Vater Europas
Karl der Große (768-814)
Bereits bei den Zeitgenossen hieß er „der Große“. Der Frankenkönig Karl aus dem Geschlecht der Karolinger galt der damaligen Zeit als Beispiel eines idealen Herrschers. Äußerlich von reckenhafter Gestalt, in Jagd und Kampf geschult, war er als Staatsmann zäh und energisch. Ausgeprägtes Rechtsgefühl und Frömmigkeit verbanden sich mit beständigem Lerneifer; der Herrscher hörte auf seine Ratgeber und war immer bereit zu neuern und zu verbessern. „In Ordnung bringen, was in Ordnung gebracht werden muss“, nach diesem Motto ging Karl an die erste große Bildungsreform des Abendlandes. Während Karls Regierungszeit gewann das Frankenreich territorial gewaltig hinzu. Es reichte schließlich vom Ebro bis zur Elbe, von der Bretagne bis nach Ungarn und von Holstein bis nach Mittelitalien. Bereits Vormacht im christlichen Abendland, gewann es nun weltgeschichtliche Bedeutung.
Aber auch dunkle Flecken gehören zum Bild des Monarchen: Im Kampf gegen die Sachsen ließ er sich zu Massenhinrichtungen und Deportationen hinreißen.
Karl und die Frauen
„Er war der Frauenliebe sehr bedürftig“, heißt es vielsagend in Gustav Freytags „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ über Karl den Großen. Nach einer sogenannten Friedelehe (ohne den Segen der Kirche) und vier Ehen, von denen nur zwei (die mit der Alemannin Hildegard und die mit Liutgard, gleichfalls einer Alemannin) glücklich zu nennen waren, hielt er sich nach dem Tod der letzten Ehefrau (800) nur noch an seine Konkubinen und dachte auch nicht daran, die Verhältnisse zu verheimlichen. Die Beischläferinnen, mindestens vier, waren Teil der Hofgesellschaft, ihre Kinder wurden gemeinsam mit denen der regulären Ehefrauen aufgezogen. Die Gruppe der Frauen um Karl wurde noch vergrößert durch seine Töchter, „die ungemein schön waren und von ihm aufs zärtlichste geliebt wurden“, wie der Kaiserbiograf Einhard erzählt. Der Chronist fügt ein wunderliches Faktum hinzu: Karl ließ seine Töchter nicht weg. Er behauptete, ohne ihre Gesellschaft nicht leben zu können. Wenn ihm Heiratsprojekte vorgeschlagen wurden, hintertrieb er sie eher als dass er sie förderte.
Deutscher oder Franzose?
War Karl der Große ein Deutscher? Das war er nicht. War er ein Franzose? Das war er auch nicht, obwohl er im heutigen Frankreich gerne als solcher gesehen wird und man „Charlemagne“ ohne weiteres als Schöpfer des französischen Staates feiert. Karl war Franke, das bedeutete damals nichts weiter als Angehöriger eines bestimmten germanischen Volksstammes. Aber wenn man so will, war er Europäer. Er wollte das Römische Reich wiederherstellen, das in der Völkerwanderungszeit untergegangen war, und wenn vielleicht auch nicht das ganze ehemalige Weltreich, so doch wenigstens den westlichen, „europäischen“ Teil.
Kaiserkrönung in Rom
So wurde die Kaiserkrönung in Rom am Weihnachtstag des Jahres 800 zum Höhepunkt in der Lebensgeschichte Karls des Großen. Das Volk begrüßte ihn als Nachfolger der römischen Kaiser, Gesandte aus Jerusalem brachten die Schlüssel zur heiligen Stadt, womit er als Schirmherr der heiligen Stätten des Christentums anerkannt war, und Papst Leo III. setzte ihm während des Gottesdienstes die Krone auf. Das letztere war wohl nicht abgesprochen – wenn überhaupt, hätte sich Karl selbst krönen wollen –, und es sollte die schwerwiegendsten Folgen haben: Die Päpste beriefen sich nämlich fortan darauf, dass der Kaiser seine Macht von ihnen empfange.