42

Indie

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Die Zeit scheint stehen zu bleiben, in meinen Ohren knistert es noch unglaublich lange, von den Maschinengewehrsalven, dem Hubschrauberlärm und dem Zischen aus unserem Grab. Ich spüre meine Narbe nicht mehr, das ist ein gutes Zeichen.

Ein schlechtes Zeichen ist, dass Dorrotya zur Waffe greift.

»Nicht schießen«, schreit irgendeine der fremden Hüterinnen.

Als würde ich immer einen Schritt hinterherhinken, verstehe ich es erst nicht, was geschieht. Sam lacht lautlos, es ist ein vergnügter Tanz für ihn und es macht ihn nur noch aufgedrehter, wenn er merkt, dass jemand anderes erst jetzt begreift, wie genial sein Plan ist.

»Waffen runter«, höre ich die geflüsterten Befehle einer bekannten Stimme – ist es Kat? Ist es Dorrotya? In meinen Ohren rauscht es so laut, dass ich es nicht erkennen kann.

Natürlich hat er vor, sich vor mich zu stellen, um die Kugel abzufangen, die mir gilt. Sam zu töten, wäre sein sofortiger Sieg. Seinen nutzlosen Körper zu nehmen und den Dämon in ihm freizusetzen, genau das, was ihm jetzt unglaubliche Kräfte schenken würde. Indie, höre ich leise Dawnas Gedanken in meinem Kopf.

Die Erde wankt unter uns, nur kurz, dann ist es wieder still. Aber jetzt, da das Tor im Orden geschlossen ist, kann nichts mehr diese Naturgewalt aufhalten, die auf dem Weg nach Whistling Wing ist.

Plötzlich geht alles sehr schnell und gleichzeitig gerät alles in eine eigenartige Zeitlupe. Denn von einem Moment zum nächsten sind alle in Bewegung, so als hätten sie sich auf geheime Weise abgesprochen. Jeder hat sein Ziel, erfasst sofort, was der andere vorhat, und reagiert darauf. Nur ich scheine keinen richtigen Plan zu haben, obwohl ich gleichzeitig im Zentrum stehe.

Die schwer bewaffneten Hüterinnen setzen sich in unterschiedliche Richtungen in Bewegung, ich kann sie nicht unterscheiden. Nur Dorrotya, die ihr Gewehr repetiert und anlegt. Der gellende Schrei von Dawna zerreißt die Stille. Gabes Griff wird stärker, schützend dreht er mich von Dorrotya weg und bringt seinen Körper zwischen mich und die Hüterinnen. Aus dem Augenwinkel kann ich noch sehen, dass Kat vor Dawna taumelt.

»Lasst sie am Leben«, brüllt sie, reißt die Arme nach oben, schützend, abwehrend, in der Absicht, sich selbst zu opfern.

Sagt sie noch etwas dazu? Sie werden es schaffen? Sie haben die Kraft, sie sind bestens ausgebildet, sie werden ihm nicht den Energiestrom überlassen …

Da wird mir erst klar, wie sehr alles von mir abhängt. Ich kann fühlen, wie auch Vincenta in diesem Moment gefühlt haben muss. Aber ich habe keine Zeit mehr, ich muss jetzt sofort eine Entscheidung treffen. Ich weiß nicht, was passiert, wenn er seine Energie erhält, aber nicht meine Seele. Ich weiß nicht, ob wir es wirklich schaffen können, ihm die Energie zu verweigern.

Darauf hat uns niemand vorbereitet.

Wieder rumpelt die Erde unter uns, alle erstarren in ihren Bewegungen, lassen aber ihr Ziel nicht aus den Augen. Meine Finger schließen sich fest um die Beretta, die im Halfter an meinem Oberschenkel steckt, und ich ziehe sie unauffällig heraus.

Ich kann das nicht, denke ich mir, aber das Rumpeln in der Erde nimmt zu und ich schließe die Augen. Es ist ganz einfach. Nichts einfacher als das.

Das Zischen und Fauchen in meinen Ohren wird immer lauter, plötzlich lässt mich Gabe so abrupt los, dass mir klar ist, dass etwas nicht stimmt. Als ich mich umdrehe, fällt er gerade zu Boden.

»Nein«, schreit es in mir, aber ich kann meinen Mund nicht bewegen. »Gabe!«

Als ich herumwirble, steht Sam direkt vor mir. Seine Augen blitzen teuflisch. Der Verführer hat seine Schuldigkeit getan, sagen seine Augen. Als ich den Angriff abwehren will, der mir gilt, zwinkert er mir nur zu. Seine eisige Stärke streift mich nur an meiner Hand, schleudert die Waffe in hohem Bogen von mir.

Sam. Der verhindern will, dass ich mich selbst erschieße.

»Jahrhunderte habe ich darauf gewartet. Auf diesen einen Augenblick«, flüstert in mir die dunkle Stimme, die ich immer für die Stimme Azraels gehalten habe. »Nichts wird mich jetzt aufhalten können.«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Dorrotya die Waffe hebt, dass Ziel ist eindeutig Dawna. Ein schwarzer schlanker Schatten setzt sich in Bewegung, mit zwei kraftvollen Sprüngen überwindet er die Strecke zwischen Dawna und Dorrotya, springt zornig an dieser hoch und bringt sie zum Taumeln. Ein Schuss löst sich, pfeift durch die Dunkelheit in den Nachthimmel.

»Stopp«, sagt eine weitere bekannte Stimme.

Es ist Jools, die sich breitbeinig vor Dawna stellt, an ihrer Seite Felicia. Mit einem Sprung ist Kat vor Mum.

»Ich glaube an euch«, ruft sie laut und breitet die Arme aus. »Nec laudibus nec timore!«

Das Schweigen ist erfüllt von tausend Gedanken und dem bedrohlichen Grollen des Energiestroms, der sich den Weg des geringsten Widerstands sucht … vom Tor des Ordens nach Whistling Wing.

»Schnickschnack«, sagt Sam und schüttelt den Kopf. »Ihr solltet euch nicht mit so einem Blödsinn aufhalten.«

Keiner antwortet ihm.

»Vor allen Dingen muss man auch mal akzeptieren, wenn man verloren hat.« Er legt eine spöttische Pause ein. »Mädels.«

Die einzige Möglichkeit, mich selbst zu töten, liegt etwa fünf Meter weit von mir entfernt. Meine Beretta. Ich weiß, dass ich es nicht mehr schaffen werde, sie zu erreichen.

Ich tausche einen Blick mit Dawna, sie will mir ganz offensichtlich sagen, dass er niemals meine Seele bekommen wird. Dass alle Hüterinnen schon längst wissen, was sie tun müssen, um das zu verhindern. Und dass mein Tod nicht die Lösung ist.

Ich weiß nur, dass es für alles zu spät ist. Heiße Luft bläst aus dem Tor, wir können unsere Pläne nicht mehr überdenken und ändern.

Das unterirdische Grollen bringt die Erde zum Beben.

Das Rascheln von tausend Federn senkt sich über unser Schweigen. Mit einem eleganten Sprung landet sie in unserer Mitte. Fast hätte ich sie nicht erkannt, ihre Augen blitzen wütend, und als sie die riesigen Schwingen auf ihrem Rücken faltet, scheint sie ein zorniges Fauchen von sich zu geben.

Lilli-Thi.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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