8

Dawna

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Das Klatschen hallt im spitzgiebeligen Gebäude nach. Namika und Ayasha nicken uns zu. Ihr Gesichtsausdruck ist unergründlich, was vielleicht daran liegt, dass sie von Natur aus gelassener sind als Indie und ich. Die anderen Hüterinnen treten einige Schritte zurück. Kurz blicke ich zu den Fenstern hoch und sehe, wie Miss Anderson hinter der Oberin versteckt ihren Daumen hebt. Sie lächelt und in meinem Bauch breitet sich ein leichtes Gefühl aus. Jools und Felicia machen keinen Hehl daraus, was sie denken. Sie stellen sich neben die indischen Trainerinnen und ich frage mich, wie viel Macht sie wirklich haben, in ihrer Rolle als Enkelinnen der Oberin.

»Ich bin trotzdem dagegen«, zischt Jools, »sie haben nicht die gleiche Ausbildung wie wir, ihnen fehlt ein ganzes Jahr im Orden und bloß auf ein Gerücht hin …«

Sie verstummt und sieht zu der Oberin hinauf, die soeben das Fenster nachdrücklich schließt.

»… werden Ausnahmen gemacht, deren Konsequenzen nicht abzusehen sind«, vervollständigt Felicia ihren Satz. »Wir können nur hoffen, dass ein Großteil der Hüterinnen gegen diesen Wahnsinn stimmt.«

Die beiden Trainerinnen schweigen hartnäckig. Ich sehe, wie sich ihr Atem langsam beruhigt, aber in ihren Gedanken kann ich nicht lesen. Ich will es aber auch gar nicht. Im Moment habe ich das Gefühl, wir können alles schaffen. Ich habe das Gefühl, wir sind diesen Frauen um Längen überlegen und wir brauchen ihre Hilfe nicht.

»Die Amerikanerinnen haben sich nicht grundlos vom Orden gelöst. Unsere Grundsätze sind ihnen fremd. Unsere Regeln. Sie teilen unsere Kultur nicht, und das nicht erst seit gestern. Schon seit Generationen verweigern sie den Gehorsam.«

Ich wundere mich etwas, dass Felicias Worte Indie nicht völlig ausrasten lassen. Sie steht vollkommen entspannt neben mir, der Kampf hat sie ruhig werden lassen. Die Sonne wandert durch die großen Dachfenster und lässt uns in einem goldenen Zirkel stehen. Das Schweigen der Trainerinnen, gegen die wir eben noch gekämpft haben, scheint sich zu verdichten.

»Was haben wir darüber gelernt, über Hüterinnen, die den Orden verlassen, über den Weg, der aus Irrtümern und Fehlschlägen besteht. Es grenzt an ein Wunder, dass sie nicht früher gescheitert sind.«

»Wir sind dazu verpflichtet, die Prophezeiung zu prüfen«, mischt sich Namika ruhig ein, »es muss geprüft werden, ob sie die Geweissagten sind.«

»Ein Ammenmärchen!«, behauptet Felicia. »Eine Legende, die auf Unwissende ihren Reiz ausübt.«

»Alles, was sie uns zeigen, ist ein einziger, großer Bluff«, spuckt Jools aus. »Es ist nicht echt, nicht verankert. Es ist eine gut einstudierte Show. Aber im Ernstfall werden sie versagen. Sie kennen die wahre Härte nicht, sie sind Blender, sie haben es nicht verdient …«

»Genug, Jolanda Armengol, Felicia Armengol. Wir müssen auf die Weisheit der Oberin vertrauen. Die Wahrheit wird sich zeigen.« Ayasha hebt ihre Hand zu einer endgültigen Geste.

Jools legt sich ein zusammengerolltes Handtuch um den verschwitzten Nacken und verlässt wortlos den Trainingsraum und Felicia folgt ihr. Ihr Mund ist ein einziger zusammengepresster Strich.

Wir haben kaum Zeit, uns umzuziehen, in der Umkleide warten Mum und die Comtesse auf uns. Ihre Blicke sagen alles, es ist nicht vorbei, im Gegenteil, die geistige Prüfung wird sich nahtlos anschließen. Wollen sie uns überrumpeln? Mum reicht uns unsere Unterkleider und Umhänge, ihre Augen leuchten. Die Comtesse sieht aus wie immer, als würde sie alles, was passiert, furchtbar finden. Hinter uns verlässt sie den Raum und ich könnte schwören, ich höre sie »Der Orden ist dem Untergang geweiht« murmeln.

Doch die kryptischen Äußerungen der Comtesse bringen mich nicht mehr aus dem Konzept. Der Weg zur Bibliothek ist nicht weit. Mum geht zwischen uns.

»Passt mit Dorrotya und ihrer Schwester Haynalka auf. Sie können mit ihren Gedanken töten. Sagt man.«

Wie aufbauend.

»Wer sagt das?« Indie sieht mich kurz von der Seite an, doch ich zucke nur mit den Schultern.

»Emilia Ponti. Sie hat gesagt, sie sind perfekt in dem, was sie tun«, erklärt Mum. »Ich will nur, dass ihr sie nicht unterschätzt, auch wenn sie nach außen hin sanft und gutherzig wirken.«

Sie bleibt kurz stehen und dreht sich zu uns, bevor sie die schwere Eichentüre zur Bibliothek öffnet.

»Ihr müsst wissen, wie stolz ich auf euch bin. Und wie viel es mir bedeutet, wenn ihr die Oberin von euch überzeugt.«

Wir betreten die Bibliothek. Bücher sind in raumhohen Regalen bis unter die Decke gestapelt und ich widerstehe dem Impuls, einfach eines herauszuziehen, um es anzusehen. Die großen Fensterflügel geben den Blick zum Innenhof frei, Frauen harken dort die Kieswege und jäten Unkraut aus den Rosenbeeten. Alles ist so friedlich, so alltäglich, als wären wir nicht hier, weil wir auf großes Unheil zusteuern. In der Mitte der Bibliothek steht ein langer, schmaler Holztisch, an dem schon Dorrotya und Haynalka sitzen. Haynalka wurde uns noch nicht vorgestellt, im Gegensatz zu Dorrotya ist sie klein, mit weichem Gesicht. Sie lächelt uns freundlich zu. Ihr aschblondes Haar hat sie zu einem Knoten gedreht, die Kapuze zurückgeschlagen und ich bin mir sicher, dass ich sie, würde ich sie morgen ohne die Ordenstracht auf der Straße treffen, nicht wiedererkennen würde. An der Wand hinter ihnen sitzen die Oberin Aubrey Armengol und dreizehn andere Hüterinnen, darunter Marie Esperance Armengol, Kat und Miss Anderson. Hinter uns schlüpfen noch Jools und Felicia in den Raum. Mum begleitet uns bis zum Tisch, dann setzt sie sich auf den letzten freien Stuhl zu den anderen. Als ich mich umblicke, bemerke ich, dass die Comtesse nicht mit in die Bibliothek gekommen ist.

Indie und ich setzen uns gegenüber von Dorrotya und Haynalka an den Tisch. Mein Gegenüber ist Haynalka, sie zwinkert mir zu und zieht dann eine Augenbraue nach oben.

»Ernste Angelegenheit«, flüstert sie fast unhörbar, »bringen wir es hinter uns.«

Die Oberin räuspert sich ungeduldig und aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Mum nervös auf ihrem Stuhl herumrutscht. Marie Esperance legt ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm.

»Wir sind hier, um euch, Indiana und Dawna Spencer, auf eure Eignung für den Orden hin zu prüfen«, sagt Dorrotya nun laut, »es ist eine abgekürzte Prüfung, aber im Wesentlichen fast die gleiche, die alle jungen Hüterinnen nach ihrem Ordensjahr ablegen müssen.«

Jools flüstert Felicia etwas zu. Beide sehen immer noch wütend und ablehnend aus.

»Wir vom Orden können keine Rücksicht darauf nehmen, dass ihr ohne gründliche Vorbereitung in diese Prüfung geht …«

Nun wird Miss Anderson unruhig.

»Ich muss hier entschieden widersprechen«, fällt sie Dorrotya ins Wort, »die Mädchen wurden von uns in allem unterwiesen, was sie für die Prüfung und die Aufnahme in den Orden benötigen. Durch ihre herausragenden Fähigkeiten haben sie in kürzester Zeit gelernt und erstaunliche Fortschritte gemacht.«

Aufnahme in den Orden? Ich versuche, Miss Andersons Blick auf mich zu lenken, doch es gelingt mir nicht. Was will sie uns damit sagen? Mum nickt mir zu … »Ihr könnt das …«, formen ihre Lippen.

»Trotzdem werden wir gründlich und ohne Rücksicht prüfen«, redet Dorrotya weiter, ohne sich nach Miss Anderson umzudrehen, »es geht hier nicht um die Prüfung, es geht um die Entscheidung, wie der Orden im Fall des Tores Whistling Wing weiter zu verfahren hat.«

Ein Kribbeln setzt sich in meinem Bauch fest, ein ungutes Kribbeln, dass es nun wirklich auf uns ankommt, dass wir sie jetzt überzeugen müssen, uns zu helfen. Haynalka sieht mich beruhigend an und ich ärgere mich, dass ich nicht Indie den Platz ihr gegenüber überlassen habe. Indie ist eindeutig die Schlechtere von uns beiden, wenn es um die geistige Ebene geht, und ich habe Angst, dass Dorrotya sie vollkommen auseinandernimmt.

»Dann wollen wir uns die Hände reichen und mit der Prüfung beginnen.« Nun hört sich Dorrotyas Stimme versöhnlicher an.

Beide strecken uns gleichzeitig ihre Hände entgegen. Dorrotya Indie ihre linke, Haynalka mir ihre rechte. Noch immer schwebt dieses sanfte Lächeln um ihre Mundwinkel. Genauso synchron ergreifen Indie und ich ihre Hände und im selben Moment spüre ich nur noch, völlig unvorbereitet, ein helles Licht in meinen Kopf schießen. Ein unerträglicher Schmerz durchzuckt mich und wir werden beide, wie durch einen elektrischen Schlag, von unseren Stühlen gefegt. Kurz ist da nur noch Dunkelheit, in der Haynalkas Gesicht sich zu einer Fratze verzieht, dann komme ich wieder zu Bewusstsein und rapple mich auf. Der Raum dreht sich kurz, dann sehe ich Indie mit geschlossenen Augen neben mir liegen.

»Was soll das!«, schreie ich und beuge mich über Indie. Meine Stimme hallt unwirklich durch den Raum, fast ist es, als wären wir völlig alleine hier. Jools und Felicia haben ihre Hände vor den Mund geschlagen. Dorrotya und Haynalka sitzen noch immer ungerührt auf ihren Plätzen. Ich sehe Mums weißes Gesicht, sie wird von Marie Esperance zurückgehalten.

»Ihr wisst, dass sie verletzt ist. Ihr wisst von der Narbe auf ihrem Bauch!«, stoße ich hervor.

Indie rührt sich immer noch nicht. Ich richte sie auf und ziehe sie auf meinen Schoß. Jetzt endlich gibt sie einen gurgelnden Ton von sich.

»Auch mit diesem Handicap muss man in der Lage sein, sich zu schützen«, sagt Dorrotya.

»Das ist nicht fair. Sie war völlig unvorbereitet.«

»Eine Hüterin, die nicht in der Lage ist, die dunklen Kräfte abzuwehren, ist für den Orden nicht geeignet.«

Ich könnte Dorrotya umbringen, stattdessen halte ich Indie fest und versuche, ihr möglichst viel von meiner Energie in den Körper zu pumpen. Trotzdem schlägt sie ihre Augen nicht auf. Sie krümmt sich und presst ihre Hände auf den Bauch und zu meinem Entsetzen sehe ich Blut durch den weißen Stoff ihres Umhangs sickern.

»Sie ist verletzt!« Ich bemühe mich, sachlich zu bleiben, doch meine Stimme überschlägt sich.

»Das sehe ich und das darf nicht passieren«, sagt Dorrotya gleichgültig. »Es gibt Situationen, wo dies das Ende von allem bedeuten kann. Nicht nur das Ende des Lebens einer Hüterin.«

Kat sieht mich unglücklich an.

»Das Leben einer einzelnen Hüterin ist wertlos, wenn sie ihr Tor nicht schützen kann. Und Indiana Spencer hätte ihr Tor nicht schützen können. Sie hätte versagt.«

»Sie blutet! Ich werde nicht zulassen, dass meine Schwester während einer Prüfung getötet wird.«

»Wir können die Prüfung an diesem Punkt abbrechen. Allerdings gibt es dann kein Zurück mehr. Es gibt nur eine Chance. Die Regeln sind streng und sinnvoll.«

»Dann verzichten wir …« Indie greift nach meiner Hand.

»Erzähl keinen Mist«, flüstert sie, dann schlägt sie die Augen auf. Ich kann ihren Schmerz darin sehen, ich sehe die Nacht, in der es geschah, in der diese Geschichte ihren Anfang nahm. Der Schwarze, der sich aufbäumt, und die Vögel, die sich auf Indie stürzen, und dann das Licht, das sich zwischen sie und das Böse legte, als ich sie berührte. Nun weiß ich, dass es unser Licht war. Unsere Stärke, die sich an unseren Händen entzündete.

»Wir können den Rahmen der Prüfung nicht sprengen.«

Ich weiß, was uns Haynalka damit sagen will. Wenn wir jetzt nicht zu unseren Plätzen zurückkehren, ist es vorbei.

»Eine Minute.« Indie krümmt sich immer noch und meine Sorge um sie wächst ins Unendliche, als ich sehe, wie groß der Fleck unter ihren Händen ist. Mühsam richtet sie sich auf. Dunkle Ringe liegen unter ihren Augen. Ich berühre ihre Stirn mit meinem Initiationsmal und spüre, wie endlich Stärke in sie zurückkehrt. Dorrotya trommelt ungeduldig mit ihren Fingern auf die Holzplatte des Tisches. Wie im Traum sehe ich andere Hüterinnen an den bodentiefen Fenstern vorbeiflanieren, in Gespräche vertieft, ohne Notiz von uns zu nehmen. Wieder räuspert sich die Oberin und Indie kommt langsam auf die Beine, sie richtet sich auf und ich höre, wie Mum einen entsetzten Schrei ausstößt, als sie das Blut auf Indies Umhang entdeckt. Wir setzen uns. Nun ist Haynalkas freundlicher Blick wie eine Drohung. Ich erkenne die Härte in ihren Pupillen, ihren Willen, mich aufs Äußerste zu prüfen. Ich sammle mich, Miss Andersons Augen ruhen auf mir. In meinem Inneren entzünde ich das Licht und lege es auf Indies Wunde. Unser Licht. Das Licht, das schon immer zwischen uns war, das uns half, wenn wir verzweifelt waren, einsam und verwundet. Unsere gemeinsame Stärke.

Ich erinnere mich, wie dieses Licht auf Grannys Händen tanzte, wie sie es nachts, wenn es dunkel war, zwischen ihre Finger flirren ließ.

»Indie«, flüstere ich.

Jetzt lächelt Miss Anderson, sie hat verstanden.

Dorrotya und Haynalka nicken uns zu, und noch bevor ich Atem holen kann, greifen sie erneut an, doch nun weiß ich, was zu tun ist, und Indie weiß es auch. Die böse Absicht eines Gegners zu spiegeln, ist eine mächtige Waffe. So wird er durch sein eigenes Geschick vernichtet.

… seid reinen Herzens … wispert Miss Anderson in mir und noch nie war mir so bewusst, was es bedeutet. Zwar spüre ich, wie sie versucht, mich erneut zu treffen, doch meine eigenen reinen Gedanken, die Liebe, die mein Herz füllt, lässt Hayalka abprallen, mit solcher Macht, dass ihr Stuhl nach hinten schlittert. Im selben Moment weicht auch Dorrotya zurück. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Sie steht auf und taumelt, während Indie die Augen schließt, konzentriert und klar. Dann stürzt sie, der Laut, der über ihre Lippen kommt, gräbt sich in mein Bewusstsein.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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