46° 59’ 51,086’ N, 110° 57’ 34,29’ W
Mount Monarch
Der Morgen ist kalt und klar. Nichts ist zu hören, nur der Stoff ihres langen Rocks, der über den Schnee schleift, das Knirschen ihrer dicken Stiefel und ihr Herzschlag. Vor ihr breitet sich der Schnee über Kilometer bis zu den Bergen, die dunkel in den heller werdenden Himmel ragen.
Für einen Moment schickt die Sonne glühende feuerrote Strahlen hinter den schwarzen Silhouetten der Berge nach oben und breitet ein sattes violettes Licht über den ganzen Himmel. Plötzlich, der erste Sonnenstrahl, er lässt die oberen schneebedeckten Gipfel erglühen.
Wie eine Feuersbrunst, die sich über das Schneefeld ausbreitet und ein unglaubliches Glitzern erzeugt.
Es ist so schön, denkt sie und ihr Hals wird eng.
Im nächsten Moment ist der Zauber verflogen und die weite Schneefläche glitzert so stark, dass sie sich abwenden muss, hinabsieht zu ihrem tiefschwarzen Rock, auf den sich kleine weiße Schneesternchen geheftet haben.
»Die Träume sind wiedergekommen«, flüstert sie zu sich selbst. »Sie mussten wiederkommen. Ich kann davor nicht fliehen. Nicht jetzt. Und nicht in tausend Jahren. Und es wird erst enden, wenn ich das getan habe, was ich tun muss …«
Trotz der dicken gefütterten Reitstiefel spürt sie die Kälte in den Zehen, sie kriecht nach oben unter den Rock. Immer wieder schiebt sich das eine Bild dazwischen, das ihren Herzschlag beschleunigt. Panik breitet sich in ihrem Kopf aus und Todesangst.
Vincenta in ihrem schwarzen Kleid. Ihr verzweifelter, gehetzter Blick, ihre Gedanken, die ungefiltert in ihrem eigenen Kopf kreisen. Die sie die gleiche Angst spüren lassen wie Vincenta. Diese Panik in ihr, als sie sieht, dass Vincenta plötzlich ruhig wird und eine Entscheidung getroffen hat. Wie sie aufblickt und das Böse sieht. Wie der kalte Lauf der Waffe in ihren Mund gleitet und ihrem Leben mühelos ein Ende setzt.
»Ich gebe dir meine Seele nicht!« Das sind ihre letzten Worte und ihr Lächeln wird selbst im Tod noch an Vincentas Lippen haften.
Sie bleibt stehen, als sie den Hirsch zwischen den Baumstämmen entdeckt. Er dreht den Kopf zu ihr und sieht sie mit riesigen Augen an, die großen, samtenen Ohren aufmerksam zu ihr gerichtet. An seinen Läufen klebt gefrorener Schnee. Er wittert in ihre Richtung, als würde er sich ihren Geruch einprägen wollen, dann springt er lautlos zurück in den Wald.
Endlos dehnt sich hier der Wald. Bis zu den Bergen und noch weiter. Ein Gewirr aus dunklen, mächtigen Tannen, umgestürzten Stämmen und Buschwerk, das sich darunter ausbreitet und in dem die wilden Tiere Schutz suchen. Sie ist selbst wie ein Tier. Ein Tier, das sich verstecken muss, das auf der Flucht ist. Manchmal will sie nicht mehr zurückkehren und auch nicht mehr davonlaufen. Sie will die Verantwortung abstreifen, wie ein zu eng gewordenes Kleid. Wenn sie es könnte, würde sie das Kleid am Rücken entzweireißen. Mit einem Ruck. Stattdessen läuft sie wieder stundenlang im Wald umher und flieht vor ihren Gedanken. Sie versucht, sich auf die Rufe der Vögel zu konzentrieren und auf das Knacken der Äste, die unter der schweren Last des Schnees brechen. Dann findet sie kurz Ruhe, kurz, bevor sich der nächste klare Gedanke in ihren Kopf schneidet.
Hinter ihr bricht der Tag an. Sie hört die Geräusche des Lagers, Stimmen, Menschen, die sich etwas zurufen, und das Bellen der Hunde. Jemand schüttet eine Wasserschüssel aus, sie hört es hart auf den Schnee klatschen, und als sie sich umwendet, sieht sie den Dampf aufsteigen und sich im heller werdenden Morgenhimmel verlieren. Sie weiß, dass sie jetzt umkehren und zum Lager zurückgehen muss. Vom Wald aus sieht es geduckt aus, mit dem Rücken an den jäh aufsteigenden Fels geschmiegt. Wenn Cheb sie nicht in ihrem Wagen findet, wird er die Männer losschicken. Er wird Chakal losschicken, seinen Sohn. Sie wird zurückgehen und es ihm sagen müssen.
Sie wird ihn vor ihrem Wagen treffen, die Hand auf den Stock mit dem silbernen Wolfskopf gestützt, sein weiß gesträhntes Haar streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem kurzen Zopf gebunden.
Wir sind alt geworden, wird sie sich denken und ihre Hand heben, um ihre Kapuze abzustreifen.
Die Zeit hat sich hart in ihre Gesichter gegraben.
»Cheb«, wird sie sagen, »ich werde sterben. Zur Wintersonnwende werde ich sterben.«