Von den Romantikern wiederentdeckt
Die Kunst der Gotik (12.-15. Jh.)
Noch heute gehören Zeugnisse der mit dem Namen Gotik belegten kunstgeschichtlichen Epoche zu den bekanntesten Erscheinungen und Wahrzeichen vieler Städte, man denke an das Straßburger oder das Ulmer Münster, den Kölner oder den Mailänder Dom, oder auch an die zahllosen neugotischen Nachbildungen im Kirchenbau und selbst in Verwaltungs- und Schulgebäuden des 19. Jahrhunderts. Gotik als rein äußerliches Formmuster ist dadurch in fast jeder Kleinstadt vertreten. Diese allgemeine Vertrautheit mit gotischen Bauformen, zumeist allerdings beschränkt auf die Vorstellung von Spitzbögen und himmelragenden Türmen, ist ein Überrest der Gotik-Begeisterung und Mittelalter-Schwärmerei, die von der Romantik um 1800 ausgelöst wurde. Zuvor war „gotisch“ eher ein abfälliger Ausdruck, er stand für „ungeschlacht“ und „barbarisch“, und man pflegte damit alles zu bezeichnen, was in den dunklen Jahrhunderten zwischen Altertum und Renaissance entstanden war.
Die Epoche der Gotik reicht von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis weit ins 15. Jahrhundert. Ihre Meister griffen auf einprägsame Gestalten und Vorstellungen zurück, die aus der Fantasie des Volkes stammten. Ihre Kunst spiegelte die tiefen und schroffen Widersprüche der Zeit wider und war innerlich selbst widersprüchlich. Vor allem in der Plastik und der Malerei verflochten sich Züge des Realismus auf wunderliche Weise mit frommer Rührung und Ausbrüchen religiöser Ekstase.
Notre-Dame de Paris
Im Deutschen heißt der 1831 erschienene Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“, aber nicht von ungefähr gab ihm sein französischer Verfasser Victor Hugo (1802–1885) den Titel „Notre-Dame de Paris“. In dem mehrfach verfilmten Buch spielt die gotische Kirche die Hauptrolle. Hugo, Romantiker durch und durch, wollte seine Landsleute, die gerade dabei waren, das mittelalterliche Paris in großem Stil abzureißen, auf den drohenden Verlust ehrwürdiger Kulturdenkmäler hinweisen. Notre-Dame ist für ihn die „greise Königin unter den Domen“, das Antlitz „von Narben und Runzeln zerklüftet“. Als „gewaltige Steinsymphonie“, als „Stein gewordener Gedanke“ erscheint ihm die Hauptkirche von Paris, und er vergleicht sie mit den Pyramiden und den Hindupagoden: „Bauten ihrer Art beweisen, dass die Erzeugnisse dieser Kunst weniger Werke einzelner Menschen als vielmehr ganzer Gesellschaften waren. Sie sind daher die Schatzkammer der Nation, die Aufspeicherung einer jahrhundertelangen Entwicklung, der allmähliche Niederschlag sozialer Gärungen, der Extrakt der Bildungsformen. Unter dem Spülen der Zeitwogen lagerte sich Schicht auf Schicht aufeinanderfolgender Generationen, von denen jede ihren Beitrag gab. Hier baute der Mensch gleich der Biene, dem Biber.“
Formenreichtum
In der Baukunst nahm der Anteil der Profanbauten zu. Ihre Zweckbestimmungen wurden vielfältiger, ihre Formen reicher. Außer Rathäusern und großen Räumen für Kaufmannsvereinigungen (etwa der Gürzenich in Köln) errichtete man steinerne Wohn- und Geschäftshäuser in den Städten, es bildete sich der mehrgeschossige Bau des Stadthauses heraus. Auch Stadtbefestigungen, Burgen und Schlösser erhielten ihre unverkennbar gotische Formung.
Seine klassische Verkörperung indes erlangte der gotische Stil in der Kirchenbaukunst. Die grandiosen Maße der städtischen Kathedralen, die Vollkommenheit der Konstruktion, in der alle Schwere aufgelöst ist, und die Fülle des plastischen Schmucks fasste man nicht nur als Bestätigung der Erhabenheit und Größe der Religion, sondern auch als Symbol des Reichtums und der Macht der Städte auf.