60

Die Dame, die gegen 9 Uhr am 15. Februar 1948 eilig durch Murnau radelte, trug einen Pullover, unter dem man muskulöse Arme sah, jedoch nicht die Spur von Busen, einen schottischen Wickelrock, der oben, weil zu eng, mit einer sehr großen Sicherheitsnadel zusammengehalten wurde und unten bei jedem Tritt in die Pedale auseinanderklaffte, wodurch zwei behaarte Männerbeine zum Vorschein kamen und desgleichen ein lachsrotes Spitzenseidenhöschen. Die Herrenschuhe, welche diese Dame trug – Strümpfe hatte sie nicht –, quatschten bei jedem Tritt. Wasser tröpfelte. Die Dame hatte ein großes Bündel und einen Brotbeutel der ehemaligen Deutschen Wehrmacht auf den Gepäckträger geschnallt, war unrasiert, trug die Haare im Herrenschnitt und hatte ein freundliches Lächeln bereit für jedermann, der ihr nachstarrte, und das waren gar viele.

Auf der Hauptstraße versuchte ein amerikanischer Soldat, die Dame anzuhalten. Sie rief: »Leck mich doch am Arsch!« und sauste mit erhöhter Geschwindigkeit weiter. Endlich erreichte die Dame, keineswegs außer Atem, obwohl sie zuletzt steil bergauf gefahren war, das Anwesen des Attinger-Bauern. Im Eingang zum Hauptgebäude, vor dem eisigen Wind geschützt, wartete hier Frau Dr. Ingeborg Malthus.

»Was war?« fragte sie besorgt.

»Was soll gewesen sein?« fragte Jakob Formann, elegant ein Bein schwingend und noch einmal das lachsrote Spitzenhöschen in ganzer Pracht zeigend.

»Ich habe geglaubt, Sie kommen niemals.«

»Jakob Formann kommt immer«, erwiderte er ernst. »Wollen wir vielleicht hineingehen? Dein Höschen ist verflucht eng für mich, Ingelein.«

Sie erstarrte. »Mein Herr«, sagte sie dann mit Eisesklirren in der Stimme, »ich muß doch sehr bitten, nicht derart leutselig zu werden. Ich heiße Frau Doktor Ingeborg Malthus – und immer noch ›Sie‹ für Sie, Herr Formann!«

»Aber …«

»Aber was? Ach so! Reichlich primitiv veranlagt sind Sie, Herr Formann. Eine mehrfache Ausschüttung von Hypophysenhormon rechtfertigt in keiner Weise derart plumpe Vertraulichkeit. Ich muß doch schon sehr bitten.«

»Mehrfache was?«

»Ausschüttung von Hypophysenhormon. Sie werden doch noch wissen, was die Hypophyse ist, Herr Formann.«

»Klar weiß ich das«, sagte Jakob. Keine Ahnung hatte er. Es muß aber irgendwas zu tun haben mit dem, was wir getrieben haben, dachte er voll feinem Instinkt. Du Luder, du elendes, dachte er weiter, und vor zwei Stunden hast du dich gewälzt und gestöhnt und mich in die Schulter gebissen. Das haben wir gerne! Scheint mich nicht zu mögen, die Frau Doktor. Außerhalb des Bettes! Verdammt, ich weiß genau: Mit der Person werde ich noch eine Menge Ärger kriegen! Jakob sagte: »Aber gewiß, verehrte Frau Doktor, wenn Sie meinen, es soll beim ›Sie‹ bleiben, dann bleibt es natürlich dabei.«

»Danke.«

»Nichts zu danken, Frau Doktor Malthus.« Mir ist manches schon passiert, aber so etwas noch nie!

»Kommen Sie, Herr Formann«, sagte die Frau Doktor und betrat das Bauernhaus. Hier war es herrlich warm, in der Küche stand ein mächtiger Kachelherd. Der Bauer saß am Tisch und starrte Jakob an. Die Bäuerin stand am Herd und stieß einen Schrei aus.

»Grüß Gott«, sagte Jakob Formann, gewinnend lächelnd. Auch Frau Dr. Malthus – sie trug Pullover, Hosen und einen Schafsfellmantel – entbot einen christlichen Gruß.

»Was is denn nacha dös?« fragte der Bauer. Er war ungeheuer fett und trank angeekelt dünnen, grünlichen Tee.

»Das ist Herr Jakob Formann, Herr Attinger … Herr Attinger, Herr Formann. Und das ist Frau Attinger.«

»Grüß Gott«, sagte Jakob wiederum.

»Er ist in den Staffelsee gefallen«, erklärte Frau Dr. Malthus. »Ich mußte ihm etwas von mir zum Anziehen geben. Seine Sachen will ich bei Frau Kalder trockenbügeln. Dürfen wir hinaufgehen?«

»So kann er fei net weita rumlauffa, der Herr!«

»Ich danke, Herr Attinger.« Jakob verbeugte sich. (Der Schottenrock ging wieder auf bis zum Höschen. Die Attinger-Bäuerin kreischte.) Jakob sah, daß der große Raum mit teuersten Orient-Teppichen ausgelegt war. Im Hintergrund erblickte er einen Bechstein-Flügel und eine Maria-Theresia-Kommode mit wunderschöner Intarsienarbeit. Kultivierte Leute, diese Attingers! Und fett, großer Gott, sind die beiden fett, dachte Jakob und erkundigte sich: »Schmeckt der Tee nicht?«

»Himmikreuzsaggramentglumpvarecktz, i kriag’n kaum nunter. Aber mei Frau sagt, es muaß sei.«

»Worum handelt es sich denn?«

»Dokta Schlichters Frühstücks-Kräutatee! Das Beste, was gibt zum Abmagern, hat der Arzt gesagt.«

»Übergewicht ist stets schlecht für Herz und Kreislauf«, sagte Frau Dr. Malthus.

»Des is ja«, sagte die Attinger-Bäuerin.

Jakob schritt schon, den Rock gelüpft, die knarrende Holztreppe in den ersten Stock empor. Die Schuhe quatschten. Jakob hinterließ eine feuchte Spur.

»Dritte Tür links«, sagte Frau Dr. Malthus. Sie trug ebenfalls ein Bündel. Nun ging sie voraus, klopfte, nannte ihren Namen, und gleich darauf stand sie mit Jakob in einem Raum, in dem es eiskalt war. Jakob sah ein dick zugefrorenes Fenster, einen Schrank, einen Tisch, ein Bett – verrostet das Eisengestell – und Klosetts sowie Waschbecken in enormer Anzahl. Die Becken und Klosetts, hochgestapelt an allen vier Wänden bis hinauf zur Decke, beanspruchten mehr als zwei Drittel des Raumes – ein wahrhaft bedrohlicher Anblick.

Auf dem Bett saßen ein grauhaariger älterer Mann und eine grauhaarige Frau (aber offenbar jünger als er), beide sehr mager. Sie frühstückten auch gerade. Zwei Blechtassen erblickte Jakob, einen Spirituskocher (man muß ja Strom sparen!) sowie zwei Blechteller, auf denen vier äußerst dünne Scheiben trockenes Brot lagen.

Frau Dr. Malthus stellte Jakob vor. Die Herrschaften auf dem Bett waren Herr und Frau Kalder. Beide hatten Decken um die Schultern geschlungen – der großen Kälte wegen. Beide sprachen lupenreines Hochdeutsch – wie Frau Dr. Malthus. Feines Deutsch, aber nix zum Fressen, dachte Jakob, indessen er hörte, wie Frau Dr. Malthus die Sachlage erklärte und bat, Jakobs Sachen und die eigenen bügeln zu dürfen. Es wurde ihr gestattet. Jakob öffnete sein Bündel und entnahm ihm einen nassen Anzug, nasse Wäsche und den nassen Mantel.

»Sie müssen verzeihen, wenn wir uns nicht erheben, Herr Formann«, sagte Kalder und verbeugte sich im Sitzen. »Es ist wirklich sehr eng hier, wie Sie sehen.«

»Ich sehe«, sagte Jakob. »Was um Himmels willen wollen Sie mit all den Klosetts und Waschbecken?«

Kalder trank einen Schluck – Jakob erkannte eine durchsichtige hellbraun-grünliche Flüssigkeit – und lachte bitter. »Was wir damit wollen, Roxane, hast du gehört? Guter Witz, was?« Roxane, seine Ehefrau, nickte gramvoll. Ein so guter Witz schien es nicht zu sein. »Das ganze Zeug da hat der Bauer 1945 aus einer Fabrik – Industrie-Keramik, ganz in der Nähe – gestohlen, und seitdem bewahrt er es hier auf.«

»Aber wozu?« fragte Jakob.

»Für die neue Währung natürlich, Herr Formann.«

»Was für eine neue Währung?«

»Na, hören Sie! Die R-Mark ist doch überhaupt nichts wert! So kann es doch nicht weitergehen, nicht wahr? Eine Währungsreform muß kommen, wird kommen, jedermann spricht davon!«

»Ach so, natürlich, eine neue Währung muß kommen«, sagte Jakob, den Wickelrock krampfhaft zusammenhaltend, denn Roxane starrte diesen und die darunterliegenden Partien gebannt an wie das Kaninchen die Schlange. »Muß kommen, aber keiner weiß, wann …«

»Eben! Und so wartet der Bauer. Er hat Zeit. Wir sind froh, daß wir in diesem Zimmer eine Bleibe gefunden haben. Es gab nichts anderes mehr in Murnau. Die Bootshäuser am Staffelsee waren auch schon alle überbelegt, als wir kamen. Wir müssen dem Bauern sehr dankbar sein, daß er uns das Zimmer hier für dreihundert Mark vermietet hat.«

»Im Jahr?«

»Im Monat, Herr Formann!«

»Das fette Schwein, das elendige – entschuldigen Sie, meine Damen.« Ich kann mich einfach nicht benehmen, dachte Jakob betrübt.

»Nichts zu entschuldigen, Herr Formann«, sagte Roxane. »Wir sitzen hier in der Kälte und schlafen in Kleidern und Mänteln, und am Morgen ist uns immer das Kinn an die Decke gefroren vom Atem, der zu Eis wird – und die Attingers überheizen ihre Räume unten und nehmen den armen Städtern für ein paar Eier oder ein Stück Schinken Bechstein-Flügel und Smyrna-Teppiche und was weiß ich noch alles ab. Sogar eine Harfe!«

»Wie?«

»Bitte, Roxane …«, murmelte Kalder.

»Ist doch wahr, Jan! Und sind so fett, daß sie Abmagerungstee trinken müssen!«

»Das habe ich gesehen.«

»Ach, Sie haben längst nicht alles gesehen! Im Schweinestall sollten Sie sich mal umschauen! Die Harfe! Ein Harmonium! Und Teppiche und Brücken liegen da einen halben Meter hoch übereinander!«

Jakob konnte diesen Jammer nicht länger ertragen. Er öffnete den zum Platzen vollen Brotbeutel. Den Inhalt hatte er eigentlich dem Ingenieur Jaschke mitbringen wollen. Der muß sich jetzt mit der Hälfte zufriedengeben, dachte Jakob, ich hole noch mehr. Und er häufte seine Gaben auf den Tisch – Speck, Butter, Kaffee, Zucker, Marmelade, Fleischkonserven, dazu Mehl, Kaugummi, Zigaretten und drei Zigarren.

Totenstill war es in dem zum Wohnzimmer umfunktionierten Lagerraum für sanitäre Anlagen geworden. Frau Dr. Malthus und das Ehepaar Kalder starrten die Bescherung an. Jakob wurde es ungemütlich. Roxane begann heftig zu heulen. Das auch noch, dachte Jakob.

»Herr Formann … Herr Formann … Sie sind … sind …«

»Der gute Mensch von Sezuan«, sagten Frau Dr. Malthus und Jan Kalder feierlich im Chor.

»Von wo?« forschte Jakob, mit einem sehr unguten Gefühl im Magen. Die reden alle so gepflegt …

»Von Brecht«, sagte Dr. Malthus.

»Vorher haben Sie was anderes gesagt, Frau Doktor Malthus!«

»Sezuan. ›Der gute Mensch von Sezuan‹ ist ein Theaterstück von Bertolt Brecht«, sagte Frau Dr. Malthus fein lächelnd. Herr und Frau Kalder lächelten auch. Auch fein.

Verflucht, dachte Jakob, ausgerechnet mit so vornehmen und gebildeten Leuten muß ich zusammenkommen hier in Murnau! Hätte ich mich bloß nicht im Bootshaus geirrt. Jetzt bin ich glücklich bei … bei … Es gibt doch da einen Ausdruck … Ach ja, bei Intellellen bin ich gelandet, Gott verdammich!

Hurra, wir leben noch
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