8

Indie

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Irgendetwas breitet sich in mir aus wie flüssige Lava, läuft von meiner Wirbelsäule in meine Arme und Beine. Sie fangen zu prickeln an, als würden sie gleich taub werden, als würden sie sich einfach weigern, weiter mitzumachen. Aber mein Gehirn ist plötzlich hellwach, meine Gefühle sind unbeschreiblich, es ist, als würde sich mein Körper dagegen wehren, während mein Kopf sich in rasender Geschwindigkeit all die Möglichkeiten, die ich jetzt habe, zu einem Ganzen zusammenpuzzelt.

Es gibt keinen Mittelweg.

Nicht, nachdem Pius endlich gesagt hat, was sie vorhaben. Wer die Schöpfung tötet, tötet auch den Schöpfer. Und das ist es, was Azrael vorhat, das ist der Grund, warum er meine Seele braucht.

Ich kann meine Augen nicht von Rag abwenden.

Weißer eiskalter Nebel kriecht von den Feldern auf den Parkplatz, umspült unsere Füße mit Eiskristallen. Auch Rag kann seine Augen nicht von mir abwenden. Glühend heiß brennt in ihnen der Hass, nichts anderes ist in ihm.

»Lass sie«, sagt Pius, aber seine Stimme klingt nicht so, als hätte er die Kraft, Rag zu befehlen.

Ich warte auf die Angst. Die Angst zu sterben und alles tun zu wollen, um diesem Schicksal zu entkommen. Ich horche in mich hinein. Je mehr ich ihm aber in die Augen sehe, desto heißer werden meine Gedanken. Da ist keine Angst in mir. War es der Streit mit Dawna? War es die Unterhaltung mit diesem blöden Scheißer Pius?

Es durchströmt mich mit einer riesigen Kraft und Wucht, füllt mich komplett aus.

Wenn er mich tötet, dann ist ihr toller Plan im Arsch. Wenn ich sterben muss, dann mit erhobenem Kopf.

»Indie«, sagt Dawna atemlos.

Wenn das jetzt meine letzten Sekunden sind, die ich zu leben habe, dann will ich ihn noch richtig verletzen, wenigstens mit meinen Worten. Ich kämpfe ein klein wenig gegen das an, was ich sagen will. Ich will etwas sagen, das sich anhört wie »Du bist ein Stück Scheiße, Rag. Und wenn’s mein Schicksal ist, auf einem Stück Scheiße auszurutschen, ist das wohl so«. Aber mir liegt etwas anderes auf der Zunge. Etwas, das ich sagen muss.

»Magnificat anima mea dominum«, flüstere ich.

Die Luft zwischen uns gefriert. Der Hauch meiner Worte hängt gefroren vor meinem Mund, wie Eiskristalle stehen sie zwischen uns.

Ich kenne diese Worte, weiß, was sie bedeuten.

Hoch preiset meine Seele den Herrn.

Wieso ich sie auf Lateinisch sage, weiß ich nicht. Sie kommen aus mir heraus, als hätten sie hier die ganze Zeit darauf gewartet, ausgesprochen zu werden. Als wären es die einzigen Worte, die ich Rag entgegenschleudern will.

»Magnificat anima mea dominum!« Ich breite meine Arme aus und hebe meinen Blick zum Himmel. Die Worte kommen jetzt klar und laut aus meiner Kehle und ich weiß, dass dies nichts ist, was Rag einschüchtert oder von irgendetwas abhält. Nein, ich weiß sogar, dass ich seinen Hass damit noch mehr entfache. Denn der Herr, von dem ich spreche, den ich preise, ist nicht der Herr, dem er dient.

Als ich meinen Blick auf ihn richte, ist mir klar, dass er mich nur noch töten will.

Töten, weil ich diese Worte ausgesprochen habe.

Wenn es bis zu dem Moment nichts Persönliches zwischen uns war, jetzt ist es das.

»Nimm das zurück«, sagt er mit einem so drohenden Unterton, dass mein Herzschlag explodiert.

»Rag«, sagt Pius und packt ihn am Arm. »Du weißt, was sie uns aufgetragen hat.«

Rag schüttelt seine Hand ab, aber er bleibt stehen, seine eisblauen Augen wollen mir seinen Willen aufdrängen. Ich weiß, was er weiß: Ich bin schwächer als er. Dawna und ich können ihm nichts entgegensetzen. Aber ich weiß, dass ich keines meiner Worte zurücknehmen kann, nicht zurücknehmen darf, und dass ich ihm nicht die Hand reichen darf, um keinen Preis der Welt. Auch nicht, wenn ich jetzt sterben muss.

Unser Schweigen heizt sich auf, schließt alles andere aus.

Er und ich.

Ich und er.

»Nimm diese Worte zurück«, flüstert er mit seiner heiseren unheimlichen Stimme.

Wir starren uns weiter an.

»Ich nehme gar nichts zurück«, flüstere ich.

Er scheint plötzlich größer zu werden. Seine Schultern breiter und seine Fäuste größer.

»Nec laudibus nec timore«, kommt es aus meinem Mund und ich beginne zu lächeln.

Mich kriegt keiner mehr klein. Keiner. Mich erfüllt eine Verbundenheit mit Granny, wie ich sie noch nie gespürt habe. Eine Verbundenheit mit dem, was ich zu tun habe, mit dem, was meine Mission ist. Mit dem, was ich tun werde. Und ich weiß, dass ich mich von niemandem davon abbringen lassen werde. Nicht jetzt. Nicht morgen. Nie wieder.

»Nec laudibus nec timore«, wiederhole ich jetzt laut und ich weiß, dass er es genauso versteht wie ich, obwohl ich meine, es zum ersten Mal zu hören.

Aber ich höre es nicht zum ersten Mal. Denn ich sehe einen grauen Stein vor mir, rund, von Flechten und Moos überwuchert, und es stehen genau diese Worte darauf. Sie sind eingehauen in diesen uralten Stein, umrunden ihn, sodass sich die Buchstaben wieder treffen. Und darüber steht in noch größeren Lettern: »Magnificat anima mea dominum«. Ich kenne ihn, weil ich Ernestine Spencers Enkelin bin. Und die Ururenkelin von Victoria Spencer. Denn es ist der Leitspruch des Ordens. Des Ordens, dem ich angehöre, dem wir angehören. Dawna und ich. Wir gehören zum Orden der Engelshüterinnen, so wie auch Granny und ihre Schwester zu dieser Dynastie gehört haben. Und auch die Großmütter davor. Bis zu unserem Tod.

Es gibt kein Zurück. Es gibt kein Aufgeben. Und es gibt ein Ziel.

Und ich werde es erreichen.

Auch wenn ich dafür sterben muss.

»Nec laudibus nec timore«, sage ich noch einmal, klar und deutlich. Weder durch Lobsprüche noch durch Einschüchterung.

Rags Körper spannt sich an, seine Gesichtszüge versteinern in einer hasserfüllten Fratze. Ich sehe, wie er seine rechte Faust ballt, und weiß, wen sie treffen wird. Und ich weiß, was ich auf jeden dieser Schläge erwidern werde und dass ich erst damit aufhören werde, wenn ich bewusstlos bin oder tot.

»Stopp«, sagt Dawna und stellt sich vor mich.

Ich weiß, was sie vorhat. Aber ich weiß, dass es ihr nicht gelingen wird. Er wird sie zur Seite schubsen, als wäre sie ein Nichts.

»Danke, Dawna«, sage ich und schiebe sie weg. Rag ist mein Schicksal und nicht deins.

Ein Geräusch an ihrer Seite lässt mich innehalten. Neben Dawna steht plötzlich ein Mann, drahtig und muskulös, die langen braunen Haare umrahmen sein markantes Gesicht mit dem dunklen Bartschatten. Seine Lederjacke ist an der rechten Schulter aufgerissen und eine Flüssigkeit hat das Leder dort dunkel gefärbt.

Blut.

Er beachtet uns nicht. Seine bernsteinfarbenen Augen sind auf Rag fixiert.

Dusk. Der Gedanke von Dawna ist atemlos, voller Gefühle.

Und auch ich werde plötzlich überschwemmt von einer ganzen Reihe von Gefühlen. Die Wölfe. Sie sind nicht alle tot. Und sie sind noch immer auf unserer Seite. Zumindest Dusk. Er wird alles versuchen, um Dawna zu schützen. Die zerfetzte Lederjacke macht mich unruhig. Ich habe den Eindruck, dass der Hass von Rag so sehr brennt, dass ihn keiner stoppen kann. Rag geht einen Schritt nach vorne und im nächsten Moment verwandelt sich Dusk in einer fließenden Bewegung in den Wolf, den ich kenne. Auch er geht auf Rag zu, seine Schritte sind steifbeinig und drohend, die weißen Zähne blitzen aggressiv auf. Jetzt erkennt man deutlich, dass er verwundet ist. Seine Schulter sieht aus, als hätte sie einen Hieb mit einem scharfen Messer abgekommen. Das Fell ist blutverklebt und seine Schritte sind nicht ganz so geschmeidig wie sonst.

»Dusk«, flüstert Dawna. Ich will dich nicht verlieren, denkt sie. Ich will dich nicht schon wieder verlieren.

Dusk scheint dies nicht zu bemerken, er umrundet Rag und auch der dreht sich. Wortlos. Man hört kein Wort, kein Knurren, nur die Schritte der schweren Biker Boots auf dem gefrorenen Boden. Ich weiß genau, was er vorhat. Er wirkt so, als würde er jeden Moment losspringen. Wenn er beim ersten Sprung die Kehle verfehlt, hat er verloren. Man sieht ihm an, dass er sich dessen bewusst ist. Er ist so konzentriert, dass er nichts um sich herum wahrnimmt. Dawna packt mich an der Hand, zieht mich ein Stück nach hinten.

Dusk hat keine Chance. Das muss auch Dawna klar sein. Er ist zu stark verwundet.

»Lass uns reingehen, Rag«, sagt Pius vorsichtig und weicht vor uns zurück. Er geht ein paar Schritte rückwärts, dann dreht er sich einfach um und geht.

Im nächsten Augenblick sehe ich wieder eine Bewegung neben mir. Es ist nicht nur Dusk, der auf unserer Seite kämpft. Mit einem gewaltigen Satz springt der Wüstenhund vor uns. Plötzlich fällt die Anspannung von mir ab. Die atemlose Stille ist vorbei. Das dumpfe Grollen, das aus seinem Brustkorb dringt, klingt Furcht einflößend und aggressiv. Er wird flankiert von Kalo und dem fremden dunklen Wolf. Rags Aggression nimmt aber nicht ab. Seine Augen verengen sich nur ein wenig.

Rag ist nicht irgendwer. Je mehr Gewalt auf ihn einstürmt, desto gewaltbereiter wird er. Selbst die Aussicht, zerfetzt zu werden, scheint ihn nicht zu beunruhigen, sondern nur seinen Hass zu befeuern. Seine Augen richten sich wieder auf mich.

Du hast sie gerufen, scheinen sie zu sagen. Das wirst du bereuen. Deine Freunde müssen genauso sterben wie du. Der Wüstenhund scheint diese Worte ebenfalls zu spüren, denn er duckt sich ein klein wenig, bereit zum Sprung, bereit, zum Äußersten zu gehen. Mein Blick richtet sich auf Dusk, auch seine bernsteinfarbenen Augen scheinen mit Rag zu sprechen. Leg dich nie mit einem Rudel an.

Leg dich nie mit denen an, die wir beschützen.

Ich wünsche mir nichts mehr, als meine Kräfte zu haben, die Kräfte der Hüterinnen. Nicht mehr die Unterlegene zu sein. Nicht mehr die, die die Wölfe vorschicken muss.

Dawnas Hand verkrampft sich in meiner. Ihr einziger Gedanke ist Dusk.

Dusk. Dusk. Dusk.

Du darfst dein Herz keinem Wolf schenken, ist mein Gedanke. Und wie schon oft in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass es nicht mein Gedanke ist, den ich denke. Dass es Worte sind, die schon vor langer Zeit gesprochen wurden. Zu einer Zeit, als die Wölfe noch nicht auf unserer Seite waren. Zu einer Zeit, da es weder Dusk gab. Noch mich. Oder Dawna.

Dann höre ich hinter mir ein Auto.

Es ist ein roter Ford Bronco, der mit überhöhter Geschwindigkeit auf den Parkplatz fährt und dann mit einem rasanten Stopp hält.

Kat und Miss Anderson.

Die Szene vor uns erstarrt.

Die beiden steigen aus dem Auto und bleiben dort stehen. Sie beachten uns genauso wenig wie die Wölfe. Alle scheinen ihre Energien auf Rag zu konzentrieren. In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen.

Denn gerade im Moment passiert etwas Unglaubliches.

Rags Energien werden geschwächt. Es ist, als würde die Glut in seinen Augen verlöschen. Es ist ein seltsames und beunruhigendes Gefühl, während ich auf die vertrauten Gestalten der beiden Frauen sehe. Miss Anderson in ihrem scheußlichen Tweed, Kat in ihrer Thermohose und der Kapuzenjacke. Der Anblick ist so alltäglich, aber das, was ich in ihren Gesichtern sehe, ist so verändert, dass mich ein Schauder überläuft. Ich brauche nicht darüber nachzudenken, was gerade passiert. Miss A. und Kat sind gekommen, um uns vor Rag zu retten.

Mit starrem Blick sehen sich Rag und die zwei Frauen an. Sie drohen nicht. Sie sagen nichts. Aber es ist klar, wer mächtiger ist. Ihre Gedanken sind nur auf ihn fixiert. Raguel.

Raguel, dessen Gewalt alles zerstören kann.

Aber Raguel beugt sich. Er beugt sich vor der höheren Gewalt.

Die Wölfe haben sich noch immer dicht vor uns aufgebaut, lassen ihn nicht aus den Augen. Obwohl schon längst klar ist, was passieren wird. Er wendet sich ab, geht mit langsamen Schritten zu seinem Motorrad und schwingt sich in den Sattel.

Das dumpfe Motorengeräusch verhallt in der Ferne, wie auf ein gemeinsames Signal verschwinden die Wölfe in vier verschiedene Richtungen.

Vor meinen Augen tanzen die Bilder. Der graue Stein mit den Flechten. Unsere Mission. Der verwundete Dusk. Die Wölfe.

Und schließlich die zwei Frauen, die plötzlich gezeigt haben, dass sie mehr sind als nur zwei gewöhnliche Frauen auf der Suche nach ihrem Schutzengel.

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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