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»Also, ich kann dir nur sagen, die Edle, die du mir da vor Jahren angehängt hast, die hat nicht die geringste Ahnung von Literatur gehabt«, erklärte Jakob Formann seinem Freund Karl Jaschke in der Nacht vom 3. zum 4. August 1962, tief in Schwarzafrika und daselbst irgendwo in der Republik Karania, wo, das wußte er nicht.

»Was willst du damit sagen, Jakob?« fragte der Ingenieur Karl Jaschke, der hier unten seit langer Zeit (natürlich mit regelmäßigem Erholungsurlaub in der deutschen Heimat) Fertighäuser und Fertighausfabriken gebaut hatte. Jetzt sah Jaschke erschöpft aus und war es auch. Schließlich saß er nun schon fast eine Woche hinter Schloß und Riegel. (Jakob hingegen erst zehn Minuten; seine Bemerkung hatte er gleich nach der Begrüßung gemacht, nachdem er Jaschke um den Hals gefallen war und ihn geküßt hatte.)

»Na, also weißt du«, antwortete er jetzt, »was zuviel ist, ist zuviel! Da hat die Edle mich doch gezwungen, dem Kafka seine Romane ›Das Schloß‹ und ›Der Prozeß‹ und all das andere Zeug zu lesen, und ich habe natürlich kein Wort kapiert, und da hat die blöde Kuh gesagt, das wundert sie gar nicht, indem daß ich nämlich ein schwersterziehbarer Neureicher bin, der von Tuten und Blasen – haha! – keine Ahnung hat, und daß dieser Kafka eben mystisch-symbolisch geschrieben hat, was ein Vieh wie ich natürlich niemals kapieren kann!«

»Und?« fragte der Ingenieur Jaschke (der mit der hübschen Freundin in dem einigermaßen weit entfernten Garmisch-Partenkirchen, Karl Jaschke, dem es auch nicht an der Wiege gesungen worden war, daß er, in Niesky, Oberlausitz, geboren und aufgewachsen, sein Leben einmal als Gefangener einer Neger-Militärjunta in Schwarzafrika verbringen sollte). »Was ist mit diesem Kafka?«

»Dieser Kafka«, regte Jakob, soeben eingetroffen, verschwitzt und dreckig, sich auf, »der hat mystisch-symbolisch geschrieben? Haha!« Der Schweiß rann Jakob in Strömen vom Körper, er hatte nur Hemd, Hose und Schuhe an, Jaschke nur eine Unterhose. Es war wirklich sehr heiß da, wohin immer man sie gebracht hatte. »Haha!« fuhr Jakob fort, sich in seine Erregung hineinsteigernd. »Damit ich dir bloß einmal sage, wie ich hergekommen bin, Karl. Mein Düsenflugzeug haben syrische Jäger abgefangen und in Damaskus zur Landung gezwungen. Da steht die Maschine nun, da haben sie die Besatzung eingesperrt. Mich haben dann Kerle, die sich nicht einmal vorgestellt haben, mit Maschinenpistolen in ein anderes Flugzeug gescheucht, das dann auch gleich losgeflogen ist. Und diese Kiste hat überhaupt kein Hoheitszeichen gehabt! Vor der Landung haben sie mir die Augen verbunden und mich behandelt halb wie einen Regierungschef, der zu einem Staatsbesuch kommt, halb wie einen Raubmörder, den sie zur Hinrichtung bringen! Nach der Landung haben sie mich – ich weiß nicht mal, wer, ich habe doch nichts sehen können, Mensch! – in einen Militär-Lkw geschmissen. Da haben sie mir dann die Augenbinde abgenommen. Aber ich habe immer noch nichts als einen Dreck sehen können, denn alle Fenster sind schwarz angemalt gewesen! Wie die Irren sind sie dann mit mir durch die Wüste gerast, was weiß ich, wie lange, zwei Stunden, fünf Stunden, ich war schon ganz durchgedreht, und zuletzt hat der Wagen gehalten, so heftig, daß ich auch noch auf die Schnauze gefallen bin, und dann haben sie mich hierhergebracht, in dieses prächtige Gebäude, und da erst haben sie mir die Binde von den Augen genommen. Und was ist das erste, was ich sehe? Das bist du, in deiner Unterhose, auf dem Steinboden, unrasiert, verdreckt und verschwitzt wie ich. Und gesprochen hat keiner von den Schwarzen die ganze Zeit auch nur ein einziges Wort.«

»Mit mir haben sie auch nicht gesprochen«, sagte der Karl Jaschke. »Aber willst du mir vielleicht endlich sagen, was das alles mit diesem Kafka zu tun hat?«

»Na, Mensch, dieser Kafka ist doch nie im Leben ein mystisch-symbolischer Dichter gewesen!« ereiferte sich Jakob. »Nach allem, was mir gerade passiert ist, kann ich nur sagen: Kafka war der realistischste Dichter, den es je gegeben hat! Na, die Edle soll mir noch mal unter die Augen kommen. Ach ja, herzlichste Grüße von deiner Frau. Und von deiner Freundin. Mit der habe ich auch noch telefoniert.«

»Das war lieb von dir, Jakob. Und ich freue mich ja auch sehr, daß du sofort gekommen bist, als du erfahren hast, was hier passiert ist.«

»Das war doch selbstverständlich! Ich muß doch meine Freunde aus der Scheiße holen!« sagte Jakob, ein Mann mit einem Herzen treu wie Gold.

»Glaubst du, du schaffst es?«

»Schaffe was?«

»Mich hier rauszuholen. Uns alle! Die Arbeiter auch!«

»Natürlich schaffe ich es«, sagte Jakob, und es wurde ihm noch ein wenig (auf die schon häufig beschriebene Weise) wärmer, »wär ja gelacht! Wo sind wir überhaupt?«

»In Karania, Jakob. Das hier, das ist einer von den Palästen, in denen sich der Herr Premierminister Ora N’Bomba zu erholen pflegte. Unsere Arbeiter haben sie irgendwo anders eingesperrt, keine Ahnung, wo.«

»Sauerei! Und dem Kerl habe ich neunzig Millionen gegeben, damit er die Fertighausfabriken bauen kann! Na, dem werde ich jetzt aber was er …« Jakob litt häufig unter Spätzündungen. »Eiwei. Den haben sie doch erschossen, hat deine liebe Frau mir am Telefon gesagt, wie?«

»Mhm.«

»Das ist natürlich böse.« Jakob verfiel in Trauer. Nur kurz. Dann war er wieder auf des Messers Schneide, auf dem Rasierklingenpfad seines Lebens. »Schön, dann werde ich also mit den Kerlen Tacheles reden, die ihn erschossen haben!«

»Jakob, sei bloß vorsichtig. Das war ein Militärputsch! Die Armee regiert! Mach dich nicht unglücklich! Sei realistisch wie dein Kafka, wenn die jetzt mit dir reden, sonst knallen sie auch uns über den Haufen!«

»Ich werde«, versprach Jakob Formann und schlug mit einer Hand eine große Spinne tot, die ihm über den Nacken kroch, »milde sein wie der Beischlaf eines Kommandierenden Generals.«

Hurra, wir leben noch
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