir hätten keines der Tore verschließen dürfen, alle, alle hätten wir sie offen halten sollen, keine Furcht vor dem Bösen, das unter uns kommen hätte können.
Mit jedem geschlossenen Tor mehr war der Druck auf die anderen Tore gewachsen und jetzt erkannte sie glasklar, dass es seine Absicht gewesen war. Alle Tore zu schließen, bis all die böse Energie auf dem allerletzten Tor lastete.
»Auf keinen Fall, hörst du …« Ihre Stimme verebbt zu einem Flüstern. »… darf dieses Tor geschlossen werden.«