Indie
Die Nacht wird dem Tag weichen. Der Tag wird die Zerstörung zeigen, die Zerstörung, die nur durch uns geschehen konnte. Hinter mir lodert das Feuer wie eine Anklage, aber mein Blick ist nur darauf zentriert, was vor uns passiert. Ich schlage ein paar gefrorene Leintücher zur Seite und springe über die Leiche eines Wolfes. Alles um mich herum scheint sich zu verlangsamen, als ich den Wagen von Emma vor mir sehe. So nah und doch in unerreichbarer Ferne. Ich stolpere, falle in den Schnee und rapple mich wieder hoch. Ich habe mich nicht getäuscht – der wütende Kampf zwischen den Wölfen und den Engeln hat ein Ende. Was ist passiert? Haben die Wölfe aufgegeben? Aus dem Nichts tauchen die zwei Dunklen mit Gabe zwischen zwei Wagen vor mir auf und laufen auf die anderen Engel zu. Breitbeinig stehen jetzt die fünf Engel den Wölfen gegenüber. Was sie wollen, ist vollkommen klar. Emma muss sterben. Emma darf nicht die Chance haben, an unserer Seite zu kämpfen.
Aber können die Wölfe sie schützen? Alle überlebenden Wölfe haben sich wie ein Wall um diesen einen Wagen versammelt. Wie eine breite graue Front stehen sie im Halbkreis vor den Engeln, bereit, ihr Leben für die zu geben, die sich in diesem Wagen befinden.
Emma. Mum. Die Comtesse. Die Hüterinnen.
Direkt vor der Tür haben sich Diego und Dusk positioniert, in ihrer menschlichen Gestalt. Sie sehen über die Köpfe der Wölfe hinweg, die Ruhe, die sie ausstrahlen, scheint mir trügerisch. Kein Knurren ist zu hören, keine Worte unterbrechen die Stille, die sich wie ein Leichentuch über das ganze Lager gebreitet hat. Die Dunklen stehen breitbeinig direkt vor den Wölfen. Selbst von hinten sehen sie aggressiv und gewaltbereit aus, aber sie scheinen zu warten, auf ein Signal, das wir nicht kennen, auf ein Wort, das keiner spricht. Ich muss zu Diego, durchfährt mich die Gewissheit. An seiner Seite kämpfen. Gleichzeitig pocht in mir schmerzhaft der Gedanke, dass es meine Aufgabe ist, Dawna zu finden und mit ihr die Sache mit Lilli-Thi zu erledigen.
Es beginnt wieder zu schneien, die Schneeflocken schmelzen auf meinen nackten Armen. Welche Entscheidung ich auch treffe, es ist vermutlich die falsche. Schritte links von mir lenken mich ab … Dawna läuft zwischen zwei Wagen hindurch zu mir. Ihr Gesicht leuchtet blass in der Dunkelheit, aber es ist voller Zuversicht. Mit ihrer linken Hand hält sie Mileys Hand, sie zieht ihn hinter sich her. Als sie mich erreicht, fasst sie mit ihrer rechten die meine. Unsere von Blut besudelten Hände scheinen sofort aneinanderzukleben. Keiner beachtet uns, die Dunklen drehen sich nicht zu uns und Diegos Blick ist wie festgewurzelt auf einen Punkt in weiter Entfernung gerichtet, als würde er auf jemanden warten.
Da kommen sie niemals lebend raus, ist mein erster Gedanke, man kann nicht von hier entfliehen. Ich hasse mich für meine plötzliche Mutlosigkeit, doch Dawna zieht mich weiter.
Bevor wir die Engel erreichen, werden unsere Schritte im Schnee überlagert von anderen. Unsere leichtfüßigen Schritte werden übertönt von schweren. Es fühlt sich an, als würde die Erde beben, obwohl sich nichts bewegt. Als wäre die Luft in Bewegung und würde heißer werden, sich über unseren Köpfen verwirbeln, eine Feuerwalze, die auf das Lager zurast, blanker Hass, der alles entfacht, was sich ihm in den Weg stellt.
Samael, oh Samael, kriecht eine dunkle Stimme zu meiner Vogelnarbe, kriecht hinein mit einer Ruhe, als hätte sie alle Zeit der Welt. Samael, oh Samael, scheinen die Dunklen zu singen, obwohl sie ihre Münder nicht bewegen. Dawna bleibt abrupt stehen und zwingt mich, auch anzuhalten. Als würde Samael alle mit seinem Körper abstoßen, weichen die Engel zur Seite, sie neigen ehrfürchtig die Köpfe. Mein Herz meint zu zersplittern bei dem Gedanken daran, was er jetzt den Wölfen antun wird. Mit Erschrecken sehe ich, dass die Wölfe es den Engeln gleichtun – kein einziger bleibt stehen. Samael erhebt seine Stimme nicht, er schreitet durch die Menge der Leiber, als wäre er der Herr über sie. Sie weichen ihm aus, ohne zu kämpfen, ohne sich zu wehren, als hätten sie auf diesen einen Moment gewartet.
Diego und Dusk sehen ihm entgegen. Ihr Blick ist ausdruckslos, sie verharren am Fuß der Treppe, bis er direkt vor ihnen steht. Mein Herzschlag setzt aus, ich sollte neben ihnen stehen, ich sollte vor ihnen stehen, aber ich weiß, dass es zu spät ist, ich erreiche sie nicht mehr. Mein Herz verkrampft sich, als ich erkenne, dass auch sie kampflos zur Seite treten. Sam steigt die Stufen zum Wagen empor und öffnet die Tür. Die Tür schließt sich hinter ihm und ich will loslaufen, die Hand von Dawna abschütteln und mich gegen Sam stellen, mit aller Kraft, die ich habe.
Doch Dawna hält mich zurück, Diegos Blick fängt meinen ein. Er ist klar und rein und voller Zuversicht. Die Anspannung fällt von mir ab, ich fasse die Hand von Dawna noch fester und lasse Diegos Blick nicht los. Ich weiß jetzt, dass Sam niemanden im Wagen finden wird. Die Wölfe haben die Engel getäuscht, den leeren Wagen verteidigt, bis die Hüterinnen und Emma die Möglichkeit hatten zu entfliehen. Ich weiß nicht, wie es ihnen gelungen ist, aber ich weiß, dieser Wagen ist leer.
Mit unbewegter Miene tritt Sam wieder heraus und bleibt auf der obersten Stufe stehen. Ich fühle mich zurückversetzt in den letzten Sommer, sein vertrauter Anblick macht mir wieder bewusst, wie sehr ich mich von ihm täuschen ließ. Sein Blick ist sofort auf Dawna und mich zentriert. Die Angst greift körperlich nach mir, ich spüre augenblicklich meine Vogelnarbe. Während er auf uns zugeht, weichen die Wölfe noch mehr vor ihm zurück, sodass sich eine Gasse bildet, durch die Sam auf uns zuschreitet. Wie das Verderben selbst kommt er auf uns zu. Die Engel reihen sich hinter ihm ein. Der Kampf ist aus, wir haben nichts zu befürchten. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass mir noch eine Schlacht bevorsteht.
Sam bleibt vor uns stehen, Dawnas Händedruck wird fester. Sams Augen sind dunkel wie die Nacht und alles um mich herum scheint sich zu drehen. Ich tauche in das böse Universum ein, die Wellen des Hasses schlagen über mir zusammen. Eigennutz, Eifersucht, Abneigung, Verachtung, Missgunst und Neid legen sich eng um mein Herz. Und ich klammere mich wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz an all das Gute, das die Welt für uns bereithält. Güte. Warmherzigkeit. Wohlwollen. Zuneigung. Warmherzigkeit. Güte und …
Liebe.
Ich brauche nichts von dem, was mir Kat und Miss Anderson gelehrt haben. Wie eine weiße, warme Blase lasse ich das Gute in mir wachsen, verschließe meine Narbe vor dem Übergriff. Ich drücke meinen Rücken durch und hebe das Kinn. Mein Blick fällt auf den Engel links neben ihm. Es ist Rag, der mich ohne Emotionen ansieht. Seine Augen sind blutunterlaufen, dunkle Schatten umwölken seinen Blick. Rechts von ihm steht Gabe. Ich weiß, dass keiner das Band zwischen uns bemerkt. Ein Band, das jetzt niemand mehr zerschneiden kann. Nichts kann mehr zwischen uns sein, mag es Samael versuchen, mag Lilli-Thi mit all ihrer Macht darauf hinarbeiten, dass Gabe wieder die Seite wechselt, es wird ihnen nicht gelingen. Aber sie werden es nicht ahnen, sie werden es nicht wissen. Erst wenn der Tag meines Geburtstags gekommen ist, wenn Azrael versucht, meine Seele zu gewinnen, werden sie erfahren, dass Gabe nicht mehr auf ihrer Seite steht.
Dass Liebe stärker ist als Hass.
Und dass wir gewinnen werden, so viele Steine sie dem Guten auch in den Weg legen mögen.
»Gut gekämpft, Mädchen«, sagt Samael mit unbewegter Miene.
Keiner von uns antwortet. Wenn er wüsste, auf wie vielen Fronten wir heute gewonnen haben, würde er nicht so siegesgewiss vor uns stehen. »Ich freue mich …«
Seine Augen verengen sich ein wenig, als würde ihn die Stärke, die wir ausstrahlen, doch irritieren. Zwischen Dawna und mir baut sich eine Kraft auf, die mich bis in die letzte Zelle meines Körpers ausfüllt. Die mir klarmacht, dass uns nichts mehr aufhalten kann.
»… auf deinen Geburtstag«, flüstert er rau.
Dann verschwinden er und die Dunklen in der Nacht.