36

Dawna

image

Ich habe keine Zeit, mir über das, was eben passiert ist, Gedanken zu machen. Ich habe den Hufschlag des Schwarzen noch im Ohr, Hunderte Engel sind ihm und Emma gefolgt, hinein in die Schwärze der Nacht, nicht mehr zu unterscheiden von den Wolken, die viel zu schnell über den aufgewühlten Himmel treiben. Niemand weiß, wie lange sie sich von Emma und dem Schwarzen in die Irre führen lassen, wann sie zurückkehren werden, um mit den anderen zu kämpfen. Neben uns gähnt die Öffnung des Tores, ein Vakuum, leer und drohend. Wird Emma zurück sein, wenn wir Azrael vernichten wollen? Oder opfert sie sich gerade und erfüllt sie damit die Prophezeiung?

»Was geschieht hier?«, zische ich Indie zu, wir stehen Rücken an Rücken, nehmen unsere Kampfposition ein, Diego und Dusk decken unsere Flanken.

»Sie dürfen uns nicht trennen!«

Wenn wir dachten, Azrael steigt zu uns herauf, haben wir uns getäuscht, das Tor ist offen, doch nichts geschieht. Gar nichts. Emma ist fort. Wir sind nicht zu dritt. Drei Frauen. Verdammt.

Auf ein Zeichen von Samael rücken die Dunklen vor und greifen sofort an. Ich verliere Mum aus den Augen und beginne mechanisch, die Dunklen abzuwehren. Noch spüre ich Indie im Rücken. Unsere Bewegungen sind völlig synchron, ich versuche, alle Gedanken auszuschalten, nur eines zählt, ich muss bei Indie bleiben. Dusk und Diego kämpfen verbissen neben uns, Dusk an meiner Seite, Diego an Indies. Doch jedem Schlag, den ich abwehre, folgt ein neuer, ich sehe uns Hunderten von Engeln gegenüber, die sich immer neu formieren und versuchen, Indie und mich zu trennen. Auf ein Zeichen greifen wir hart an, um in dem Bruchteil einer Sekunde, in der die Engel zurückweichen, unsere Waffen zu ziehen und zu schießen. Die Federn, die um uns herumwirbeln, nehmen uns die Sicht, ich bemühe mich, ganz eng an Indie dranzubleiben.

Aussichtslos …es ist so aussichtslos, dröhnt es in meinem Kopf. Jeder getötete Dunkle wird durch zehn andere ersetzt.

Die Entschlossenheit, mit der die Engel mich töten wollen, nimmt mir den Atem. Ich bin nutzlos für sie, jetzt, da das Tor offen ist, gilt es, nur noch mich zu töten, damit ich Indie nicht schützen kann. Noch immer versuche ich, die Puzzleteile aneinanderzulegen, ich habe keine Angst mehr, ich will nur verstehen, endlich verstehen, was Sam vorhat, wo er uns hintreibt. Granny hat die Prophezeiung falsch gedeutet. Sie muss sie falsch gedeutet haben, sie dachte nicht, dass wir mit allen kämpfen würden, sie dachte, wir stehen dem einen gegenüber … Ich spule alles mechanisch ab, was ich bis zu diesem Augenblick gelernt habe.

Der Ring um uns zieht sich immer enger, aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Dusk sich in die Kehle eines Engels verbeißt, wieder regnen Federn auf uns herunter, ich versuche, einen Schutzkreis aufzubauen, der die Engel auf Abstand hält, doch es gelingt mir nicht, meine Gedankenkraft scheint völlig ausgelöscht. Wieder wehre ich Schläge ab, doch einer schleudert mich zu Boden, ich rolle mich ab und spüre Blut über meine Schläfe laufen. Einer der Dunklen steht über mir, er hebt seinen Arm, um erneut zuzuschlagen, und ich fühle mich plötzlich vollkommen kraftlos, nicht mehr fähig, mich zu wehren.

Doch im selben Moment erschüttert eine gewaltige Explosion den Friedhof und der Dunkle bricht, von einer Kugel getroffen, über mir zusammen.

Ich rapple mich auf, atemlos. Staub, Sand und Geröll regnen auf uns herab. Ist das die Ankunft Azraels? Ist das die Energie, die wir neutralisieren müssen? Eine zweite Explosion bringt die Erde zum Beben, jetzt erst bemerke ich, dass sie aus einer ganz anderen Richtung kommt: Die Friedhofsmauer hinter uns, dort, wo wir den Navara geparkt hatten, fliegt in die Luft. Erneut regnet es Gesteinsbrocken auf uns herab und Indie beginnt zu husten.

Für einen Moment breitet sich Stille zwischen den Gräbern aus, als hätten die Explosionen die Kämpfe gestoppt. Wie ein Atompilz steht noch eine riesige Staubwolke vor uns. Dann flammt ein Feuerring um den Friedhof auf, die rußig gelben Zungen des Feuers schlagen nach oben und ich sehe eine einsame Gestalt auf die Trümmer der ehemaligen Mauer klettern.

Rudy.

Seine Miene ist triumphierend, es sieht fast so aus, als würde er gleich die Arme nach oben reißen. Dann tritt eine Fassungslosigkeit in seinen Blick, als er die Dunklen sieht, die sich wie ein Meer zu seinen Füßen ausbreiten. Hinter ihm tauchen Beebee und Vince auf, mit schwarz verschmierten Gesichtern. Eve, Sidney und Tamara klettern unsicher auf die Mauerreste, sich mit den Händen auf den Gesteinsbrocken abstützend, und ich weiß nicht, was mich fast zum Heulen bringt. Dass sie hier sind, obwohl es ein Selbstmordkommando ist. Dass sie bewaffnet sind, obwohl sie zu den friedfertigsten Menschen unter dieser Sonne gehören. Oder dass sie die Einzigen sind, die an unserer Seite kämpfen wollen.

»Feuer«, höre ich Sidney schreien und es dauert einen kleinen Moment, bis die Frauen die Waffen hochreißen. Sie beginnen, einen Schuss nach dem anderen in Richtung der Engel zu feuern, dabei brüllt Eve aus voller Kehle, und ich bin mir sicher, sie hat dabei die Augen fest zugedrückt.

»Haut einfach ab«, flüstert Indie neben mir. »Oh Gott. Macht mich nicht unglücklich.«

Dann sehe ich sie. Diejenigen, die hinter der Mauer gewartet hatten. Im selben Moment packt mich Indie, geistesgegenwärtig genug, um mich vor dem erneuten Angriff eines Dunklen in Sicherheit zu bringen. Sie bringt mich zu Fall, bedeckt mich mit ihrem Körper.

Während ich falle, rieselt das pure Glück durch meinen Körper. Denn noch während des Falls sehe ich, wie sie sich in Bewegung setzen. Sie scheinen wie das Wasser zu sein, eine Flut von Wölfen, die über das Geröll fließt, hinein in den Kampf, auf der Suche nach Indie und mir. Ihr Fell leuchtet unwirklich im Mondlicht, wie eine Welle, die unaufhaltsam näher kommt. Mühelos nehmen sie die Hindernisse, geschmeidig und schnell. Zuerst glaube ich, mein Verstand spielt mir einen Streich, meine Hoffnung, die Wölfe könnten zurückkommen, bahnt sich einen Weg durch meinen Kopf. Doch die Körper der Wölfe sind real. Sie sprengen die Engel auseinander, wild und doch wohlgeordnet, und für einige Sekunden ist der Friedhof wie überschwemmt von silbernem Fell und schwarzen Federn.

Chakal. Chakal ist gekommen, um für uns zu kämpfen!

Neue Kraft scheint in meinen Körper zu strömen, ich drücke Indie von mir herunter und greife nun wieder an, mit einem Fußtritt bringe ich mein Gegenüber zu Fall.

»Indie!«, brülle ich, »du musst bei mir bleiben!«

»Wir müssen zum Tor!«, schreit sie.

Ich packe sie am Arm und ziehe sie mit mir. Jetzt wird nichts mehr schiefgehen. Wir werden beim Tor sein, wenn die Energie austritt. Wir werden sie neutralisieren. Und auch wenn wir nur zu zweit sind, ich fühle mich jetzt so stark, dass ich davon überzeugt bin, Azrael besiegen zu können.

»Es war ein Fehler, es zu öffnen«, stößt Indie hervor, während wir, die Dunklen abwehrend, auf unser Grab zulaufen. »Es gibt gar keine Energie, die wir neutralisieren können. Es gibt niemanden, gegen den wir kämpfen können.«

Ich kann nicht mehr nachladen, plötzlich sind wieder Dusk und Diego vor uns, werfen sich mit ihren schweren Körpern gegen die Dunklen, wie in einem Albtraum laufen wir hinter ihnen, als würde es ewig so weitergehen.

»Sam wartet auf etwas«, bringe ich hervor. Ich schmecke Blut auf meiner Zunge. Neben uns bricht ein Wolf tot zusammen.

»Komm jetzt!« Indie hält meine Hand umklammert. Wir springen über umgestürzte Grabsteine, über zerbrochene Grabplatten, alles ist verwüstet. Dann taucht unser Grab vor uns auf. Sam steht immer noch vor der Öffnung, er lässt die Arme hängen und hat seinen Blick starr zum Himmel gewandt, als wolle er dessen Schwärze in sich aufsaugen. Wir legen an Tempo zu, doch dann werden wir plötzlich auseinandergerissen. Ich erkenne Rag, der Indie um die Taille gepackt hat, Indie wehrt sich verzweifelt, mit einem blitzschnellen Kick bringt sie Rag zu Fall, doch Rag reißt sie mit sich.

»Indie!« Mein Schrei gellt über den Friedhof.

Ein anderer Dunkler stellt sich vor mich, drängt mich zurück, Schlag um Schlag, immer mehr Dunkle schließen sich ihm an, bis ich Indie aus den Augen verliere. Ihr rotes Haar auf Rags Brust ist das Letzte, was ich von ihr sehe.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004_split_000.html
part0004_split_001.html
part0005.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013_split_000.html
part0013_split_001.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017_split_000.html
part0017_split_001.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022_split_000.html
part0022_split_001.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026_split_000.html
part0026_split_001.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031_split_000.html
part0031_split_001.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035_split_000.html
part0035_split_001.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049_split_000.html
part0049_split_001.html
part0050.html
part0051.html
part0052_split_000.html
part0052_split_001.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063_split_000.html
part0063_split_001.html
part0064.html
part0065.html
part0066_split_000.html
part0066_split_001.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074_split_000.html
part0074_split_001.html
part0075_split_000.html
part0075_split_001.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081_split_000.html
part0081_split_001.html
part0082_split_000.html
part0082_split_001.html
part0082_split_002.html
part0083_split_000.html
part0083_split_001.html
part0084.html
part0085.html
part0086_split_000.html
part0086_split_001.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090_split_000.html
part0090_split_001.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097_split_000.html
part0097_split_001.html
part0098_split_000.html
part0098_split_001.html
part0098_split_002.html
part0098_split_003.html
part0099.html