Indie
Ich bücke mich nach der Glock und schieße einmal in die Luft, obwohl Lilli-Thi schon längst verschwunden ist.
»Das wäre unsere Chance gewesen«, sage ich bitter, der Schuss klingt noch wie ein Peitschenschlag in meinen Ohren, Dawnas Augen sind riesige dunkle Seen voller Enttäuschung.
»Indie«, sagt Dawna nur und geht zurück zu dem Motorrad.
»Indie«, äffe ich sie nach. Der große leere Platz mit dem niedergedrückten Gras strahlt Hoffnungslosigkeit aus.
»Lass keinen Hass in dein Herz, begegne allem mit Liebe und Zuversicht«, sagt Dawna mit unbewegter Miene. Dann stülpt sie sich den schwarzen Helm über den Kopf und das Motorrad springt an. Mit aufheulendem Motor jagt sie über die buckelige Piste zurück zur Straße. Sie geht nur kurz vom Gas, als sie den schmalen Graben durchfährt, dann jault der Motor wieder aus.
»Fuck. Fuck. FUCK!«, brülle ich ihr nach. Das wäre jetzt die einmalige Gelegenheit gewesen, Lilli-Thi abzuknallen. Das hat auch nichts mit Hass im Herzen zu tun, das ist Schutz des eigenen Lebens, vielleicht sogar Schutz von Mums Leben.
Dawna ist eine Zimperliese.
Ich gehe schlecht gelaunt zu dem Motorrad und versuche, es hochzuwuchten. Es dauert gefühlte Stunden, bis ich mein Bein über den Sattel schwingen kann. Ich trete ein paarmal den Kickstarter durch, aber der Motor macht keinen Mucks. Eine Weile bleibe ich still auf dem Sattel sitzen, die Beine breitbeinig in den Boden gestemmt, und sehe über die trockene Fläche. Sie haben ihre Drohung wahr gemacht. Sie werden sich nicht an den Vertrag halten. Plötzlich wird mir die Bedeutung dessen erst so richtig klar. Der Plan war: Emma, Dawna und ich. Und an unserer Seite alle Wölfe. Der gesamte Clan der Wölfe.
Sie waren nur gekommen, um Nawal zu holen und dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Ich drücke den Kickstarter durch, bis ich einen kleinen Widerstand spüre, dann trete ich locker den Hebel durch und die Duke springt an.
Ich habe keinen Helm. Der Wind reißt an meinen Haaren, ich fahre viel zu schnell. Ich kann nicht Motorradfahren. Und die Maschine ist mir zu schwer. Während ich mit überhöhter Geschwindigkeit durch New Corbie rase, verlangsamt sich in meinem Kopf alles, wie ein dunkler Sog versucht mich etwas aus meinem geschützten Tunnel zu ziehen. Schwarze Federn wirbeln durch meine Gedanken. Sieben Kohorten werden es sein. Sieben mal sechzig dunkle Engel, die ihren Willen dem des Anführers unterordnen. Die sich gegen uns stellen werden, gegen uns drei.
Ich habe keine Angst, sage ich mir, während ich die Augen zusammenkneife und starr nach vorne sehe.
Sam Rosells Laden. Der alte Bahnhof. Das Wegekreuz. Die Gärtnerei, denke ich, und sobald ich aus New Corbie draußen bin, lässt der dunkle Sog nach. Als ich zu schnell nach Whistling Wing abbiege, gerät das Motorrad ins Rutschen. Ich gebe zu viel Gas, der Motor heult auf, im letzten Moment kann ich die Duke wieder aufrichten.
Kann nicht einfach alles mal glattgehen?
Als ich auf Höhe der uralten Hickory bin, dort, wo der Weg nach Whistling Wing eine Kurve macht, bemerke ich den Motorradfahrer hinter mir.
Er nimmt mich bei der Hand und wir gehen durch den dichten Dschungel meiner Kindheit. Die Erinnerungen überfluten mich, seine Hand hält mich davon ab, einfach loszulaufen, zu verschwinden in der grünen Höhle, die mir so vertraut ist, voller Gerüche aus der geborgenen Kindheit auf Whistling Wing. Wir sprechen nicht miteinander, ich gehe voran, ziehe ihn hinter mir her in das grüne Dämmerlicht der großen Bäume. Nichts ist mehr wichtig, nur dass er hier ist, hier bei mir. Dass er meine Hand hält, dass er auf meiner Seite ist.
Eine große Schlingpflanze stoppt mich und lässt Gabe in mich hineinlaufen. Um einen Sturz zu verhindern, umfasst er meine Taille, wir bleiben so stehen, sein Atem streift meine Wange und ich schließe meine Augen.
»Was ist mit Mum?«, flüstere ich.
»Sie ist okay«, antwortet er heiser.
Dieses Okay klingt nicht gut.
»Sie haben darauf gewartet, dass wir diesen Fehler machen, oder?«, wispere ich unruhig. »Sie haben uns die ganze Zeit beobachtet.«
Ich spüre an meiner Wange, dass er nickt, aber er sagt nichts dazu.
»Kannst du ihr helfen zu entkommen?«
Gabe schweigt einen Moment, dann sagt er schließlich: »Wenn ich es tue, dann ist jedem klar, auf welcher Seite ich stehe.«
Ist es das wert? Er ist der Einzige, der auf unserer Seite steht. Der Einzige, der seine Kohorte den anderen entgegenstellen wird. Wenn er auffliegt, dann haben wir auch das verspielt. Ein Schluchzen bahnt sich in meiner Kehle an, das ich unterdrücke, so gut ich kann.
Sag, dass alles gut wird, will ich gerne sagen. Aber ich weiß, dass er mir so ein Versprechen nicht geben kann. Wenn ich mein Jahr im Orden absolviert hätte, würde ich jetzt vielleicht nicht schwanken, bereuen, mit dem Schicksal hadern. Ich wüsste, dass das Einzige, was zählt, das Ziel des Ordens ist. Dass ich das Leben meiner Mutter opfern würde, das Leben meiner Schwester und natürlich mein eigenes. Und das meines Liebsten.
Ich spüre die Wärme seines Körpers an meinem, seine starken Arme und die Zuversicht, die er ausstrahlt.
»Du musst mir helfen«, flüstert er an meinem Ohr. »Ich brauche deine Liebe, um meine Kohorte der Dunklen auf deine Seite zu stellen.«
Meine Liebe? »Was meinst du damit?«
»Ich darf dich nicht mehr sehen, das ist das letzte Mal vor deinem Geburtstag«, sagt er und dreht mich zu sich. Seine Augen glänzen golden, sie tauchen in meinen Blick ein, so bekannt und so vertraut, es geht direkt in mein Herz. »Wir müssen Abschied nehmen.«
Er sagt nicht, für immer, aber es kann ein Abschied für immer sein. Die Hoffnungslosigkeit greift nach mir wie ein düsterer Schatten der Vorahnung. Was die Zukunft für uns bringt, wissen wir nicht. Vielleicht ist jetzt dann alles aus, für uns alle. In meinen Augen schwimmen Tränen der Verzweiflung und der Wut. Bis zur Entführung von Mum war ich noch voller Energie, mein Körper fühlte sich gut an, auch wenn mein Unterbewusstsein die Aussichtslosigkeit gespürt hat.
»Ich bin scheißschlecht im Abschiednehmen«, antworte ich und die Träne, die mir über die Wange läuft, hinterlässt eine heiße Spur.
»Ich weiß«, sagt er, »aber ich weiß auch, dass du im rechten Augenblick immer gut in dem bist, was du tust.«
Wir stehen nun so dicht voreinander, dass wir uns fast berühren, aber seine Hände lassen meine Arme los, er sieht mich nur an, als wollte er jede Einzelheit meines Gesichtes in sich aufnehmen, sich erinnern in den Tagen der Trostlosigkeit, die uns jetzt bevorstehen würden.
»Ich liebe es, dich anzusehen«, flüstert er. »Wenn du lachst, möchte ich mit dir lachen. Wenn du zornig bist, möchte ich dich an der Hand nehmen und mit dir hinauslaufen in die Natur, bis deine Wut verraucht ist. Und wenn du traurig bist, möchte ich dir die Tränen wegküssen, bis die Trauer verflogen ist.«
Langsam lege ich meine Hand auf seine Wange, streiche mit meinen Fingern bis zu seinem Kinn. Mir sitzt ein so großer Kloß im Hals, dass ich darauf nichts sagen kann.
»Ich weiß, wie dich die Sorge um deine Mutter ausfüllt«, sagt er und fängt meine Hand ein. »Aber ich muss dich um etwas bitten. Es ist wichtig, dass ich von deiner Liebe erfüllt bin …«
Er legt meine Hand auf seine Brust. Ich spüre durch den dünnen Stoff des dunklen Hemdes seinen Herzschlag.
»Deine Liebe wird bewirken, dass sich meine Kohorte auf eure Seite stellen wird«, sagt er rau.
Meine Liebe.
Die Worte von Marie Esperance klingen in meinen Ohren. »Begegnet allen mit Liebe. Durch sie werdet ihr das Böse besiegen.«
Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit Gabe meine Liebe weitergeben kann. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich keine Sekunde länger hier stehen will, ohne ihn zu küssen.
»Du weißt, dass ich dich liebe«, flüstere ich. »Mehr als alles auf der Welt.«
Dann berühren sich unsere Lippen, flüchtig, er schlingt seine Arme um mich und hält mich fest, bedeckt mein ganzes Gesicht mit kleinen, zarten Küssen. Seine Hände streichen über meinen Körper, ich schmiege mein Gesicht an seinen Hals.
»Mach mich zu deiner Frau«, flüstere ich.
Die Worte hängen zwischen uns, als würde ich sie immer und immer wieder wiederholen. Sie setzen sich warm und gut in meinem Bauch fest. Als ich meinen Blick hebe und wieder in den seinen eintauche, läuft die Erregung wie flüssige Lava durch meinen ganzen Körper. Sein Kopf senkt sich zu einem hungrigen Kuss. Wie in Trance beginnen wir, uns gegenseitig zu entkleiden. Als hätten wir alle Zeit der Welt, nehmen wir die kleinste Kleinigkeit unserer Körper in uns auf, bis wir eins sind. Unsere Liebe verbindet sich zu einer riesengroßen Kraft, sie erfüllt mich mit so viel Energie, dass ich meine, vor Glück zu platzen. Sie geht von mir zu Gabe über, füllt uns beide aus mit einer Hitze, die alles um uns herum auslöscht.
Die Zeit des Abschieds ist da. Tausend Worte liegen mir noch auf der Zunge, aber kein einziges will über meine Lippen kommen.
»Ich möchte, dass du Mum etwas von mir gibst«, sage ich, während ich mein T-Shirt über meinen Bauch ziehe. Grannys Zopf, den ich in letzter Zeit immer mit mir herumgetragen habe, ein Talisman, die Hoffnung, dass das, was Granny versprach, auch so eintreten wird.
»Sie soll es versteckt halten und fest daran glauben, dass wir es schaffen können.«
Er nickt, küsst mich noch einmal. Grannys Zopf gleitet wie eine silbrige Schlange in seine großen Hände und verschwindet dann in der Tasche seiner Lederjacke. Als er mich loslässt, halte ich ihn an seiner Hand fest.
»Sag mir, zu was sie Mum brauchen«, sage ich, obwohl ich mich vor der Antwort fürchte.
Gabe weicht meinem Blick aus. Erst als ich ihm meine Hand auf die Wange lege und sein Gesicht sanft zu mir drehe, sieht er auf mich herab.
»Sie ist die Brautmutter«, flüstert er schließlich. »Die Hochzeit steht bevor, es muss alles bereit sein …« Seine Stimme klingt plötzlich so, als würde sie nicht zu ihm gehören, als würde er mir das erzählen, was Sam ihnen Tag für Tag erzählt.
»Vater und Mutter werden die Braut erwarten. Sie führen sie Seite an Seite zum Altar und übergeben sie dem Bräutigam.«
Mein Atem stockt, das Bild, das in meinem Kopf gemalt wird, ist so realistisch, so plastisch und so farbig, dass es mir den Atem nimmt.
Indie im weißen Kleid, an ihrer Seite ihre Mutter und ihr Vater, die mit ihr würdevollen Schrittes auf das Grab der Ahnen zugehen. Es ist der 1. August, aber als würde der Himmel weinen, wirbelt Schnee über den Friedhof und legt einen Schleier über das Grab. Würdevoll stehen an unserer Seite die Kohorten der Dunklen. Es wirkt majestätisch, aber sie sind nichts weiter als Gefängniswärter, die verhindern werden, dass Indie etwas anderes tut, als vorgesehen ist.
Das Bild endet abrupt, als ich direkt vor dem Grab stehe, Filmriss. Ich stehe wieder vor Gabe, meine Hand ist so eiskalt und seine so heiß. In seinen Augen sehe ich, dass er sich nichts mehr wünscht, als dass diese Zukunft nicht eintreten wird. Dass er alles tun wird, damit es nicht eintritt. Aber der Anblick der ungezählten Dunklen schiebt sich immer wieder zwischen Gabe und mich.
Sag, dass alles gut wird, denke ich mir, aber ich wage nicht, dies auszusprechen. Gabe senkt ein letztes Mal seinen Kopf zu mir. Sein Kuss ist bittersüß, sanft und endgültig.
Dann verschwindet er zwischen den Bäumen, ein Motorrad springt an und ich bin allein mit meiner Verzweiflung.
Erst da merke ich, dass ich die entscheidende Frage nicht gestellt habe.
Wer ist der Brautvater?