Wasserturm, 25. Juli 2013
Der Wind trägt sie hoch hinauf, oder ist es ihr Zorn? Ihr Zorn über Befehle, die sie befolgen muss, über die Demütigungen, die sie ertragen muss. Sie, die niemals, niemals zuließ, dass ein Mann über ihr war, ihren Willen brach, ihr seinen Willen aufzwang. Nie war sie der Besitz eines Mannes gewesen, obwohl alle sie besitzen wollten. Sie war frei gewesen, sie war der nächtliche Wind, der Traum, der sich in den Schlaf stahl, ein Traum von Lust und Begehren.
Sie stürzt sich in das Grün des Waldes und Blätter peitschen über ihren Körper, sie spürt keinen Schmerz, keine Angst. Sie spürt nur Zorn, einen alles verzehrenden Zorn.
Natürlich hat sie die Frauen gesehen, unten am Turm, doch sie war zu aufgewühlt für einen Kampf. Sie hätte die Alte gleich töten können. Sie hätte sie mit sich schleifen können, mit ihren Krallen zerreißen. Doch sie gönnte Samael diesen Triumph nicht. So oft hatte sie Dinge getan, um ihm zu gefallen. Zu oft.
Gott erschuf Adam und Lilith aus demselben Stück Lehm, flüstert es in Lilli-This Kopf, doch Samaels Spucke verunreinigte das Stück, aus dem Lilith geformt wurde. Lilith wurde stark und wild und schön, sie ließ nicht zu, dass Adam über ihr lag, und das gefiel ihm nicht. Als er sie zwingen wollte, unten zu liegen, lachte sie ihn aus und flog davon.
Wenn sie die Alte umbringt, ist alles vollbracht. Die Töchter werden das Tor öffnen. Die jüngere wird ihm ihre Seele schenken müssen und ihn mit seiner unendlichen Macht verbinden. Sie werden keine Chance haben, ihn zu vernichten, denn sie wissen nicht, wem sie gegenüberstehen werden. Sie ahnen es nicht.
Sie fliegt einen großen Bogen, der Wind streichelt ihre Schwingen. Da unten, die ältere, Hass bäumt sich in ihrem Körper auf. Sie hat sie unterschätzt, sie hat den uralten Kampf unterschätzt.
Gott nahm eine Rippe aus Adam und erschuf daraus Eva. Sie war umgänglich und diente Adam, aber als Lilith ihr den Apfel der Erkenntnis reichte, war auch dieses Glück vorbei. Seitdem herrschte Feindschaft zwischen Eva und Lilith.
Sie waren sich zu ähnlich geworden. War das Mädchen nicht mehr Eva, die langweilige, besonnene Eva? Woher nahm sie diese Kraft, sich ihr entgegenzustellen? Das Rauschen der Blätter in den Pappeln dröhnt in ihren Ohren, aber noch lauter dröhnen die Stimmen der Frauen. Sie sucht sie mit den Augen, die ältere der beiden Mädchen, die, die sie verletzt hat, an die sie beinahe ihre Flügel verloren hätte. Noch einmal umkreist sie den Turm, dann schraubt sie sich immer höher hinauf, und auch wenn es heller Tag ist, die Nacht klebt an ihrem Gefieder.