78

»Also wo ist der Whi … Whisky?« fragte Klaus Mario Schreiber. Er saß, in seinen Stuhl zurückgelehnt, an einem langen Tisch, an dem noch etwa ein Dutzend andere Leute saßen, die ihn mit Mienen, deren Ausdrucksskala von Abscheu bis Totschlagnähe reichte, betrachteten. Schreiber nahm das geniert und schüchtern zur Kenntnis.

»Schon da, Herr Schreiber«, ertönte Jakobs Stimme. Er kam aus der Küche gelaufen mit einer Flasche ›Johnnie Walker‹, einem Krug Wasser, einem Glas und einem Krug voller Eiswürfel. »Wir haben sogar einen Kühlschrank!« Jakob trug alles Genannte auf einem abgeschlagenen Emailletablett.

»Was ist das?« fragte Klaus Mario Schreiber.

»Wasser, Herr Schreiber.«

»Wo … wollen Sie mich vergiften? Pu … Pur. Nur mit Eiswürfeln!«

Jakob machte einen ersten gewaltigen Drink. Die Würfel plumpsten ins Glas. »Von jetzt an bedienen Sie sich selbst, lieber Herr Schreiber.«

Der Angesprochene nickte scheu, trank und bekam einen entrückten Gesichtsausdruck. Er erinnerte Jakob, der ihn väterlich betrachtete, an das Bildnis dieses Kerls, der ganz still dasteht, sehr viele Vögel auf den ausgebreiteten Armen, den Schultern, den Händen und dem Kopf. Wie heißt der Kerl doch gleich? Egal!

»Ja«, ließ sich Schreiber vernehmen. »Ach Gott, ja …« Er trank wieder. Unmut unter den Versammelten.

»Ein Trunkenbold hat uns gerade noch gefehlt!« rief ein älterer Herr, der an Stelle des linken Unterarms eine Lederprothese trug. Mit dieser schlug er krachend auf den Tisch. Der Herr hieß Dr. Walter Drissen und war Textchef. Den Unterarm hatte er im Ersten Weltkrieg verloren, und wenn er auf sich aufmerksam machen wollte oder zornig war, pflegte er mit der Prothese auf die Tischplatte zu trommeln.

»Ruhe!« sagte Jakob leise und gefährlich. »Herr Schreiber hat das Wort. Wir hören, lieber Herr Schreiber.«

Dieser erleichterte sich durch zartes Rülpsen, trank noch ein Schlückchen und sprach: »Ja, also, verehrte Herrschaften, mit diesem Te … Textteil, entschuldigen Sie bi … bitte vielmals« – Schreiber tippte auf Manuskripte, die vor ihm lagen – »kö … können Sie gleich auf die Titelseite drucken: Wer dieses He … Heft anfaßt, kriegt Ty … Typhus!«

Die Prothese krachte.

»Sie unverschämter, besoffener …«, begann der Textchef Dr. Walter Drissen, aber Schreiber unterbrach ihn: »Ich bi … bin hierhergebeten worden von Ihrem Verleger, um ein Urteil abzugeben. Entschuldigt ha … habe ich mich schon für mei … meine Kri … Kri … na! … Kritik!« Er erhob sich und griff sanft nach der Whiskyflasche. »Viel Glück, a … alle miteinander!«

Jakob, der neben Schreiber saß, stieß ihn in den Sessel zurück.

»Sie bleiben hier und sagen Ihre Ansicht! Ohne Rücksicht auf irgend jemanden.«

»Ich kenne ja überhaupt niemanden hier!«

»Um so einfacher. Los! Und trinken Sie noch etwas!«

»W … Wie Sie wollen. S … Sie sind der Ve … Verleger. Tro … otzdem sehr peinlich …«

Schreiber trank noch etwas, dann war sein Glas leer (Jakob füllte eiligst nach) und sprach weiter: »Sie alle sind ho … hochgebildete, feinsinnige Menschen, hervorra … ragende Kö … Könner, jeder auf seinem Gebiet – ge … gewiß. Die Te … Texte sind ja auch nicht Dreck, das habe ich nicht ge … gesagt! Später einmal wird das alles vielleicht mal herrlich gehen! Nur jetzt und heu … heute – 1947, be … bedenken Sie! – gehen solche Themen und Texte nicht, weil sie den Leuten zum Ha … Ha … Hals raushängen! Novellen in diesem ›Du Uhr, du Bett, du Lokomotive, Bruder du!‹-Ton der ganz, ganz großen Menschlichkeit! Flüchtlingsschicksale! Heroische Landsergeschichten! Tiefsinniges über den lie … ieben G … Gott und die We … Welt! Übersetzungen von au … ausländischen Re … Reportagen! G … Glauben Sie mir doch, das ist zur Zeit nicht gefragt! Dafür sollen die Leute – wieviel ko … kostet das D … Ding?«

»Achtzig Reichspfennige.«

»Sollen sie achtzig Reichspfennige au … ausgeben? N … Niemals! L … Lieber d … drei Z … Züge Lucky-Strike als so was. U … und ich bin ein Mann, der es gut mit Ihnen meint.«

»Ein betrunkener Lümmel sind Sie!« schrie der Textchef Dr. Walter Drissen und schlug wieder auf den Tisch.

»Doktor Drissen«, sagte Jakob liebenswürdig, »wenn Sie noch ein einziges Mal mit Ihrem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Ärmchen angeben, sind Sie fristlos gekündigt. Fristlos, habe ich gesagt.« Und mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln zu Schreiber: »Bitte, fahren Sie fort.«

»Mu … Mut machen müssen Sie den Menschen. Sie zum Lachen bringen! Ihnen zeigen, daß es anderen genauso dreckig gegangen ist und dreckig ge … geht wie ihnen! Daß alles mal bergauf und mal bergab läuft auf dieser We … Welt, und da … daß es nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch noch Zwischentöne gibt!« Schreiber trank, er hatte sich heiser geredet. Jakob goß wieder nach. »Ni … Nicht soviel Eis, bi … bitte«, sagte Schreiber.

»Sie haben ausländische Nachrichtendienste. Sie haben Fotos aus der ga … ganzen Welt. So viele interessante und ergreifende und Mu … Mut machende und ko … komische Geschichten passieren jede Minute! Ich weiß, wovon ich rede, ich le … lebe seit einem Jahr davon! In dieser Illustrierten muß jetzt stehen, was die Menschen jetzt nachfühlen können und was sie aufrichtet! O … Ohne Pathos und ›Literatur‹!« (Man hörte Herrn Schreiber die Anführungszeichen deutlich an!) »Ga … Ganz einfach ge … geschrieben! Nicht so fein und schöngeistig und hochgestochen, daß es keiner versteht und keinen interessiert.«

»Und wofür interessiert sich jeder im Moment?«

»Zum Beispiel fürs Fressen«, sagte Schreiber und trank.

»Bravo!« rief Jakob, der andächtig an Schreibers Lippen hing.

»Und zwar fürs ga … ganz ordinäre F … Fressen, darum sage ich auch Fr … Fressen und nicht Essen … Sehen Sie, ich kenne viele Leute … auch einen alten Ganoven. Hat sein halbes Leben lang gesessen. Ist gerade zufällig in Freiheit. Der hat sich die tollsten Dinge erlaubt in den letzten dreißig Jahren – und er erlaubt sie sich heute! Wi … Wissen Sie, wann der jedesmal einen blendenden Einfall für eine neue Gaunerei bekommt?!«

»Wann?« fragte Jakob andächtig.

»Immer wenn er Kuchen ißt«, sagte Schreiber. »Verstehen Sie, wa … was ich meine? Den Kerl kann ich her … herbeischaffen. S … Soll seine Geschichte auf To … Tonband erzählen. W … Wird der Liebling Ihrer Leser werden – erstens, weil er nie arme Leute geschädigt hat, zweitens wegen seiner Kuchenfresserei! Sie haben zwei Fliegen auf einen Schlag: Das Interesse des Lesers – des ge … ge … gegenwärtigen Lesers! – an Kuchen, an Süßem, an allem, was er nicht hat, und dazu noch das Interesse an witzigen Gaunereien, das d … die Leser zu a … allen Zeiten gehabt haben.«

»Da ist was dran …«, sagte der Schlußredakteur beeindruckt.

»Und o … ob da was dran ist! Das wäre eins! Das zweite wäre die Langeweile im Blatt. Es ka … kann den Menschen noch so dreckig gehen – immer werden sie sich für Menschen interessieren, denen es noch dreckiger geht! Für Verbrechen, Unglücke, Katastrophen.«

»Wir wollen kein Revolverblatt …«, begann der Textchef, aber Schreiber unterbrach ihn: »Wir wo … wollen eine große Illustrierte – oder? Wir wo … wollen Meinungen und Informationen vermitteln. Aber nicht so, wie es hier geschieht. Nicht gleich so! Wir brauchen – im Moment! – was sen … sensationell Kri … Kriminelles. Und was sensationell Me … Medizinisches – wird sich ja noch was finden bei drei Diensten!«

»Nur so weiter«, sagte der Textchef Dr. Drissen.

»Weiter … D … Der Roman! Der Ro … Roman, den Sie au … ausgewählt haben, ist literarisch ungeheuer wertvoll. Es wird ihn nur kein Mensch, der so viele Sorgen hat, wie wir alle jetzt, le … lesen. Jetzt brauchen wir etwas, das den Menschen zeigt: A … Andere saßen auch schon mal in der Schei … Verzeihung, Frau Doktor. Und sind herausgekrabbelt. Etwas Optimistisches! N … Nicht mä … märchenhaft, unglaubwürdig optimistisch! Sondern so, daß jeder es glaubt, mi … mitgeht und sagt, ja so war das, das hätte so sein können, hoffentlich kommen die armen Leute wieder raus aus dem Dreck, ver … verstehen Sie?«

»So einen Roman gibt’s nicht!«

»Und o … ob es so einen Roman gibt! Es ist überhaupt der Roman, de … der als e … erster in Ihrer Z … Zeitschrift erscheinen muß. Der Mann, der ihn geschrieben hat, der hat immer fürs Volk geschrieben. Er heißt Hans Fallada. Und der Roman, an de … den ich denke, heißt KLEINER MANN, WAS NUN

»Herrgott, das ist ein Titel! Für uns alle jetzt«, sagte Jakob begeistert.

»D … Das war schon da … damals, um 1930, ein Ti … Titel für alle, Herr Formann!«

»Aber Fallada ist doch vor kurzem gestorben«, sagte der Textchef. Und fügte gehässig hinzu: »In der Ost-Berliner Charité. An den Folgen von lebenslangem Alkoholmißbrauch.«

»Und die Re … Rechte an seinen B … Büchern liegen beim R … Ro … Rowohlt-Verlag«, sagte Schreiber, die Attacke ignorierend.

»Der gibt sie uns doch nie …«

»Der gi … gibt sie uns ja, wenn ich darum bitte.«

»Wieso Sie?«

»Weil mein Verleger und Ro … Rowohlt Freunde sind«, sagte Schreiber.

»Sie haben Bücher geschrieben?«

»We … Wenn Sie verzeihen, ja.«

»Noch nie was davon gehört.«

»Wenn Sie was da … davon gehört hätten, säße ich ni … nicht hier.«

»Ja, also wenn Sie glauben …«, begann Frau Dr. Malthus.

»Ich glaube ni … nicht, ich weiß«, sagte Schreiber. Und dann sagte er eine Stunde lang, was er noch zu sagen hatte. Zuletzt war die Whiskyflasche zu drei Vierteln leer, und zu drei Vierteln stimmten die Anwesenden auch Schreibers Ansichten zu.

»Aber wer soll das alles schreiben und umschreiben?«

»Ich«, sagte Schreiber schlicht.

»Sie? Mit all dem werden Sie doch nie rechtzeitig fertig! Wir müssen ganz, ganz schnell raus mit der ersten Nummer!«

»Ich we … werde noch mit v … viel mehr fertig«, sagte Schreiber. »Ich stottere so hu … hurtig, wie ich schrei … eibe. Ich wollte, ich hätte was Anständiges gelernt. Aber ich hab’ fünf Jahre lang Leute um … umbringen müssen, die ich nie ge … gesehen hatte, die ich nicht ka … kannte, bloß damit nicht sie mich um … umbringen … Gi … gibt auch noch ein paar sehr gute Romane von Erich Maria Remarque, im E … Ex … na! Exil geschrieben. Und einen H … Ho … Holländer, Jan de Hartog heißt er … Über den Textteil von OKAY ma … machen Sie sich keine Sorgen, Herr Doktor Drissen! We … wenn Sie nur ein bißchen auf mich hören, wird alles ge … gehen wie geschmiert.«

»Was haben Sie da gesagt?« fragte Frau Dr. Malthus. »ORCHIDEE heißt unsere Illustrierte!«

»Da … Das ist kein Name für eine Illustrierte! Herr F … Fo … Formann und i … ich haben uns auf OKAY geeinigt«, sagte Schreiber. Zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben sagte Frau Dr. Ingeborg Malthus ›du‹ zu ihrem Verleger, Partner und Bettgenossen.

Sie sagte: »Du verdammtes Schwein.«

Danach erlitt sie einen Schwächeanfall und glitt vom Stuhl.

Hurra, wir leben noch
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