Natürliches Rechtsbewusstsein und „toter Buchstabe“

Germanisches gegen römisches Recht (seit dem 13. Jh.)

Für den Menschen des Mittelalters war das Recht etwas, das es immer schon gab. Gott hatte das Recht im Gewissen und im gesunden Menschenverstand und in den hergebrachten Gewohnheiten wachsen lassen, so die allgemeine Überzeugung. Bei allem Verlangen nach Ordnung, das einen Herrscher beseelen mochte, verstand er sich dennoch nicht eigentlich als Gesetzgeber, sondern höchstens als Richter und Schiedsrichter. Denn Gesetze wurden nicht gegeben, sondern gefunden. Und ging einer daran, die Gesetzgebung zu reformieren, wie es etwa Karl der Große mit seinen zahlreichen Verordnungen, den „Kapitularien“ tat, dann schuf er keine neue Ordnung, sondern stellte nur die alte wieder her, die verdeckt und verdunkelt gewesen war. „Legem emendare“, das Recht reinigen, war die Bezeichnung dafür.

Mündliche Überlieferungen

Wenn Gesetze aufgeschrieben wurden, handelte es sich dabei nur um Gedächtnisstützen. So gibt sich das Volksrecht der Franken, die „Lex Salica“, entstanden vermutlich zu Anfang des 6. Jahrhunderts, als Werk einer Handvoll kluger Männer aus, die auf mehreren Ratsversammlungen zusammengekommen seien, um die mündlichen Rechtsüberlieferungen ihres Volkes aufzuzeichnen.

Seit dem 13. Jahrhundert hielt jedoch das römische Recht Einzug in die gesetzgeberische Praxis. Es wurde sozusagen wiederentdeckt, nachdem es Jahrhunderte lang mehr oder weniger vergessen gewesen war. An der Universität von Bologna, später auch an französischen Hochschulen widmete man sich dem Studium der römischen Rechtsquellen, und im Laufe der Zeit drang dann die Lehre in die Praxis der Gerichte ein. Aus der natürlichen Ganzheit des Rechtsbewusstseins wurde die künstliche Welt des Rechtssystems, der „toten Buchstaben“. Konnte früher eigentlich jeder Recht sprechen, der ein Gefühl für das Richtige und Rechte hatte, nahm sich nun der wissenschaftlich gebildete Berufsrichter der Sache an.

Der Sachsenspiegel

„Ich kann die Leute nicht grundsätzlich vernünftig machen, aber sie immerhin ihre Rechtspflichten lehren; möge mir Gott dabei helfen.“ Dieses schlichte Bekenntnis steht in der Vorrede zum Sachsenspiegel, dem bekanntesten deutschen Rechtsbuch des Mittelalters. Ein ostsächsischer Ritter namens Eike von Repgow, Berater und Lehensmann des Grafen Hoyer von Falkenstein, hat es zwischen 1220 und 1235 verfasst. Das Werk ist in einen landrechtlichen und einen lehnrechtlichen Teil gegliedert. Der – wichtigere – landrechtliche Teil behandelt in assoziativer Folge Themen des Verfassungs-, Prozess-, Straf-, Familien- und Vermögensrechts; sogar Ansätze zu einer Art Straßenverkehrsordnung sind zu finden. Der Sachsenspiegel diente als Vorlage für andere Rechtsbücher, z.B. den Schwabenspiegel (2. Hälfte des 13. Jh.), und besaß auch außerhalb des deutschen Sprachgebiets Geltung. In Thüringen und Anhalt blieb er bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 in Kraft.

Rechtsbücher und Stadtrechte

Es dauerte aber, bis sich das römische Recht durchgesetzt hatte. Nach Norddeutschland und den Niederlanden etwa gelangte es erst Ende des 15. Jahrhunderts, und Skandinavien blieb fast unberührt. Die Rechtsbücher und Stadtrechte, die seit dem 13. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa geschaffen wurden, in Deutschland z.B. der Sachsenspiegel oder das bis nach Osteuropa ausstrahlende Magdeburger Stadtrecht, zeigen den Einfluss des römischen Rechts. Andererseits stehen sie durchaus noch in der alten Tradition, indem sie Gewohnheitsrechte aufzeichnen; nur dass diese jetzt nach den Prinzipien des gelehrten Rechts auslegbar wurden.

Mittelalter, 100 Bilder - 100 Fakten
cover.html
copyright.html
title.html
contents.html
fm.html
vorwort.html
chapter01.html
chapter01a.html
chapter02.html
chapter02a.html
chapter03.html
chapter03a.html
chapter04.html
chapter04a.html
chapter05.html
chapter05a.html
chapter06.html
chapter06a.html
chapter07.html
chapter07a.html
chapter08.html
chapter08a.html
chapter09.html
chapter09a.html
chapter10.html
chapter10a.html
chapter11.html
chapter11a.html
chapter12.html
chapter12a.html
chapter13.html
chapter13a.html
chapter14.html
chapter14a.html
chapter15.html
chapter15a.html
chapter16.html
chapter16a.html
chapter17.html
chapter17a.html
chapter18.html
chapter18a.html
chapter19.html
chapter19a.html
chapter20.html
chapter20a.html
chapter21.html
chapter21a.html
chapter22.html
chapter22a.html
chapter23.html
chapter23a.html
chapter24.html
chapter24a.html
chapter25.html
chapter25a.html
chapter26.html
chapter26a.html
chapter27.html
chapter27a.html
chapter28.html
chapter28a.html
chapter29.html
chapter29a.html
chapter30.html
chapter30a.html
chapter31.html
chapter31a.html
chapter32.html
chapter32a.html
chapter33.html
chapter33a.html
chapter34.html
chapter34a.html
chapter35.html
chapter35a.html
chapter36.html
chapter36a.html
chapter37.html
chapter37a.html
chapter38.html
chapter38a.html
chapter39.html
chapter39a.html
chapter40.html
chapter40a.html
chapter41.html
chapter41a.html
chapter42.html
chapter42a.html
chapter43.html
chapter43a.html
chapter44.html
chapter44a.html
chapter45.html
chapter45a.html
chapter46.html
chapter46a.html
chapter47.html
chapter47a.html
chapter48.html
chapter48a.html
chapter49.html
chapter49a.html
chapter50.html
chapter50a.html
chapter51.html
chapter51a.html
chapter52.html
chapter52a.html
chapter53.html
chapter53a.html
chapter54.html
chapter54a.html
chapter55.html
chapter55a.html
chapter56.html
chapter56a.html
chapter57.html
chapter57a.html
chapter58.html
chapter58a.html
chapter59.html
chapter59a.html
chapter60.html
chapter60a.html
chapter61.html
chapter61a.html
chapter62.html
chapter62a.html
chapter63.html
chapter63a.html
chapter64.html
chapter64a.html
chapter65.html
chapter65a.html
chapter66.html
chapter66a.html
chapter67.html
chapter67a.html
chapter68.html
chapter68a.html
chapter69.html
chapter69a.html
chapter70.html
chapter70a.html
chapter71.html
chapter71a.html
chapter72.html
chapter72a.html
chapter73.html
chapter73a.html
chapter74.html
chapter74a.html
chapter75.html
chapter75a.html
chapter76.html
chapter76a.html
chapter77.html
chapter77a.html
chapter78.html
chapter78a.html
chapter79.html
chapter79a.html
chapter80.html
chapter80a.html
chapter81.html
chapter81a.html
chapter82.html
chapter82a.html
chapter83.html
chapter83a.html
chapter84.html
chapter84a.html
chapter85.html
chapter85a.html
chapter86.html
chapter86a.html
chapter87.html
chapter87a.html
chapter88.html
chapter88a.html
chapter89.html
chapter89a.html
chapter90.html
chapter90a.html
chapter91.html
chapter91a.html
chapter92.html
chapter92a.html
chapter93.html
chapter93a.html
chapter94.html
chapter94a.html
chapter95.html
chapter95a.html
chapter96.html
chapter96a.html
chapter97.html
chapter97a.html
chapter98.html
chapter98a.html
chapter99.html
chapter99a.html
chapter100.html
chapter100a.html
zeitleiste.html
zeitleistea.html
zeitleisteb.html
zeitleistec.html
zeitleisted.html
zeitleistee.html
zeitleistef.html
zeitleisteg.html
zeitleisteh.html
zeitleistei.html
backmatter.html