7

Dawna

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Was ich wirklich nicht fassen kann, nach dieser hirnrissigen Aktion vor Rosells Laden, ist, dass Indie zum Morrison Motel abbiegt. Sie hat den Navara die Straße Richtung Friedhof hinunterschießen lassen und ist dann, ohne vom Gas zu gehen, auf den Schotterplatz vor dem Motel abgebogen. Auf der hinteren Seite, neben dem Swimmingpool, steht ein Truck, sonst ist der Parkplatz leer. Und schon von Weitem kann ich auf der Vorderseite die Motorräder stehen sehen. Nicht irgendwelche Motorräder. Nein. Es sind sieben Dukes. Schön nebeneinander, vor der gläsernen Eingangstür des Morrison Motel aufgereiht. Über alle sieben Motorräder hat sich eine Schicht Schnee gelegt. Nur über eines nicht. Rags Motorrad. Natürlich nicht. Vermutlich ist er auch ständig damit unterwegs, um jeden unserer Schritte zu überwachen. Indie hat die Dukes auch gesehen. Da bin ich hundertprozentig sicher. Und wahrscheinlich fährt sie deswegen genau dorthin. Weil sie Gabe treffen will. In meinem Bauch braut sich ein heißer Klumpen Wut zusammen. Schlimm genug, dass sie glaubt, mich verarschen zu können, und alleine nach New Corbie abhaut. Nein. Sie will auch noch Gabe treffen. Als wäre Gabe ein stinknormaler Typ, den man eben mal vor dem Club trifft.

Indie lässt den Navara über den Schotter vor den Club holpern und bremst vor den Maschinen. Ich halte genau hinter ihr.

»Sag mal, geht’s noch?!«, brülle ich sie an, nachdem ich die Fahrertür aufgerissen habe.

Ich muss brüllen, weil in ohrenbetäubender Lautstärke Enya läuft. Indie zuckt zusammen. Sie war anscheinend immer noch mit der Anlage beschäftigt.

»Fuck!«, schreit Indie zurück. »Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme!?«

Sie springt aus dem Wagen und schlägt einfach die Tür zu. Jetzt hören wir die Musik nur noch gedämpft, die Musik und das Knacksen des Motors von Rags Duke. Er muss sie erst vor wenigen Minuten hier geparkt haben, und wenn ich nur daran denke, wird mir übel. Sie beobachten uns, denke ich, sie wissen alles. Wo wir sind. Was wir denken. Wann wir schlafen und wann wir wachen.

»Wieso fährst du mir hinterher?«, zischt mich Indie an, »warum bleibst du nicht zu Hause, wie wir es abgemacht haben?«

»Wie wir es abgemacht haben?« Ich bin kurz davor, ihr eine runterzuhauen. »Wir hatten abgemacht, DU bleibst zu Hause. Was soll das? Bist du lebensmüde? Willst du dich umbringen? Und was wolltest du bei Rosells Laden?«

Mir würden noch tausend andere Fragen einfallen. Zum Beispiel wie sie Sidneys Navara unbemerkt zurückbringen will. Ob Autos klauen jetzt schon zur schlechten Gewohnheit geworden ist und was überhaupt diese lächerliche Verkleidung soll. Als hätte Indie einmal mehr meine Gedanken gelesen, nimmt sie die Brille ab und schiebt sie in ihre Jackentasche.

»Ich hatte dort etwas zu erledigen«, sagt sie.

Anscheinend hat sie keine Lust, mit mir darüber zu reden. Auch gut. Ich weiß es sowieso. Es geht wieder einmal um die Blätter. Aber würde Lilli-Thi dieses Zeug einfach rumfliegen lassen, wenn es so wichtig wäre?

»Ach ja«, sage ich böse. »Und hier hattest du auch etwas zu erledigen. Schätze ich.«

Ich lasse meinen Blick zu den Motorrädern schweifen. Sie sind alle schwarz und ohne Nummernschilder. Eines sieht aus wie das andere. Hinter der letzten Duke ist der Kellereingang zum Club. Eine schwarze Tür mit einem kleinen, vergitterten Fensterchen.

»Du riskierst dein Leben«, sage ich böse, »für nichts. Für einen Typ, der dich tot sehen will. Der zu Rag und Lilli-Thi und Shantani gehört. Der nichts dafür tut, dich zu retten. Warum läufst du ihm immer noch hinterher?«

»Und du«, sagt Indie ruhig, »du riskierst überhaupt nichts. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.«

Ihre Worte treffen mich, als hätte sie mich mitten ins Gesicht geschlagen. Ich sehe uns drei, Mum, Indie und mich. Früher, als Indie noch die Kleine war, die ich beschützen musste, weil Mum nichts auf die Reihe brachte. Immer war ich diejenige, die für alles ihren Kopf hinhielt. Immer musste ich Indie überall rausboxen. Ob es in der Schule war oder bei irgendwelchen Cliquen, mit denen sie sich anlegte.

»Das ist lange her«, sagt Indie und schiebt den Schlapphut zurück. Ihr rotes Haar kringelt sich von der Feuchtigkeit des Nebels und klebt an ihren Wangen. »Jetzt geht es um etwas anderes.«

»Und um was, bitte schön?«, fauche ich.

Indie schneidet mir das Wort ab. »Es geht darum, dass du nie das tust, was du willst. Du bist nie heiß oder kalt. Du bist immer lau und immer gehst du den Mittelweg.«

»Was soll denn diese Scheiße!« Ich muss mich wirklich zusammenreißen, nicht so laut zu schreien, dass halb New Corbie zusammenläuft.

»Du willst Miley aufgeben«, sagt Indie, »und ich soll Gabe vergessen.«

»Genau«, sage ich, »gut, dass du dich wenigstens daran erinnerst. Ich dachte schon, du hast alles verdrängt.« Ich fühle mich so schlecht, weil ich Indie anlüge, dass ich kotzen könnte.

»Ich kann es nicht.« Indies Blick ist offen und voller Schmerz. Sie sieht zur Fassade des Morrison Motels hinauf. Irgendwo da drin sind sie. Irgendwo da ist Gabe und zieht Indie an. Der Verführer.

»Du weißt nicht, was du sagst«, fahre ich sie an, »du bist verwirrt. Das ist sein Job. Er ist der Verführer, hast du das vergessen? Er ist nur dazu da…er liebt dich nicht. Er kann dich nicht lieben. Er hat kein Herz und keine Seele.«

Ich atme tief den Nebel ein und spüre, wie er feucht in meine Lungen kriecht.

»Das ist nicht wahr«, flüstert Indie.

Wir sehen uns in die Augen und ich fühle mich wie in einem bescheuerten Film. Immer noch dröhnt Adiemus in Sidneys Navara, als würden gerade irgendwelche Orks die Elben niedermetzeln. Unbarmherzig. Grausam. Irgendetwas stoßen Indies Worte in mir an. Dieses uralte Wissen, das in mir zu lauern scheint, das Steinchen für Steinchen ins Rollen gerät.

»Wir müssen hier weg«, sage ich.

»Wir können nicht den Mittelweg gehen«, flüstert Indie, als hätte sie mir gar nicht zugehört, »wir müssen kämpfen.«

Als wäre dies das Stichwort gewesen, schwingt die Tür zum Club auf. Ich brauche gar nicht hinzusehen, ich weiß auch so, wer dort steht. Und auch Indie muss sich nicht umdrehen. Sie schließt für einen kurzen Moment die Augen. Es musste so kommen. Wir haben sie geweckt. Wir hätten gleich abhauen sollen, anstatt hier diesen blödsinnigen Streit zu führen. Die Tür knallt gegen die flamingofarbene Hauswand und Rags Schwere hält mich sofort gefangen. Er tritt durch die Tür nach draußen und hinter ihm Pius und ein weiterer Engel. Meine Beine sind wie festgefroren. Pius geht einmal um uns herum, dabei lässt er seinen Arm um meine Schultern gleiten.

»Dawna«, sagt er neben meinem Ohr, »unser letztes Zusammentreffen war so … unerfreulich.«

»Ihr habt bekommen, was ihr wolltet«, stoße ich hervor und versuche, seine Hand abzuschütteln, doch Pius hält mich fest, legt seine Hand unter mein Kinn und dreht meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen muss. Seine strahlend blauen Augen sind heute nicht von Schleiern überzogen. Es ist, als könnte man durch sie hindurch in die Unendlichkeit blicken.

»Ja. Den ersten Teil. Aber eine klitzekleine Kleinigkeit fehlt noch.«

Sein Gesicht kommt meinem so nahe, dass ich das Gefühl habe, diese Unendlichkeit saugt mich auf.

»Aber bis dahin ist es nicht mehr lange«, seine Finger brennen sich in meine Haut, »bald wird es so weit sein. Der Weg war steinig, aber jetzt ist er bereitet. Samael ist zurück.«

Sein Griff wird fester.

»In einer Schale mit Blut hat sie ihn gefangen, in der Mitte des Pentagramms. Sie hat ihn aus dieser Schale gehoben und eine Nacht in der hohlen Hand bewahrt.«

Seine Augen zeigen mir Lilli-Thi. Ihr Kleid ist von Blut befleckt und auch ihre Hände. Sie liegt auf einem Bett, lächelnd, und über ihr glüht der Sternenhimmel. Ihre Hände formen eine Schale und zwischen ihren Fingern leuchtet ein schwacher roter Schein, als hätte sie die aufgehende Wintersonne damit gefangen. Sams Seele. Die Seele des Meisters. Neu geboren, durch uns.

»Samael ist zurück und mit ihm die Kontrolle über die Gefallenen.« Er zieht das letzte Wort genüsslich in die Länge. »Ich weiß, dass du sie auch so nennst, Dawna, und du hast recht, denn sie sind keine Engel mehr. Sie haben ihre Göttlichkeit zurückgelassen. Das war der Preis.«

Und warum, denke ich, warum hast du dich geopfert an einem strahlenden Sommertag? Was hat dich dazu getrieben, ihnen deine Seele zu geben?

»Es ist faszinierend«, sagt Pius, »sie sind gefallen und mit ihnen wird das gesamte Himmelreich zugrunde gehen. Seht sie euch an. Sie sind gekommen, um zu richten … die Lebenden und die Toten.«

Er lenkt meinen Blick zu Rag und dem fremden Engel. Sie stehen Seite an Seite, berühren sich an den Schultern. Genau gleich groß, wie Klone. Nur ihre Gesichter unterscheiden sich. Das Gesicht des Fremden ist noch ebenmäßiger und ich kann mir vorstellen, wie er früher ausgesehen hat. Voller Liebe und strahlend. Jetzt hängt ein fahler Glanz an ihm. Ich glaube, in ihm den Engel zu erkennen, der mich über die Dächer bei Sam Rosells Laden gejagt hat. Wie lange ist das her? Ganze Leben liegen dazwischen.

»Sie sind gefallen und werden sich nun an Gott rächen«, sagt Pius versonnen, »endlich werden sie sich mit eurer Hilfe rächen können. Wie viele Tausend Jahre warten sie schon auf diesen einen Moment. Denn wenn die Schöpfung zerstört ist …«

Er nimmt meinen Kopf in beide Hände, eine fast zärtliche Geste.

»… dann ist auch Gott vernichtet.«

Ein heißer Schauer läuft über meinen Rücken. Vernichtet…vernichtet … vernichtet …

Gott ist meine Wahrheit, denke ich und sehe aus den Augenwinkeln, wie der fremde Engel zusammenzuckt.

»Verstehst du jetzt, Dawna, wie wichtig eure Aufgabe ist? Wie ehrenvoll? Wie großartig? Wie allumfassend? Alles wird ein Ende haben. Jeder Krieg. Jede Liebe. Alles. Ihr werdet uns den Frieden zurückgeben. Denn wo kein Gut ist … ist auch kein Böse …«

Er sieht zum Himmel hinauf und zieht mich mit. Hoch oben wirbelt der Nebel und einzelne Schneeflocken schweben über unseren Köpfen, so fein und kalt, dass sie auf der Haut schmerzen. Sie wirbeln durch meine Gedanken und ich fange an zu verstehen. Alles, was bis jetzt passiert ist und noch passieren wird. Alles, was Granny uns verschwiegen hat, vor dem sie uns zu schützen versucht hat. Ich sehe Legionen gefallener Engel, die eine Dunkelheit über die Welt bringen werden, die niemand mehr erhellen kann. Gott ist tot, flüstert es an meinem Ohr, aber es ist nicht Pius, der gesprochen hat. Es ist der Wind, der Schnee, der Nebel, Rag und der Atem des fremden Engels und mein eigener Herzschlag, der tief in meinem Inneren diese Worte gegen meinen Brustkorb klopft.

»Bald wird Gott tot sein«, sagt Pius, »und wir alle werden diesen Tag erleben dürfen. So nah ist er. So nah … so nah ist die Freiheit.«

Er sieht mich wieder an, Dunkelheit schwappt in seinen Augen, wie brackiges Wasser in einem schwarzen See. Ohne Ufer. Ohne Rettung.

»Pius, du kleines, pickeliges Arschloch«, zischt Indie neben mir, »ich frage mich schon lange, wieso sich deine Kumpels hier überhaupt mit dir abgeben. Was, zum Teufel, hat die geritten, als sie dich bei ihnen mitmachen ließen.«

Dark Angels' Winter: Die Erfüllung
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