65

»Ich habe schon von Ihnen gehört, Herr Formann«, sagte Stephan Klahr, vom KP-Landesverband Hessen, höflich, aber sehr förmlich. »Nehmen Sie bitte Platz. Was kann ich für Sie tun?«

Jakob setzte sich auf einen wackligen Stuhl vor einen wackligen Schreibtisch. Herr Klahr setzte sich hinter den Schreibtisch. Ernst blickte Josef Wissarionowitsch Stalin aus einer Fotografie an der Wand auf Jakob herab. Beim Governor van Wagoner hat General Eisenhower auf mich herabgeblickt, dachte Jakob. Mit der Zeit werde ich die Herren schon alle noch kennenlernen.

»Herr Klahr«, sagte unser Freund und sah dem andern fest ins treue Männerauge. »Ich weiß, in Ihren Kreisen halten mich viele für einen Ami-boy, für einen Kapitalisten, für einen Kommunistenfresser, für …«

»Aber nicht doch, Herr Formann«, sagte Klahr, gepreßt höflich.

»Aber ja doch, Herr Klahr«, erwiderte Jakob mit Nachruck. »Ich höre doch auch, was geredet wird. Nur: Das stimmt nicht, Herr Klahr, das ist eine gemeine Verleumdung! Ich bin zu meinen Eiern gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Vorher war ich ein armes Schwein, das Wache geschoben hat vor einem amerikanischen Fliegerhorst.«

»Auch darüber sind wir informiert, Herr Formann.«

»Sie sind …? Na also! Da haben wir’s ja! Sie sind informiert über mich! Haben vielleicht schon ein ganzes Dossier angelegt?«

»Ein kleines. Wir haben eben damit begonnen. Wir legen Dossiers über alle potentiellen Klassenfeinde an, um sie bekämpfen zu können. Das ist überhaupt nicht gegen Sie persönlich gerichtet, Herr Formann! Der große Lenin hat gesagt: ›Wenn die Partei nicht Tag und Nacht wachsam ist …‹«

»… ist sie verloren.«

»Woher wissen Sie das?« Klahr starrte Jakob mit offenem Mund an.

»Weil ich Lenins Schriften immer wieder lese«, sagte Jakob, der in seinem ganzen Leben kein Dutzend Bücher und ganz bestimmt keines von Lenin gelesen hatte. »Karl Marx, Lenin und die Schreiber der Bibel – das sind doch die einzigen, die durch Schreiben die Welt verändert haben. Meiner Ansicht nach!« (In Wirklichkeit hatte Jakob es wenige Tage vorher in einer Zeitung gelesen.) »Entschuldigen Sie die Erwähnung der Bibel, aber ich komme aus einer bürgerlichen Familie.«

»Nichts zu entschuldigen, Herr Formann. Man kann sich seine Herkunft nicht aussuchen. Ich bin sehr überrascht.«

»Worüber?«

»Über Ihre Offenheit und Natürlichkeit. Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.« Gott im Himmel, dachte Jakob, sei bedankt. Da bin ich ja auf einen Trottel gestoßen. Die meisten KP-Leute, die ich kennengelernt habe, waren hochintelligent. Aber der hier – das ist ja ein richtiger handfester Trottel! Genau das, was ich brauche. Haargenau. Es scheint Dich also doch zu geben, lieber Gott! »Um was handelt es sich denn?« Himmel, dachte Jakob, der hat sogar äußerlich Ähnlichkeit mit dem anderen Trottel, mit meinem lieben Freund Generalmajor Peter Milhouse Hobson! Erst der Trottel Peter, dann der Trottel Klahr. Trottel gibt’s zum Glück überall. Darum sieht es ja so aus auf unserer Welt. Ob Ost oder West, ob Rot oder Schwarz, ob Kapitalist oder Kommunist – es ist wie beim Stricken, einmal links, einmal rechts! Er räusperte sich: »Also, passen Sie mal auf, lieber Peter …«

»Bitte?«

»Äh – entschuldigen Sie! Peter, das ist ein Freund von mir. Der ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten! Also, passen Sie auf, lieber Herr Klahr: Es handelt sich um ein ehrliches Geschäft.«

»Ehrliches Geschäft?«

»Schauen Sie: Unser Vaterland ist viergeteilt …«

»Durch die Schuld der Naziverbrecher, die einen Krieg …«

»Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund, Herr Klahr.« So blöde ist der auch nicht, verflucht. Was er da eben gesagt hat, stimmt! Also kein Trottel? O Gott!

»… und durch Schuld der amerikanischen Kapitalisten, die infolge ihres Imperialismus und ihrer feindseligen Haltung der glorreichen Sowjetunion gegenüber jede Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit verhindern. Die Schuldigen stehen rechts!« Gott sei Dank, doch ein Trottel. Als ob die Sowjets, deren Land wir bis zum Ural zerstört haben, an einer Wiedervereinigung interessiert wären, dachte Jakob, und ein Stein fiel ihm vom Herzen, während er eifrig sagte: »Genauso ist es, Herr Klahr. Und wer hat darunter zu leiden? Wir Deutschen in Ost und West. Vergessen wir jetzt einmal Weltanschauungen. Reden wir Tacheles. Die Deutschen hier und die Deutschen drüben haben zu wenig zu essen, und viel zu wenige haben ein Dach über dem Kopf.«

»Hier haben sie mehr zu essen, weil die Amis sie päppeln! Die große Sowjetunion verfügt nicht über solche Reserven, Herr Formann, weil die Hitlerverbrecher das Land zerstört haben, wie noch nie ein Land zerstört worden ist!«

»Na, aber das sagte ich doch!« Jakob nickte eifrig. Wo der Trottel recht hat, hat er recht. Hoffentlich hat er nicht noch einmal recht!

»Deshalb bin ich hier.«

»Weshalb?«

»Herr Klahr! Die Brüder und Schwestern im Osten haben’s nötig, daß man ihnen hilft, und wir hier haben es genauso nötig! Denn was kriegen wir schon von den Drecksamerikanern? Doch nur so viel, daß wir nicht verrecken! Hühnermais sollen wir fressen! Ist doch wahr! Oder leben Sie in Saus und Braus? Na also!«

»Ihnen geht’s doch aber nicht schlecht, Herr Formann!«

»Sagen Sie! Wissen Sie, was ich schuften muß? Wissen Sie, wie sehr ich auf dem Hund bin?«

»Aber Ihre Eier und die Fertigbauhäuser …«

»Was, was, was? Meine Eier muß ich abliefern! Und meine Fertigbauhäuser kann ich nicht bauen!«

»Wieso nicht?«

Jakob gab bekannt, wieso nicht.

»Die Verbindungsstücke liegen in Niesky! Das ist weit hinten in der Sowjetischen Besatzungszone. Bei der Firma Christoph und Unmack! Ihr könnt mit ihnen allein keine Häuser bauen, und ich kann ohne sie keine Häuser bauen, und die armen Teufel in West und Ost hungern weiter und haben weiter kein Dach überm Kopf. In so einer Situation müssen wir Deutschen doch zusammenhalten – oder nicht?«

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Herr Formann!«

»Auf folgendes: Ich will ein Geschäft mit denen drüben machen. Mit dem Osten. Solche Geschäfte sind schon haufenweise gemacht worden, das wissen Sie selber!«

»Sie meinen Tauschgeschäfte?«

»Ja. Tauschgeschäfte. Hilf dir selbst, dann hilft dir … Verzeihung, das ist so ein dummes Sprichwort. Helfen wir einer dem anderen, Herr Klahr!«

»Ich bin nur ein Beauftragter meiner Partei, Herr Formann. Und Sie sind nur ein Büttel der Amerikaner.«

Büttel?

Was ist ein Büttel? dachte Jakob und nickte trübe.

»Sie brauchen erst die Erlaubnis der Amerikaner für so ein Geschäft, und ich muß mich erst mit der SED und der Sowjetischen Militäradministration in Berlin-Karlshorst ins Benehmen setzen.«

»Die Erlaubnis der Amerikaner kriege ich«, verkündete Jakob. (Mein Freund Josef Mader, dieser geniale Fälscher, arbeitet schon an den Papieren.) »Das ist kein Problem. Wir brauchen nur noch die Erlaubnis der Stellen in der SBZ für das Geschäft.«

»Was ist das überhaupt für ein Geschäft, Herr Formann?«

Jakob legte eine kleine Pause ein, blickte zu Josef Stalin auf, sah Klahr ins Gesicht und sagte: »Ich liefere Ihnen Eier, und Sie liefern mir dafür die in Niesky liegenden Verbundstücke für die Fertighäuser und die dazugehörigen Prägemaschinen, damit wir weitere Teile herstellen können.«

»Eier? Wie viele Eier?«

Steh mir bei, weiser Josef Wissarionowitsch, dachte Jakob und sagte mit fester Stimme: »Eine halbe Million!«

Hurra, wir leben noch
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