Leben am Rande des Existenzminimums
Die Unterschichten
In den Städten des Spätmittelalters lebten viele Menschen nahe dem Existenzminimum und manche auch darunter. Man schätzt, dass die unteren Schichten der Gesellschaft bis zu 60 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten. Die Städte zogen ja alle an, die aus unerfreulichen Verhältnissen weg wollten, aber nicht jeder kam auf den grünen Zweig dabei. Ökonomische Veränderungen, technische Umwälzungen, das Auf und Ab der Konjunktur, Konkurrenzdruck konnten den sozialen Abstieg bewirken. Anderseits war das Vorhandensein einer großen Reserve von Arbeitskräften, aus denen man sich die billigsten heraussuchen konnte, durchaus im Interesse von Arbeitgebern, etwa Handelsherren oder reichen Handwerkern.
Stadtarmut
Einteilen lassen sich die Unterschichten in drei Hauptgruppen. Erstens verarmte Handwerksmeister, die aber noch in eigener Werkstatt und mit eigenen Geräten arbeiteten, und in Genossenschaften zusammengeschlossene Transport- und Bauarbeiter, die das Bürgerrecht besaßen. Zweitens unselbständige Arbeiter ohne eigene Produktionsmittel, Tagelöhner, Handwerksgesellen, Mägde und Knechte. Drittens die Nichttätigen, wie Arme, Kranke, Bettler, in den Quellen meist summarisch als „Stadtarmut“ bezeichnet. Die Mehrheit der Unterschicht-Angehörigen besaß kein Bürgerrecht, sie galten nur als „Einwohner“, hatten deshalb politisch nichts zu bestimmen und waren vor Gericht nicht einmal zeugnisfähig.
Altersversorgung
Versicherungen gab es nicht. Bei den Wohlhabenden war es die Familie, die sich um die Alten kümmerte, ebenso berufsständische Organisationen, wie z.B. Kaufleutevereinigungen. Auch bei den Handwerkern hatten die Kinder für die Versorgung der Alten aufzukommen. In den Ordnungen, die für die Handwerker erlassen wurden, ist dem Interesse an der Aufrechterhaltung eines einmal eingeführten Handwerksbetriebes Rechnung getragen: Handwerkersöhnen wurde die Erlangung der Meisterwürde erleichtert, Witwen durften das Geschäft ihres Mannes weiterführen usw. Das Prinzip der Altersversorgung durch die nächste Generation wurde auch bei städtischen Angestellten üblich: Bewerber bekamen eine Stelle erst, wenn sie sich verpflichteten, den Vorgänger oder dessen Witwe mit zu ernähren. Die Armen in einer Stadt waren jedoch zumeist auf die Mildtätigkeit der Reichen angewiesen. Diese war allerdings nicht unbedingt von einem solidarischen Gedanken geleitet. Die Spenden, die einer gab, die Stiftungen, die er in seinem Testament aussetzte, dienten seinem eigenen Seelenheil. Die „guten Werke“ waren es, an denen der mittelalterliche Mensch die Stärke seines Glaubens maß.
Die Wohnverhältnisse waren kärglich. Nicht einmal die Mittelschichten, also Handwerker und kleinere Kaufleute, lebten üppig, Verglasung an den Fenstern, Porzellan auf dem Tisch und Daunenbetten kannten auch sie nicht, aber immerhin verfügten sie über ein Haus oder eine Wohnung mit mehreren Zimmern und einigen Hausrat. Die Unterschichten dagegen hausten in Buden und Katen oder in den Kellergewölben fester Häuser, wo es feucht und kalt war. Ihre Unterkünfte lagen oft in der Nähe von Höfen, Scheunen und Ställen und waren von Schmutz und Gestank umgeben. Krankheiten und Seuchen fanden dem gemäß hier die meisten Opfer. Das Einkommen der unteren Schichten reichte nur hin, den Lebensunterhalt zu bestreiten, Steuern zu zahlen war den meisten unmöglich. Durch ihre soziale Stellung bedingt, blieben nicht selten Mägde, Knechte und Gesellen ehelos oder lebten in „wilder Ehe“ ohne den Segen der Kirche.