42

Es war schon hell, als Mrs. Fletcher dazu kam, ihren Champagner, und Mr. Fletcher dazu kam, sein ›Perrier‹ zu trinken. Die Jungvermählten hatten es beide außerordentlich eilig und nötig gehabt, und so waren die Stunden dahingeflossen. Nachdem Mrs. Fletcher genügend Champagner und Mr. Fletcher genügend ›Perrier‹ getrunken hatten, gingen sie zunächst ins Badezimmer des Luxus-Appartements. Danach fielen sie wieder übereinander her.

Das Frühstück nahmen sie um 11 Uhr zu sich. Im Appartement. Zu Mittag aßen sie um 15 Uhr. Wieder im Appartement. Sie hatten sich die Speisekarte bringen lassen. Die Preise waren astronomisch und für den normalen Mitteleuropäer nicht nur unerschwinglich – woher hätte der denn auch das Geld nehmen sollen? –, sondern schlechthin unvorstellbar. Mr. und Mrs. Fletcher waren keine normalen Mitteleuropäer. Das Personal wechselte bereits bedeutungsvolle Blicke. So muß es sein, nur so geht die Chose mit meinem Human touch, dachte Jakob, als er bemerkte, wie einer der beiden Kellner, die im Salon servierten, den andern ansah, und wie sie dann beide in Laureens Dekolleté starrten, das unter dem listig sich öffnenden Morgenmantel außerordentlich günstig zu betrachten war. Jakob trug ebenfalls einen Morgenmantel, ihm schaute aber keiner in den Ausschnitt, obwohl er einen goldgelben Pyjama und golden glänzende Pantoffeln besaß. Damit aber die Kellner auch von ihm etwas zu sehen bekamen, streichelte er fleißig Laureens Hals, Nacken und Arme.

Am späteren Nachmittag ruhten Mr. und Mrs. Fletcher. Dann badeten sie gemeinsam, was natürlich wiederum Folgen hatte. Anschließend badeten sie, jeder allein, noch einmal, und dann zog Jakob – zum erstenmal in seinem Leben! – einen Smoking an. Laureen wählte ein langes Kleid aus weißem Seidenchiffon, das die Brüste hoch- und herausstemmte und sich, gefältelt, eng an den Körper schmiegte.

Während des Anziehens in dem eigens dafür vorgesehenen Raum des Appartements blickte Jakob plötzlich starr auf seine Lackschuhe (er hatte auch noch nie im Leben Lackschuhe getragen). Laureen bemerkte es.

»Warum stierst du denn so auf deine Lackschuhe?« fragte Laureen, mit ihren Nylonstrümpfen beschäftigt.

»Ich denke gerade an die armen Frauen und Kinder, die wir im Himmler-Hof gefunden haben«, sagte Jakob und bewegte die Füße mit den Lackschuhen hin und her.

»Was ist mit denen?« Laureen schlüpfte in das Chiffonkleid.

»Die haben es jetzt warm und schön in der ›Nibelungentreue‹, fast so wie wir«, sagte Jakob. »Hab’ dir doch erzählt, nicht?«

»Ja, hast du.« Laureen gab leichte Zeichen von Nervosität zu erkennen. »Würdest du mir bitte den Reißverschluß und die Häkchen hinten zumachen, Liebling?«

Er stand auf und trat hinter Laureen. Es gibt so vieles, was ich nicht kann, dachte er. Aber Frauen an- und ausziehen, das konnte ich schon immer. Allerdings hatten sie nicht solche sündteuren Fetzen an. Er nestelte an den Häkchen, während er sprach. »Den Himmler-Hof haben wir also erobert, der Wenzel und ich. Wenzel hat im Tiefbunker beim Hauptbahnhof dreißig Mann ausgesucht, die machen den Dreckstall erst mal sauber. Jetzt frieren die, die armen Hunde. Woher sie was zu fressen bekommen, ist mir ein Rätsel. Wenzel hat allerdings gesagt, es gibt eine Menge abzustauben bei den Bauern, und so eine Sau ist schnell organisiert und geschlachtet. Aber auf die Dau …«

Danach geschah etwas zutiefst Erschreckendes. Nie wieder ist in Jakobs Leben ähnliches geschehen. Etwas Derartiges ereignet sich – und wir haben uns bei mehreren international bekannten Psychiatern erkundigt – überhaupt höchst selten: daß nämlich ein Mensch in einem Zustand der Erstarrung und der Trance die Summe aller Erfahrungen zieht, die er noch gar nicht gemacht hat, die er erst machen wird! Das Phänomen erleben die Betroffenen unbewußt. Niemand erträgt es bewußt – haben uns die international berühmten Psychiater gesagt – mit Ausnahme von Heiligen, und selbst diese finden es schwierig.

Jakob stand, die Finger an der Häkchenreihe über dem Reißverschluß von Laureens Kleid, unbewegten Gesichts, wie zu Stein erstarrt. Sein Gesicht hatte einen absolut idiotischen Ausdruck angenommen, seine Stimme, mit der er nun plötzlich leiernd redete, einen völlig anderen Tonfall.

»Eitelkeit«, sprach Jakob mit fremd klingender Stimme. »Eitelkeit der Eitelkeiten. Alles ist eitel …«

Laureen fuhr herum. »Jakob!«

Doch der sah und hörte sie nicht.

»Ein Geschlecht«, leierte er, »geht, und ein Geschlecht kommt, die Erde aber bleibt bestehen ewiglich …«

»Jakob!« rief Laureen. »Laß den Quatsch! Du hast mich zu Tode erschreckt!«

Jakob sprach in seinem absonderlichen Singsang weiter, ohne sie zu beachten: »Die Sonne geht auf, und die Sonne geht unter und läuft an ihren Ort, daß sie wieder aufgehe daselbst …«

»Mein Gott, Jakob! Liebster Jakob! Armer Jakob! Du hast den Verstand verloren! Ein Arzt … ein Arzt …« Sie wollte aus dem Umkleideraum zu einem Telefon eilen, aber Jakob stand mitten im Zimmer, und sie wagte sich nicht in seine Nähe. Das Ganze war gespenstisch. Sie wich zurück.

»Alle Wasser laufen ins Meer«, psalmodierte Jakob, »doch das Meer wird nicht voller; an den Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder zurück …«

»O mein Gott«, flüsterte Laureen erschüttert.

Unbeweglich stand Jakob, während er wie aus dem Schlaf sprach: »Ich will meine Eier. Du willst etwas anderes. Wenn wir haben, was wir wollen, werden wir wieder etwas anderes haben wollen. Sieh dir die Welt an! Was in ihr geschieht, und was die Menschen tun, und was die Menschen sich wünschen … Alles das, was geschieht und was sie tun und was sie sich wünschen, alles das, was wir Leben nennen, ist nicht so ungeheuer wichtig und ist nicht so ungeheuer tragisch und ist nicht so ungeheuer aufregend, wie wir wohl denken, sondern nur ungeheuer blöde …«

Laureen stand mit halbgeschlossenen Häkchen vor ihm, dessen Hosen-Reißverschluß nur halb geschlossen war, und flüsterte: »Jakob, mein armer, armer Jakob …«

»Dank dieser ungeheuren Blödheit der Menschen«, sprach Jakob entrückt und mit Toilettefehler, »werde ich meinen Krieg gewinnen. So wie noch nie ein Krieg gewonnen worden ist! Denn ich werde mich auf die Seite der einen schlagen und an ihrem Munde hängen und ihnen recht geben in allem, und ich werde mich auf die Seite der anderen schlagen und ihnen recht geben in allem und an ihrem Mund hängen, und ich werde sie bewundern und beschenken und werde glauben, was beide Seiten mir sagen, obwohl ich deutlich, ganz deutlich spüre, daß man auf keiner der beiden Seiten stehen kann. Weil sie nämlich alle beide stinken …«

»Manchmal hilft ein heftiger Schock«, murmelte Laureen todesmutig und trat an Jakob heran.

Der fuhr aus seiner Erstarrung empor. Der Blick seiner verschwommenen Augen wurde klar, er sah Laureen an. »Grüß Gott. Was hast du eben getan?«

»Ich habe dir eine geschmiert«, erwiderte Mrs. Fletcher zitternd.

»Geschmiert … Aber warum denn?«

»Damit du wieder zu dir kommst! Du warst auf einmal völlig weg und hast so wirres Zeug geredet …«

Absolut kraftlos ließ Jakob sich in einen weiß-goldenen Sessel mit rotem Samtbezug fallen.

»Wirres Zeug …«

»Ja.«

»Was für wirres Zeug?«

»Das weißt du doch selber!«

Unglücklich erwiderte er: »Ich habe keine Ahnung …« Er griff sich an den Kopf. »Nicht die Ahnung einer Ahnung … Was habe ich denn gesagt? Eine Schweinerei?«

»Viel schlimmer.«

»Dann sag’s mir doch!«

»Nein! Ich bin froh, wenn du ihn wirklich nicht mehr weißt, den ganzen Quatsch! Niemals werde ich es dir sagen! Wie konntest du nur …« Eine Idee kam ihr. »Hast du vielleicht vor kurzem in der Bibel gelesen?«

»Bibel?« wiederholte er verloren.

»Ja! In diesen Hotels liegt doch eine Bibel in jedem Nachttisch!«

»In jedem Nachttisch …«

»Erinnere dich, Jake! Es ist wichtig!«

»Wichtig … Warte … Ja, ich erinnere mich … Ich habe in so einer Nachttischbibel gelesen, während du im Bad warst, nachdem wir gerade …«

»Schon gut. Was hast du gelesen?«

»Weiß ich nicht … oder doch … Prediger Salomo … und dann in der Apostelgeschichte … die Sache mit der Bekehrung von diesem Paulus … nein, Saulus … was da in der Nähe von Damaskus passiert ist … die ganze Geschichte von dem Licht, das auf ihn zugestürzt gekommen ist vom Himmel, und dieses ›Saul, Saul, warum verfolgst du mich?‹-Rufen der Stimme, die plötzlich gesagt hat … gesagt hat … ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat … jedenfalls ist der Saulus ein Paulus geworden, nachdem er seinen Unfall gehabt hat, du kennst ja die Story …«

Laureen mußte die Augen schließen. Sie kniete jetzt vor ihm, der Häkchenverschluß und der Reißverschluß waren wieder ganz aufgegangen, bis zum Höschen hinunter.

»Erleuchtung«, stammelte sie.

»Was, Erleuchtung?«

»Hast du gehabt. Du hast eine Erleuchtung gehabt! Du warst weg von einem Moment zum andern … und geredet hast du wie im Schlaf … aber jetzt bist du wieder wach, ja?«

»Vollkommen. Dein Reißverschluß ist offen.«

»Deiner auch, Liebling.«

Sie schloß seinen. Er schloß ihren.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte er wieder mit normaler Stimme. »Wir können den Handelsattaché nicht warten lassen.«

»Bist du auch bestimmt sicher, daß alles wieder okay mit dir ist?«

»Bestimmt.« Er lachte. »Muß ein richtiger Filmriß gewesen sein! Ich habe ja auch ganz schön was geleistet vorher, wie?«

»Das hast du, mein Schatz!« sagte Laureen.

Und dann lachten beide.

Paulus hat, wie alle großen Propheten und Religionsphilosophen unserer Welt, seine Erleuchtung schwer und qualvoll durchlitten. Danach war er ein anderer Mensch. Jakobs Erleuchtung war weder qualvoll noch schwer. Sie war gleich einem Traum gewesen, in dem man mit einem Male die Wahrheit über die Menschen und die Welt in blendender Klarheit erkennt – um schon im Augenblick des Erwachens nicht die winzigste Spur einer Erinnerung an das Erkannte zu haben. Nicht einmal eine Minute lang hatte Jakob – fürwahr ein seltenes Phänomen, wie uns die erwähnten psychiatrischen Zelebritäten bestätigen – den Schlaf der Wahrheit geschlafen. Und gleich danach alles vergessen, was er in ihm erkannt hatte. So also regelt sich diese Welt von selbst. Was dabei herauskommt, sollte eigentlich jeder sehen können. Für jene, die es trotzdem nicht sehen können, ist dieses Buch geschrieben.

Hurra, wir leben noch
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