Dawna
Indie ist eingeschlafen. Gerade haben wir noch miteinander geredet, leise, als könnten wir mit unseren Worten das Böse wirklich wecken. Vorsichtig. Tastend.
»Werden sie noch heute Nacht kommen?«, hatte Indie geflüstert.
Ich hatte Nein gesagt, obwohl ich mir nicht sicher war und obwohl ich selbst ganz schreckliche Angst davor hatte, dass sie hierherkamen. Um Miley zu holen. Um uns zu holen.
»Wir sind doch sicher, hier sind wir sicher. Auf Whistling Wing.«
»Sie kommen ganz bestimmt nicht«, hatte ich geflüstert.
Dann ist ihr Kopf langsam auf die Tischplatte gesunken und jetzt atmet sie ruhig. Ihr rotes Haar fließt über ihre Arme, ab und zu flattern ihre Augenlider. Sie träumt. Ich bin froh, dass wenigstens Indie etwas Ruhe findet. Ich lege ihr Mums Strickjacke über die Schultern und gehe zum Fenster. Draußen ist es so dunkel, dass ich nicht einmal bis zur Scheune hinübersehen kann. Einzelne Schneeflocken taumeln auf die Veranda. Mehr kann ich nicht erkennen. Aber ich weiß auch so, dass sie noch da sind. Die Comtesse und Kat und Miss Anderson. Alles an mir ist eiskalt. Ich schleiche an Indie vorbei, schließe leise die Tür hinter mir und steige die Treppen hoch. Alle sind zu Bett gegangen. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, ich ahne nur, dass es nicht mehr weit bis zum Morgen ist. Dass es nicht mehr lange dauert, bis die Nacht sich wendet und wieder zum Tag wird. Ich lasse die knarzende Treppenstufe aus, um niemanden zu wecken, und schlüpfe ins Badezimmer. Die Fliesen mit dem Rosenmuster, die ich als Kind endlos ansehen konnte. Die Badewanne mit den Löwenfüßen, in die Granny uns nach einem Tag im Staub und Dreck gesteckt hatte. Damals war alles so einfach. Mit Granny war alles so einfach.
Ich will mich nicht im Spiegel ansehen, ich will nicht in meine Augen blicken, die groß und dunkel sind, und mir das, was passiert ist, wieder und wieder erzählen werden.
Du hast Miley gerettet.
Du hast Samael entbannt.
Ich werde mir nie wieder in die Augen blicken können, ohne daran zu denken.
Schnell öffne ich den Knopf meiner Jeans und streife sie ab, ziehe mir das Sweatshirt über den Kopf, mein Top, meinen Bra. Ich lasse alles einfach auf den Boden fallen und spüre, wie die Kälte nach mir greift. Mir die Brust zuschnürt.
Du hast den Dämon Samael entbannt, weil du einen Jungen liebst. Und du darfst nicht lieben. Alles passiert nur deswegen. Weil du deine Aufgaben vergisst.
Jetzt sehe ich doch hin. Betrachte meine Augen, unter denen schwarze Schatten liegen. Ein tiefer Kratzer zieht sich über meine Stirn und mein Haar sieht wirr und zerzaust aus. Das ist nicht mehr die Dawna, die ich kenne. Die sich morgens das Haar bürstet, bis es wie Seide über ihren Rücken fällt. Deren Gesicht immer einen sanften Ausdruck trägt. Die niemals laut wird.
»Ich habe nie geliebt«, flüstere ich.
Ich habe einen Jungen nicht mal angesehen, als wäre dieses Wissen in mir drin verankert. So tief, dass es mich nur im Traum einholen konnte. Aber ich wusste es. Immer. Deswegen blieb ich alleine. Bis wir nach Whistling Wing kamen. Wären wir nicht hierhergekommen … wären wir doch nie …
Ich drehe mich abrupt vom Spiegel weg und steige in die Wanne. Ich ziehe den Duschvorhang vor und drehe den Wasserhahn auf. Dampfend heiß prasselt es auf meinen Körper und für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, ich könnte alle Erinnerungen einfach fortspülen, mit dem heißen Wasser in den Ausguss schwemmen und so lange duschen, bis ich wieder ein normales Mädchen bin. Bis ich wieder die Dawna bin, die ich kenne. Oder zu kennen glaubte.
Jemand öffnet die Badezimmertür und drückt sich durch den Türspalt. Im ersten Moment glaube ich, es ist Indie. Es kann ja nur Indie sein – doch dann erkenne ich Miley, sein schwarzes, lockiges Haar und die Umrisse seines Körpers. Erschrocken verschränke ich meine Arme vor der Brust. Eine sinnlose Geste.
»Dawna«, sagt er und bleibt vor der Wanne stehen, »ich habe dich gesucht.«
»Ich hatte die Tür abgesperrt«, sage ich, aber das Rauschen des Wassers reißt meine Worte mit fort. Was rede ich da für einen Blödsinn. Schließlich weiß ich mehr als genau, dass Miley jede geschlossene Tür in Sekundenschnelle öffnen kann. Schließlich ist er Zigeuner, hat er früher immer betont, wenn wir gemeinsam vor dem einen oder anderen Geräteschuppen standen. Deswegen warte ich seine Antwort erst gar nicht ab. Der Wasserdampf benetzt den Vorhang und nimmt Miley wenigstens ein bisschen die Sicht auf meinen nackten Körper.
»Wir müssen reden«, sagt Miley und bleibt einfach stehen, »mir ist so viel klar geworden.«
»Aber doch nicht jetzt«, sage ich verzweifelt.
»Sonst ist doch immer Indie dabei. Außerdem sehe ich dir gerne beim Duschen zu.«
Ich kann hören, dass Miley grinst, obwohl ich seine Gesichtszüge nicht sehe. Kann nicht einmal etwas normal laufen? Wann genau war der Zeitpunkt, an dem mir alles entglitten ist? War es da, als Miley vor mir im Kräutergarten stand? Als die Sonne heiß auf unsere nackten Arme brannte und der Geruch von Minze und Thymian über unseren Köpfen hing? Oder war es schon viel früher? War es der Moment, in dem ich die Tür unserer letzten Wohnung in Welby hinter mir zuzog? Für immer. Zum Pick-up hinunterging und Mum sagen hörte: »Jetzt fahren wir nach Hause.«
»Ich will mit dir zusammen sein«, sagt Miley unvermittelt.
Ich zucke zusammen. Das Wasser läuft über meinen Kopf, hängt in meinen Wimpern, tropft von meinem Kinn. Das darf doch alles nicht wahr sein. Aber was hatte ich erwartet? Ich hatte es sogar gehofft. Mir mehr als alles andere gewünscht. Ich hatte darum gebetet und diese Gebete sofort bereut und verworfen. Ich hatte nicht mehr daran zu denken gewagt, dass ich Miley finde und wir ein Paar werden. Dass er mich liebt. Nur mich haben will und niemanden sonst.
»Sag nichts«, sagt Miley, als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen, »ihr habt ein Geheimnis. Ein dunkles, schreckliches Geheimnis.«
Seine Stimme hört sich nicht spöttisch an.
»Meine Mum hat das gesagt. Sie hat gesagt, ich soll mich von Whistling Wing fernhalten. Sie hat euch gesehen, als ihr angekommen seid.«
Wieder ist Sommer, es ist der erste Tag auf Whistling Wing. Ich blicke aus dem Küchenfenster und verenge die Augen.
»Da ist jemand«, flüstere ich, »da drüben. Im Schatten des Baumes.«
Indie dreht sich zum Fenster. Die Hitze lässt die Luft flimmern. Sehe ich jemanden dort stehen? Eine Frau? Einen Wolf? Die Hitze täuscht unsere Augen. Ich seufze.
»Vielleicht auch nicht«, sage ich.
»Und dann hat sie tagelang das Haus nicht mehr verlassen«, fährt Miley fort. »Hat mit den Geistern gesprochen, ein Huhn geschlachtet, Salbei verbrannt und solchen Kram gemacht. Dann hat sie gesagt: ›Die Zeit ist gekommen.‹«
»Und du hast ihr nicht geglaubt«, sage ich.
»Es war mir egal, Dawna«, er zuckt mit den Schultern, »ich habe dich gesehen. Da im Garten, zwischen den Kräutern. Es war mir einfach egal, was meine Mum wollte.«
»Du hättest auf sie hören sollen«, sage ich heftig.
Mein Herz schlägt bis zum Hals. Schnell und gleichmäßig. Und obwohl es mein Blut durch meinen ganzen Körper pumpen müsste, habe ich das Gefühl, alles Blut sammelt sich in meinem Unterleib. Pulsierend und heiß.
»Dafür fällt mir im Moment kein vernünftiger Grund ein.« Er zieht sich sein T-Shirt über den Kopf, eine einzige fließende Bewegung, und lässt es auf den Haufen mit meinen Klamotten fallen.
Was soll das?, will ich sagen, aber ich sage nichts, sondern weiche zurück, bis ich mit dem Rücken an der Wand stehe. Ich spüre die kalten Fliesen auf meiner Haut und Miley zieht den Vorhang mit einem Ruck zur Seite. Wir sehen uns in die Augen. Seine Augen sind schwarz mit dichten, langen Wimpern. Eine Verschwendung an einen Jungen.
»Nicht«, sage ich atemlos, »es bringt Unglück. Du darfst das nicht tun. Ich bringe dir Unglück. Deine Mutter hat recht. Sie kennt unser Geheimnis …«
»Was ist euer Geheimnis?«, flüstert er.
Sein Blick wandert über meinen Körper, über meinen Bauch, meine Schenkel.
»Wir sind …«, ich stocke.
Auch ich muss ihn ansehen. Seine Schultern, die glatte Haut auf seinem muskulösen Oberkörper. Es ist anders als im Sommer. Jetzt will ich ihn berühren, will meine Hände über seine Brust gleiten lassen, bis dorthin, wo der Bund seiner Jeans sitzt. Ich will wissen, ob seine Haut wirklich so braun ist oder ob es der Staub des Sommers ist, der noch an ihm haftet. Meine Sehnsucht nach ihm ist so stark, dass ich mich nicht mehr wehren kann.
»Was seid ihr?«, flüstert er.
»Wir sind Hüterinnen. Wir sind dazu geboren, das Tor der Engel mit unserem Leben zu beschützen. Das ist unsere Aufgabe. Von Generation zu Generation weitergegeben. Von Jahrhundert zu Jahrhundert …«
»… von Frau zu Frau. Und diese Bestimmung werden wir brechen«, höre ich Grannys Stimme so deutlich in meinem Ohr, dass ich glaube, sie steht neben mir. »Ihr werdet die letzten Hüterinnen sein. Wir werden uns befreien. Wir. Werden. Frei. Sein.«
Verwirrt halte ich inne. »… Wir. Werden. Frei. Sein …«
»Was ist mit dir?«, fragt Miley, erwartet aber keine Antwort.
Ich schüttle Grannys Stimme ab, obwohl sie wie ein fernes Echo in meinem Ohr hallt.
Auf Mileys Mund schwebt ein schiefes Lächeln. Ich kenne es so gut. Zu gut. Diesen Ausdruck auf seinem Gesicht, bevor er ein Schloss knackt. Wenn er weiß, dass er schon gewonnen hat. Er steigt zu mir in die Wanne. In Sekundenschnelle ist seine Jeans völlig durchnässt. Er ist mir so nah, dass sich unsere Körper berühren, ohne dass wir die Hände nacheinander ausstrecken. Seine Haut ist heiß, oder ist es das Wasser, die Millionen von feinen Tröpfchen, die zwischen uns tanzen? Meine Arme sinken herab, die letzte Barriere zwischen uns, und ich lasse zu, dass sich meine Brüste an seine Brust schmiegen. Hitzeschauer fliegen über meine Haut. Mileys Hände finden meine. Unsere Finger schlingen sich ineinander, als wollten wir für immer so hier stehen.
»Ich will dich«, flüstert er in mein Ohr, »meine Mutter weiß nichts. Sie glaubt an die Vorsehung. Ich glaube nicht daran. Lass uns zusammen weggehen. Wir können überall zusammen sein.«
»Sie werden uns überall finden.«
Ich lehne meinen Kopf an Mileys Schulter. Meine Lippen streifen über seine Haut, schmecken Salz und Motoröl und Sommer.
Ich liebe dich, Miley, will ich sagen, aber ich atme nur tief ein und aus, sauge seinen Geruch tief in meine Lungen.
»Wer wird uns finden?«, raunt Miley.
Er zieht mich enger an sich und presst mich gegen die Wand. Das heiße Wasser scheint unsere Körper aneinanderzukleben. Untrennbar. Ich schiebe meine Hände dazwischen, öffne den Knopf seiner Jeans und streife sie ab.
»Shantani und Pius. Und Rag«, flüstere ich, während meine Gedanken immer weiter wegdriften. Es gibt nur noch ihn und mich, das Rauschen des Wassers, die Nacht, die sich dem Morgen entgegenneigt. Ich weiß es. Die Sonne wird aufgehen. Bald.
»Und Samael«, füge ich hinzu.
Ich kann mich kaum mehr konzentrieren. Ein so starkes Kribbeln läuft durch meinen Körper, dass alle Gedanken wie weggepustet sind. Ich spüre Mileys Hüften auf meinen und schließe die Augen. Ich will nur noch, dass er mich küsst, dass wir endlich das tun, zu dem wir bestimmt sind. Schon immer. Granny muss es gewusst haben. Sie muss doch gewusst haben, dass ich Miley lieben werde und dass wir uns nicht dagegen wehren können. Vielleicht hat sie Indie und mich auch deswegen weggeschickt. Sie hat gespürt, dass er es ist. Er und nur er. Und niemand sonst. Seine Hände gleiten nach oben, bis sie auf meinen Schultern liegen. Dann umfasst er mein Gesicht und ich öffne die Augen. So nah ist er, dass er nur den Kopf senken müsste, um mich zu küssen.
»Du sollst dich doch nicht mit so gefährlichen Jungs einlassen«, sagt er, »hat dir das deine Granny nicht beigebracht?«
Seine Stimme ist rau und voller Verlangen. Sein Atem vermischt sich mit meinem, wir atmen diese Feuchtigkeit ein, sind durchtränkt von ihr, benommen. Mileys Haar glänzt schwarz und ringelt sich im Nacken. Er ist auch nicht mehr der, der er einmal war – er ist ein Mann und kein Junge und ich weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Wir sind zu weit gegangen. Viel zu weit. Wir können nicht umkehren. Er lässt mein Gesicht los und hebt mich hoch und drückt mich gegen die Wand. Mühelos, und ich schlinge meine Schenkel um ihn. Jetzt bin ich nur noch ich. Dawna. Die fremde Dawna, die mir bald vertrauter sein wird als die, die ich einmal war.
»Und du bist nicht gefährlich…«, flüstere ich zurück.
»Das habe ich nicht gesagt …«
Seine Lippen streifen über meine Stirn und meine Schläfen und dann finden sie endlich meine Lippen. Meine Gedanken stoppen und Bilder fließen durch meinen Kopf. Die Engel auf ihren Motorrädern. Samael. Auf dem Rücken überkreuzte schwarze Flügel. Und Lilli-This Lachen. Ihr endloses Lachen, über mich und über meine schrecklich hoffnungslose Liebe. Und trotzdem lasse ich mich in mein Gefühl fallen und erwidere Mileys Kuss. Bald geht die Sonne auf. Glühend rot wandert sie dem Horizont entgegen.