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Dawna

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Ich reiße Indie an mich, denn in dem Moment, in dem Lilli-Thi zwischen uns landet, verstehe ich die Prophezeihung, alles fügt sich ineinander, alle Fäden verweben sich zu einem untrennbaren, einzigartigen Ganzen. Die Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit breitet sich aus wie Wasser aus einem Glas, das jemand versehentlich umgestoßen hat.

Die Hüterinnen stehen in Kampfposition, sie sind zum Äußersten bereit und ihre Körper sind gespannt wie Stahlfedern. Jederzeit werden sie eingreifen und alles zu Ende bringen. Ich kann die Gesichter hinter ihren schwarzen Masken nicht erkennen, doch ich weiß, wer sie sind. Jools und Felicia, mir gegenüber, hinter Mum steht Dorrotya, aus ihrem Headset dringt nur noch ein fernes Rauschen, ein Zeichen, das die Verbindung zum Orden unterbrochen ist, Kat steht links von mir, Namika und Ayasha rechts von mir. Ich sehe in Mums Gesicht, sie nickt mir zu, und als sie sich durchs Haar streicht, erkenne ich Grannys silbernen Zopf, den sie sich in ihre eigenen Strähnen geflochten hat. Ihre Gedanken konnte Sam nicht erreichen, ihre Gedanken konnte er nicht brechen. Der schwarze Wolf lässt mich nicht aus den Augen, während sich Lilli-Thi vor uns verneigt. Ihr Gesicht ist gespenstisch weiß und ihre Augen lassen Sam nicht los.

»Lilli-Thi, mein Täubchen«, säuselt Sam, »gut, dass du hier bist. Ich hatte irgendwie kein gutes Gefühl, diesen Moment alleine zu erleben.«

Ein so starker Ruck lässt die Erde erzittern, dass wir kurz aneinander Halt suchen. Fest umklammere ich Indies Hand. Fest halte ich ihre Wunde verschlossen.

»Das nenne ich Timing. In der letzten Sekunde. Aber so sind sie, die Frauen.«

Ich höre, wie die Hüterinnen in den hinteren Reihen ihre Waffen entsichern, als Sam zu uns tritt, doch Dorrotya hebt Einhalt gebietend die Hand.

»Nicht schießen!«, zischt sie.

»Lilli-Thi ist nicht seinetwegen hier.« Ihre Flügel im Rücken rascheln leise, als sie sie zusammenfaltet. Die Flügel, ihre einzige Möglichkeit, der Erde für kurze Zeit zu entfliehen. »Es ist genug. Lilli-This Tage sind gezählt. Lilli-Thi hat ausgedient.«

Noch immer schwebt ein selbstsicheres Lächeln auf Sams Gesicht.

»Na dann. Nur zu. Reisende soll man nicht aufhalten. Nur schade, dass die Party jetzt erst richtig losgeht.«

Er geht in die Hocke, um seine Hände auf den Rand unserer Grabplatte zu legen. Für einen kurzen Augenblick scheint das Tor den Atem anzuhalten und in der eintretenden Stille gellt das Zirpen der Grillen unnatürlich laut in meinen Ohren. Ich suche Mum’s Blick, doch die ist nun völlig in sich gekehrt, ihre Lippen bewegen sich, so wie ich es von ihr kenne, wenn sie eines ihrer Mantras betet, aber ihr Gesicht ist entspannt, als würde sie wissen, was zu tun ist, was auf sie zukommt.

»Samael hat Lilli-Thi angelogen. Die Sterbende hat Lilli-Thi die Augen geöffnet«, wispert sie und ich weiß, von wem sie spricht. Die Sterbende. Miss Anderson. Mein Herz verkrampft sich.

»Die Sterbende hat Lilli-Thi gesagt, dass Samael Lilli-Thi zurücklassen wird. Samael wird Gott sein. Und Lilli-Thi wird im Staub der Erde kriechen. Es ist keine gute Idee, Lilli-Thi anzulügen.«

Die letzten Worte spuckt sie Sam vor die Füße, doch der winkt nur ab. Plötzlich spüre ich körperlich die Waffen, die auf uns angelegt sind. Für die Hüterinnen gibt es nur eine Lösung, die einfachste, die Sam dazu verdammen würde, ohne Indies Seele umherzuirren. Noch immer sind sie bereit, uns zu töten. Die Einzigen, die sich nun voll auf Sam konzentrieren, sind Kat, Jools und Felicia.

Wieder macht die Erde einen Ruck, ein drohendes Grollen scheint sich unter unseren Füßen auszubreiten und ein tiefer Riss bahnt sich in Sekundenschnelle einen Weg zwischen uns hindurch.

Wir springen zur Seite und blicken in den gähnenden Riss neben unseren Füßen.

»Wie dem auch sei, das soll nicht mein Problem sein.« Er schließt die Augen und spätestens in diesem Moment muss jedem klar sein, dass das, was jetzt kommt, nicht mehr aufzuhalten ist.

Das Geräusch eines nahenden Tornados lässt uns zurückweichen, alle. Alle bis auf Mum, Sam und Lilli-Thi. Sand wirbelt auf, legt sich auf meine Augen, in meine Kehle, ich presse Indie an mich und weiß nicht, ob das Jaulen der Wölfe meiner Fantasie entspringt. Durch den wirbelnden Sand sehe ich Mum, die die Arme öffnet, um die Energie, um Sams Energie zu empfangen. Neben mir stürzt Kat zu Boden, Dorrotya, Jools, Felicia. Indie und ich fallen, drücken uns auf den Boden, doch Mum steht immer noch aufrecht. Nicht wissend, ob diese Energie sie verbrennen wird, nimmt sie sie auf und im Strudel dessen, was wir nicht begreifen und niemals begreifen werden, dreht sie sich, um die Energie weiterzureichen. Sie scheint von innen zu leuchten, als sie sich mit einem Lächeln Lilli-Thi zuwendet, die demütig den Kopf senkt. Samael stürzt sich auf sie, doch Mum hebt ihre Hände, legt sie an Lilli-This Lippen und mit einem einzigen Atemzug kehrt Stille ein. Ein machtvoller Strudel scheint die beiden Frauen zu ergreifen, sie umklammern sich, oder ist es die Energie, die sie plötzlich zusammendrückt, zu zerquetschen scheint, seinen Empfänger sucht. Ein Heulen liegt in der Luft, wie ein gewaltiger Luftstrom, der ins Freie explodiert. Ich schließe geblendet die Augen, als ich sie wieder öffne, scheint Lilli-Thi von innen heraus zu strahlen. Sie hat die Energie, die für Sam bestimmt war, vollständig aufgesogen. Mum taumelt kraftlos zurück, taumelt gegen Dorrotya, die sich gerade wieder aufrappelt.

Ein Schrei gellt über den Friedhof, dann steigt Lilli-Thi auf und mit jedem Flügelschlag wirft sie ihre schwarzen Federn ab, sie schraubt sich in die Höhe, glänzend schön, wird kleiner und kleiner, bis die Dunkelheit sie verschluckt, doch ihr Flüstern liegt in meinem Ohr. Ihr Flüstern und ihr Lachen, es bauscht sich wie Segel, in die der Sturm fährt.

… der Nachtwind wird dich immer begleiten…

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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